Fanny Lewald
Jenny
Fanny Lewald

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Nahezu acht Jahre waren seit diesen von uns erzählten Vorgängen entschwunden, als im Schatten der Bäume, welche sich auf der Klosterwiese in Baden-Baden erheben, an einem Junimorgen eine Dame ruhig vor ihrem Zeichenbrette saß. Es war eine kleine, schlanke Figur. Lange schwarze Locken fielen auf das Papier nieder und verbargen das Gesicht der Arbeitenden; aber man war berechtigt, feine Züge zu erwarten, wenn man von ihrer schmalen Hand und dem zierlichen Fuß auf ihr Gesicht schließen sollte. Ein sechsjähriger, hellblonder Knabe spielte in einiger Entfernung und versuchte vergebens, die Aufmerksamkeit der Dame auf sich zu ziehen. Er kam endlich näher und rief: »Sieh hin, Tante! Dort kommt der Vater mit Graf Walter.« – Dann, als die Dame sich erhob, um die Kommenden zu begrüßen, sprang er fröhlich fort und bot den Herren in seinem fremdklingenden Deutsch seinen Willkomm und guten Morgen.

»Ist deine Mutter noch in ihrem Zimmer, Richard?« fragte der Vater des Knaben.

»Nein!« antwortete für ihn die Zeichnerin, die unsere Leser wohl wiedererkannten, »nein, lieber Hughes; Clara ist Ihnen mit der Wärterin und Lucy entgegengegangen, um Ihnen von den neuesten Fortschritten zu erzählen, welche die Kleine gemacht hat. Ich wundre mich, daß Sie ihr nicht begegnet sind. Sie wollte am Goldbrünnlein auf Sie warten.«

»Oh, schade«, rief Hughes, »daß wir durch die Stadt gingen und sie verfehlten! Ich will sogleich zurückkehren, sie zu holen. Sie bleiben wohl hier bei unserer Freundin, lieber Walter, und erwarten unsere Rückkehr.«

»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete der Angeredete, »wenn ich das Fräulein nicht bei der Arbeit störe!«

»Ach, die kann ich später beenden«, sagte Jenny freundlich. »Kommen Sie, Herr Graf, und beichten Sie, warum man Sie in den letzten Tagen gar nicht mehr gesehen hat.«

Er tat, wie sie von ihm begehrte, und Hughes ging mit seinem Knaben davon, die Mutter und das kleine Schwesterchen zu holen.

Während nun der Graf von seinen Ausflügen und Streifereien in der Umgegend erzählt, sei es uns vergönnt, mit flüchtigen Umrissen den Zeitraum von acht Jahren auszufüllen, der zwischen der ersten und zweiten Hälfte unserer Erzählung liegt.

*

Der Schmerz über die Trennung von Reinhard hatte Jennys Seele in ihren innersten Tiefen erschüttert und sie prüfend in ihr eigenes Herz blicken lassen, um dort einen Grund für Reinhards ihr unerklärliches Betragen zu finden. Es schien ihr leichter, Unrecht zu haben, sich selbst eines Fehlers zu zeihen, als Reinhard eine Schuld beizumessen: denn wahre Frauenliebe klagt lieber sich als den Geliebten an. Nun ist das menschliche Herz recht eigentlich der Acker, den man nur zu durchwühlen braucht, um die köstlichsten Schätze zu entdecken. Auch Jenny fand deshalb in sich statt des Unrechts, das sie in ihrem Herzen suchte, die Kraft, das Leben zu ertragen, es trotz seiner Schmerzen zu lieben. Sie gewann es über sich, fremdes Glück und Leid zu dem ihren zu machen und in der Hingebung an andere, an ihre Freunde, Trost für einen Verlust zu finden, der ihr unersetzlich schien.

Als Herr Meier sie soweit beruhigt und fähig sah, sich durch den Wechsel äußerer Gegenstände zerstreuen zu lassen, machte er den Vorschlag zu einer Reise, die im Beginn des Frühjahrs angetreten wurde. Man ging nach dem südlichen Frankreich, verlebte einen Winter in Paris und besuchte Italien im folgenden Jahre. Hier war es, wo Jenny den Maler Erlau wiederfand, dessen Name aus der Ferne ruhmvoll erklungen war und dessen treffliche Arbeiten sie in Paris zu bewundern Gelegenheit gehabt hatten.

Das Wiedersehen war ein Augenblick tiefer Bewegung für beide. Erlau, seinem Vorsatz getreu, hatte außer aller Verbindung mit seinen Freunden gelebt; er wähnte Jenny längst mit Reinhard verheiratet, und die Entdeckung des Gegenteils erfüllte ihn mit Hoffnung. Von der Stunde an wurde er Jennys unermüdlicher Führer in der Wunderwelt, die sich in Italien vor ihren Augen erschloß und die ihren vollen Zauber auf zwei so lebhaft fühlende Menschen auszuüben nicht verfehlte. Aber nicht lange sollte Jenny diese Freude ungetrübt genießen. Sie gewahrte mit Sorge, daß Erlaus Leidenschaft für sie nicht erloschen sei, daß sie jetzt in dem täglichen Beisammensein wieder heftig entbrannte und sich von Hoffnungen nährte, die Jenny nicht zu erfüllen vermochte. Dies veranlaßte die Ihren, auf Jennys Wunsch Italien zu verlassen, und rief Erlaus Erklärung hervor, daß auch er entschlossen sei, der befreundeten Familie zu folgen und bald in seine Heimat zurückzukehren. Je weniger Jenny dieses erwartet hatte, um so mehr hielt sie es für Pflicht, sich offen und frei gegen Erlau über ihr gegenwärtiges Verhältnis zu erklären. Sie gestand ihm, wie jetzt, kaum genesen von ihrer Herzenswunde, ihr der Gedanke an eine neue Liebe unmöglich sei. Sie beschwor ihn, um seiner und ihrer Ruhe willen ihr nicht zu folgen. Sie sagte ihm, wie wert er ihr sei, wie sie hoffe, statt seiner Liebe einst seine Freundschaft zu erwerben, und erlangte endlich von ihm das Versprechen, daß er nach England gehen und dort in Williams und Claras Nähe leben wolle, da er versicherte, ohne Jenny jetzt in Italien nicht ausdauern zu können.

So trennten sie sich zum zweiten Male, und Jenny kehrte nach einer Abwesenheit von anderthalb Jahren in ihre Heimat zurück. Hier fand sie in den äußern Verhältnissen nur wenig verändert. Ihr Bruder ging ruhig und ernst die Bahn, welche er sich vorgezeichnet hatte. Geschätzt und unermüdlich in seinem ärztlichen Beruf, hatte er zugleich unverwandt das Wohl und den Fortschritt seines Volkes im Auge, dessen freie Entwicklung aber nur dann möglich war, wenn überhaupt eine freie, zeitgemäße Verfassung in seinem Vaterlande Raum fand. Sein eifriges Bestreben, zur Erreichung dieses Zieles beizutragen und, der Gesamtheit nützend, zugleich sein Volk zu erlösen, verband ihn mit vielen Gleichgesinnten aus allen Ständen. Die Besten des Landes erkannten seine Fähigkeit und die große Uneigennützigkeit seines Charakters an; denn die Hoffnung, nach erlangter Emanzipation der Juden für sich selbst Würden und Ehrenstellen zu erwerben, hatte ebensowenig Einfluß auf ihn als die Furcht vor jenen Verantwortungen, denen sein kühnes Wort und seine freisinnigen Schriften ihn bereits häufig unterworfen hatten. Ihm genügte sein Bewußtsein und die achtende Anerkennung seiner Mitstrebenden. – Noch immer lebte er in seinem väterlichen Hause. Sei es, daß seine Tätigkeit ihn so ganz hinnahm und ihn sein Alleinstehen nicht fühlen ließ, oder daß er kein Mädchen gefunden hatte, das seine Neigung erregte, er war unverheiratet geblieben.

Den Eltern Claras, welche sie scheidend seiner Sorgfalt empfohlen, war er ein treuer und geschätzter Freund geworden. Ihm, das wußten sie jetzt, verdankten sie das Glück ihrer Tochter, das in einer vollkommen übereinstimmenden Ehe mit William immer schöner erblühte. In Eduards Brust schüttete die Kommerzienrätin ihren Kummer über das Schicksal ihres Sohnes aus, der unstet Deutschland und Frankreich durchstreifte und, von seiner Frau beherrscht, ein unwürdiges Leben führte. Ferdinand fühlte bereits das Elend und die Schande, in die er sich gestürzt hatte, aber er war zu schwach, die Sklavenketten zu brechen, die ihn entehrten. Auf den ausdrücklichen Wunsch der Hornschen Familie war Eduard mit ihm in Verbindung getreten, und da es ihm gelungen, Ferdinands Vertrauen zu gewinnen, gab er die Hoffnung nicht auf, es werde ihm einst möglich sein, den Verlornen seiner Familie wiederzugeben.

Mit herzlicher Freude empfingen Eduard und der treue Joseph die heimkehrenden Lieben. Der Anblick jener Räume, in denen sie so glücklich gewesen und so viel gelitten hatte, erweckte in Jennys Brust die wehmütigsten Erinnerungen, und sobald sie sich mit Eduard allein sah, wagte sie, nach Reinhard zu fragen, was sie in ihren Briefen nie getan hatte. Sie wußte, daß er sein Amt angetreten hatte und die verdiente Liebe und Achtung seiner Gemeinde besaß. Das hatte ihr Therese mitgeteilt, deren Mutter bald nach der Abreise der Meierschen Familie gestorben war. Seit aber Therese eine Gouvernantenstelle auf dem Lande angenommen, hatte Jenny auf einige Briefe, die sie ihr schrieb und in denen sie ihr die freundschaftlichsten Anerbietungen machte, keine Antwort erhalten. Um so unerwarteter traf sie die Nachricht, Therese habe durch Vermittlung der Pfarrerin jene Stelle, ganz in der Nähe von Reinhards Wohnort, erhalten und sich vor wenigen Wochen mit ihm verlobt.

Als Jenny dies erfuhr, zog ein trübes Lächeln um ihren Mund, und Eduard drückte ihr schweigend die Hand. Er und Joseph schienen sich jetzt Jennys Zufriedenheit gleichsam zum Zweck ihres Lebens gemacht zu haben; und in beglückender Eintracht, in friedlicher Ruhe schwanden der Familie einige Jahre nach ihrer Rückkehr still dahin. Treffliche Männer hatten sich, um Jenny werbend, ihr genaht, die Wünsche von Jennys Eltern hatten sie unterstützt, aber kein Erfolg ihre Bemühungen gekrönt. Wagte die besorgte Liebe ihrer Mutter, ihr ja zuweilen Vorstellungen deshalb zu machen, so bat Jenny, man möge Nachsicht mit ihr haben, denn es sei ihr unmöglich, die Wünsche zu erfüllen, die man für sie hege. »Ich bin ja zufrieden und glücklich, liebe Mutter!«, sagte sie dann; »ich habe dich, Vater, Eduard, Joseph und alles, was nur irgend mein Herz begehrt an Liebe und Schonung. Würde ich das in dem Hause eines Mannes finden, den ich nicht liebte?« Und da alle Zumutungen und Gespräche dieser Art Jenny sichtlich für längere Zeit verstimmten, war es endlich der Vater selbst, der seiner Frau anriet, nicht in Jenny zu dringen, sondern ruhig eine Zukunft zu erwarten, in der die Erinnerung an Reinhard ihren Einfluß auf Jenny verloren haben und die Vorschläge ihrer Freunde leichter Gehör bei ihr finden würden.

Aber diesen Zeitpunkt sollte die Mutter nicht erleben; ein plötzlicher, schmerzloser Tod entriß sie ihrer Familie. Wie tief der Verlust empfunden wurde, wie er die Engverbundenen nur noch fester aneinander schloß, wie jeder die Lücke auszufüllen strebte, die dadurch in den Herzen der andern entstanden war, bedarf kaum einer Erwähnung. Nun stand Jenny allein an der Spitze ihres Hauses, auf sie war ihr Vater angewiesen. Dies Bewußtsein erhob sie in ihren eigenen Augen und tilgte jeden andern Wunsch aus ihrem Herzen als den, für ihren Vater zu leben und sein Alter zu verschönen. Jene religiösen Zweifel, welche einst das Glück ihrer ersten Jugend untergraben hatten, waren längst und glücklich besiegt. Eigenes Nachdenken und der Beistand der Ihren hatten sie zu dem Standpunkt einer Gottesverehrung geführt, zu dem ihre ganze Erziehung sie hingeleitet hatte. Geistig frei und mit klarstem Bewußtsein, die zärtlichste Tochter, der Trost aller Leidenden und doch wieder die heitere, geistreiche Wirtin ihres gastfreien, väterlichen Hauses, so erschien Jenny, nachdem der Schmerz über den Tod ihrer Mutter sich gemildert hatte. So finden wir sie auch einige Wochen nach ihrer Vereinigung mit Clara in Baden wieder.

Der Wunsch, sich zu sehen, war bei beiden Freundinnen gleich mächtig geworden, doch hatten Umstände mancher Art die Erfüllung desselben bis jetzt unmöglich gemacht, und mit wahrer Freude trafen sie nach achtjähriger Trennung in Baden-Baden zusammen. Dort hatte man sich rendez-vous gegeben und wollte später gemeinschaftlich in die Heimat der Damen zurückkehren, um Claras beide Kinder den Großeltern vorzustellen. Anfänglich sollte auch Erlau, der sich ganz in England angesiedelt und dort eine ehrenvolle Stellung erworben hatte, William nach Deutschland begleiten. Die unruhige, rasche Lebhaftigkeit des Jünglings war aber in dem Manne nicht erloschen, und er hatte den Wunsch, sein Vaterland und seine Freunde zu sehen, aufgegeben, um sich einer englischen Gesandtschaft nach dem Orient anzuschließen, bei der sein Hang für das Ungewöhnliche volle Befriedigung zu finden hoffen durfte.

Die beiden befreundeten Familien hatten nun, sobald sie in Baden angelangt waren, absichtlich ihre Wohnung außerhalb der eigentlichen Stadt genommen, um allein in dem Besitz des gemieteten Hauses und in der freien, ländlichen Natur zu sein. Man wollte sich selbst leben, und Jenny war gar nicht damit zufrieden, als William ihr gleich nach seiner Ankunft erzählte, wie er in einigen Tagen einen Freund, den Grafen Walter, erwarte, den er ihr als einen Genossen für die Zeit ihres Aufenthalts in Baden ankündigte.

Graf Walter gehörte einer der ältesten Familien Deutschlands an. Wie die meisten Jünglinge seines Standes früh in das Militär getreten, war er mit seinem Regiment in die Vaterstadt Claras gekommen und in ihrem elterlichen Hause fast mit allen Personen unserer Erzählung bekannt, mit Hughes befreundet geworden. Später hatte er den Dienst verlassen, bedeutende Reisen gemacht und war, um sich zur Übernahme seiner Güter in landwirtschaftlicher Beziehung vorzubereiten, auch nach England gegangen, wo er aufs neue mit William und Clara zusammengetroffen war. Auf ihre Bitten war er ihr Gast geworden, solange er in England verweilte, und noch jetzt rechnete er die Zeit, welche er mit ihnen teils in London, teils in ihrem Landhause verlebt hatte, zu den anmutigsten Erinnerungen seines genußreichen Lebens. Nichts konnte ihm also willkommener sein als die zufällige Begegnung mit jenen Freunden an den Ufern des Rheines, und unabhängig, wie er es in jeder Beziehung war, ließ er sich bereitwillig finden, den Sommer mit ihnen in Baden zuzubringen.

Jenny hatte er früher nur flüchtig gesehen, aber obgleich er sie nicht näher kannte, erinnerte er sich dunkel, von ihrer Liebe zu einem jungen Theologen sprechen gehört zu haben. Jetzt hatte er von Clara, auf sein Anfragen, nähere Auskunft über Jenny und die Lösung jenes Verhältnisses erhalten und war, durch Claras und Williams Erzählungen, gespannt auf die Bekanntschaft eines Mädchens geworden, an dem beide Gatten mit solcher Liebe hingen. Trotz der günstigen Vorurteile aber fand er doch in Jenny bald noch mehr, als er erwartet hatte, und sie sowohl als ihr Vater wußten es William sehr bald Dank, den Grafen für ihren kleinen Kreis gewonnen zu haben, da auch ihnen der Umgang des hochgebildeten Mannes eine große Freude gewährte.

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