Fanny Lewald
Jenny
Fanny Lewald

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»Gewiß ist das häusliche Beispiel und die innere Seelenbildung die Hauptsache bei weiblicher Erziehung«, sagte Hughes. »Sonst müßten ja in Frankreich, wo man die Mädchen bis zu ihrer Verheiratung in klösterlicher Einsamkeit hält, die Sitten besser sein als bei uns in England und hier in Deutschland, wo man der Jugend viel größere Freiheit gestattet; und gerade hier beweist doch die Erfahrung, daß die französische Zurückgezogenheit keine lobenswerten Erfolge aufweist.«

»Weil in Frankreich der ganze Zustand der Gesellschaft ein verderbter, ein aufgelöster ist; weil die Bande der Ehe dort locker geworden sind und das Haus, die Familie aufgehört haben, der Mittelpunkt zu sein, von dem alles ausgeht. Was kann es nützen, ein Mädchen in den strengsten Grundsätzen zu erziehen, wenn der erste Schritt ins Leben ihr zeigt, daß weder ihre Eltern noch ihr Gatte an diese Grundsätze glauben; wenn sich das junge, liebebedürftige Herz verraten sieht, vielleicht um einer Tänzerin willen, die nicht wert ist, der Schuldlosen die Schuhriemen zu lösen. Wenn dann das böse Beispiel dazu kommt, das die sogenannten modernen Romane und das Theater bieten, da braucht man sich freilich über die Erfolge in Frankreich nicht zu wundern«, eiferte Eduard.

»Aber bei uns, mein Sohn!« wandte seine Mutter ein, »ist doch der Zustand der Frauen und der Gesellschaft überhaupt ein ganz anderer. Deshalb scheint mir, du übertreibest den Nachteil, den Theater und dergleichen auf junge Gemüter ausübt, und wir Deutschen können unseren Töchtern ruhig diese Genüsse gewähren.«

»Im Gegenteil, liebe Mutter! Weil bei uns der Mann sein Haus noch für den Tempel des Glückes, die geliebte Frau für die Hohepriesterin desselben hält, weil er Ruhm, Ehre und alles, was er ist und erwirbt, diesem Tempel und seiner Priesterin darbringt, weil sein Hoffen und Fürchten in diesen Kreis gebannt ist und er immer wieder dahin zurückkehrt, sobald das Leben mit seinen gebieterischen Forderungen ihn freiläßt, darum haben wir deutschen Männer ein Recht zu verlangen, daß auch kein unreiner Hauch die Seele eines Mädchens berühre, dem so viel geopfert wird.«

»Und wie hoch, wie heilig ist uns das Mädchen, das wir lieben!« rief plötzlich Reinhard, der bis dahin schweigend zugehört hatte, als ob er aus tiefen Gedanken zu sich käme. »Wenn ein Mädchen wüßte, wie schwer und heftig der Kampf ist, den der Mann zu kämpfen hat, ehe er willig und für immer auf seine Ungebundenheit verzichtet, ehe er seine Freiheit opfert! Nur einem Wesen, das man mehr liebt als sich selbst, das man gleich einer Gottheit heilig hält, kann man so untertan werden, als die Liebe es uns dem Weibe macht. Wer aber ertrüge den Gedanken, daß die Gottheit unsres Herzens unwürdigen Festen beiwohnt? Wer wollte es ruhig ansehen, daß ihr Auge von unreinem Anblick berührt würde? Ich könnte mein Leben daran setzen, der Geliebten eine solche Entweihung zu ersparen, und ein Mädchen, das wahrhaft liebt, das die Liebe, die hingebende, die anbetende Liebe eines Mannes zu begreifen vermag, das in sich auch den Geliebten achtet, muß notwendig und freiwillig allem entsagen, was diesen und sie zugleich verletzt. Wer es gefühlt hat, wie wahre Liebe das Männerherz reinigt und veredelt, dem muß es wehe tun, wenn die Mädchen selber sich um den Nimbus bringen, den Sittenreinheit um sie hervorzaubert und der sie unserm Herzen gerade so teuer macht.«

Er hatte noch nicht geendet, als sein Auge auf die neben ihm sitzende Jenny fiel, die sich hinter der dampfenden Samovare verbarg und vor Bewegung kaum den Tee zu bereiten vermochte. Er fühlte den bitteren Tadel, den er unwillkürlich auch gegen die Geliebte ausgesprochen hatte; er wollte einlenken, aber er vermochte es nicht, denn es war seine innerste Überzeugung gewesen, die er ausgesprochen hatte. Soviel Glück ihm der heutige Abend im Theater gewährt, so weh tat es ihm doch, daß ein so schlüpfriges, sittenloses Stück, so leichtfertige Gesänge zum Boten seiner Liebe bei Jenny geworden waren. Das war der Unterschied zwischen ihm und ihr, daß sie, aufgezogen in den Begriffen der sogenannten großen Welt, trotz ihrer sittlichen Seele das Gefühl für die Sittenlosigkeit mancher Verhältnisse verloren hatte oder daß es nicht zum Bewußtsein in ihr gekommen war. Der Figaro, Don Juan und vieles andere waren ihr Dinge, an denen sie sich von Kindheit auf erfreut hatte, ohne an das Gute und Böse daran zu denken, und das war ein Zustand, in den weder Eduard noch Reinhard sich zu versetzen vermochten.

Reinhard war bis zu seiner Universitätszeit in einem Landstädtchen in vollkommener Zurückgezogenheit erwachsen, und seinem Geiste mußten die Eindrücke, die er dann plötzlich in der Gesellschaft und durch das Theater empfing, ganz anders erscheinen, weil er sich der Empfindungen bewußt war, die dadurch in ihm hervorgerufen worden. Eduard hingegen war allmählich durch Nachdenken zu der Ansicht gekommen, die er verteidigte und die er, durch Verhältnisse, welche wir später dartun werden, angeregt, heute ungewöhnlich warm ausgesprochen hatte.

Beide Männer ahnten nicht, mit welcher Verwunderung Madame Meier und die Pfarrerin den Ansichten ihrer Söhne zuhörten und daß beide tiefer in den Herzen derselben lasen, als es ihnen lieb sein mochte. Ebenso hatte Reinhard nicht bedacht, wie weh der armen Jenny sein Urteil tun mußte, die sich in aller Unbefangenheit dem Genusse der Musik hingegeben hatte und die eben heute diese Oper doppelt liebte, weil ihr während derselben die Überzeugung geworden war, daß Reinhards Herz ihr angehöre.

Der Pfarrerin war Jennys Bewegung nicht entgangen; sie sah den langen, flehenden Blick, den Reinhard auf sie richtete, nachdem er gesprochen; sie sah, daß Jenny sich zu ihm neigte und ein paar Worte sprach, die ihren Sohn in das höchste Entzücken zu setzen schienen, denn sein Gesicht leuchtete vor Wonne, aber verstehen konnte sie diese leise gesprochenen Worte nicht. »Ich werde nie wieder in den Figaro gehen«, hatte Jenny zu Reinhard gesagt, und die Pfarrerin überlegte vergebens, weshalb der Ausdruck von Betrübnis auf dem schönen Gesichte des Mädchens trotz Reinhards Freude nicht verschwinden wollte.

Um der Unterhaltung, die für einige Augenblicke ins Stocken gekommen war, wieder fortzuhelfen, bemerkte die Pfarrerin: »Mag man nun über die Moral des Figaro, die allerdings locker genug ist, noch so streng urteilen, es ist nicht zu leugnen, daß die Dichtung Anmut hat, der bezaubernden Komposition gar nicht erst zu denken.«

»Das macht sie um so gefährlicher«, schaltete Hughes ein, »wenn wir die Gefährlichkeitstheorie der beiden Herren überhaupt annehmen.«

»Ich bitte Sie, mein Herr«, lachte Erlau dazwischen, »lassen Sie sich doch von den abgeschmackten Lehren nicht hinreißen. Was so ein Doktor, der längst ein begehrter Heiratskandidat ist, und so ein Kandidat der Theologie, der längst Prediger sein möchte, unsereinem vorpredigen und aufdozieren möchten, das ist ja deshalb alles noch nicht wahr. Lassen Sie die beiden doch lehren, was sie wollen; ich behaupte dennoch, daß im Figaro, im Barbier, im Don Juan, in der ganz vergessenen, lieblichen Fanchon etwas von der flüchtigen, zierlichen Leichtigkeit des vorigen Jahrhunderts liegt, die uns leider verlorengegangen ist.«

»Von einer Leichtigkeit«, sagte Eduard, »die, in totale Verderbtheit ausgeartet, sinnlos forttänzelte zum Schafott, trotz der warnenden Stimmen, an denen es nicht fehlte.«

»Ja! Zum Schafott«, fuhr Erlau fort, »auf dem die leichtfertigen Tänzerinnen mit einer Ruhe starben, mit einer Seelengröße, die einer Römerin würdig gewesen wäre. Die Prinzess Elisabeth starb ebenso ruhig als Arria oder irgendeine andere Heldin eurer gepriesenen, langweiligen Römerzeit; und der ganze Unterschied ist der, daß die Französinnen liebenswürdig und glücklich waren und Glückliche machten, während so eine antike Römerin oder römische Antike in ihrem Frauengemache saß und tugendhaft war und wollene Togas webte. Da lobe ich mir die Französinnen!«

Die alten Damen lachten, und Erlau fuhr dadurch ermutigt fort: »Sagt mir nun ehrlich, ist einer von euch halb so liebenswürdig als der Graf Almaviva oder Don Juan oder Cherubin oder der Abbé in Fanchon?«

»Du vielleicht, lieber Erlau!« sprach Eduard.

»Wollte Gott, ich wäre es. Ich strebe täglich, diese heitern Vorbilder einer fröhlichen Vorzeit zu erreichen, aber kommt man dazu? Kaum hat man sich verliebt und schwelgt in Wonne, so erzählen sie von Aktien zu einer Eisenbahn oder von Entwürfen zu Kleinkinderschulen, in denen lauter Prüde und Pedanten erzogen werden sollen. Denkt man daran, sein Herz frei zu machen, um es bald wieder gefangen zu geben, so soll man einer Korporation zur Befreiung der Negersklaven oder zur Erleichterung der Hunde beitreten; und kein Mensch denkt dabei, daß mich zum Beispiel dies viel mehr ennuiert als es irgendeinen Neger langweilt, Zuckerrohr zu tragen oder einen Hund, seinen Karren zu ziehen.«

»Es ist freilich nicht allen Menschen möglich, das Leben wie eine Lustpartie zu nehmen und jedes höhere Interesse als lästiges Hindernis zu verleugnen«, erwiderte Reinhard, dem diese Scherze Erlaus besonders dadurch mißfielen, weil Jenny ein Wohlgefallen daran fand, das er nicht billigen konnte.

»Und wie soll man das Leben denn wohl anders nehmen?« fuhr der unerschöpfliche Erlau fort. »Gott hat uns fraglos für die Freude geschaffen, Gott will, daß wir uns freuen sollen, und daß ihr mich neulich und heute wieder in meinem besten Vergnügen stört, ist eine wahre Todsünde. Was habt ihr denn von dem ewigen Moralisieren? Madame Meier und die Frau Pfarrerin hören so andächtig zu, daß ihnen der Tee eiskalt werden wird, und Fräulein Jenny sieht seit der abgeschmackten Unterhaltung so traurig aus und ist so zerstreut, daß ich noch gar keinen Tee bekommen habe, den schweren Ärger zu ertränken, den ihr mir verursacht. – Liebes Fräulein«, sprach er gegen Jenny gewandt, »nur eine doppelte Portion Zucker als Ausgleich für den bitteren Verdruß, den Ihr Bruder mir gemacht hat!«

Die kleine Gesellschaft war in ein herzliches Lachen ausgebrochen, das Erlaus fröhliche Laune hervorgerufen hatte. Auch Jenny riß sich gewaltsam aus den Gedanken heraus, die heute zum ersten Male in ganz neuer Gestalt in ihr erwacht waren. Nur Reinhard blieb in tiefes Sinnen verloren und sah, aufgelöst in Liebe, zu Jenny hin, die sich eben anschickte, Erlau eine scherzhafte Antwort zu geben, als Joseph und Steinheim in das Zimmer traten. Sie waren zu Fuß aus dem Theater gekommen, und Steinheim entschuldigte ihr spätes Erscheinen mit den parodierten Worten: »›Spät komm ich, doch ich komme; der weite Weg entschuldige mein Säumen.‹«

»Aber warum fuhren Sie nicht auch nach Hause?« fragte Jenny.

»Weil leider Freitagabend ist«, antwortete Steinheim, »und ich meiner Mutter den Kummer nicht machen wollte zu fahren. Aus Kindesliebe, aus Frömmigkeit hole ich mir in dem nassen Wetter den Tod, nach dem Echauffement im Theater und bei meinem reizbaren Nervensystem! Was soll man aber tun?«

»Ich habe geglaubt, das Fahren sei nur am Sonnabend verboten«, sagte die Pfarrerin.

»O nein!« erwiderte Steinheim, »der Sonnabend fängt bei uns schon des Freitags an, und alle Ruhe- und Sabbatfeiergesetze müssen von Freitagabend ab gehalten werden, bis sonnabends die ersten Sterne blinken.«

Die Pfarrerin erwähnte es lobend, daß Steinheim sich an diese Formen halte. – »Mir sind sie ganz gleichgültig«, antwortete er, »ich halte sie für ein Gesetz, das mißverstanden ist, und befolge es nur meiner Mutter zuliebe, der ich viele Opfer der Art bringe, obgleich sie meine Gesundheit ruinieren.«

»Für solch einen Mustersohn habe ich Sie nicht gehalten«, sagte Jenny, die nie der Lust widerstehen konnte, Steinheim zu necken. »Ich wußte nicht, daß Selbstverleugnung auch zu Ihren Tugenden gehöre.«

»›Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabne in den Staub zu ziehn‹«, deklamierte Steinheim. »Daß Sie, holdes Fräulein, aber an mir zweifeln, verdiene ich nicht, und ich könnte wie Cäsar sagen: ›Brutus, auch du!‹ – Übrigens wissen Sie ja, daß sonnabends unsere Pferde geschont und ich strapaziert werde.«

»Das ist das erste Gesetz gegen Tierquälerei«, rief Erlau dazwischen, »und ich wundere mich, lieber Meier, daß du, in doppelter Hinsicht triumphierend, nicht längst darauf aufmerksam gemacht hast.«

»Wirklich«, meinte Madame Meier, »gehört aber die stille Sabbatfeier zu den Gesetzen der jüdischen Religion, die mir sehr gefallen und zusagen – obgleich wir sie nicht mehr halten.«

»Ich finde es auch sehr schön«, sagte Jenny, »aber es ist doch nicht für alle Menschen, eigentlich nur für Juden gemeint; denn ich habe bei Madame Steinheim selbst gesehen, daß ihr christliches Dienstmädchen die Lichter putzte, was sie selbst nicht tat.«

»Also meinen Sie«, fragte Steinheim, der sich neben Jennys Stuhl hingesetzt hatte, »da das Dienstmädchen Licht putzen darf, so kann das Pferd auch ziehen?«

»Ja!« sagte Jenny leise, während sich bereits eine andere Unterhaltung in der Gesellschaft entspannen hatte. »Ja! Die Pferde könnten wohl arbeiten, da sie nicht Juden sind.«

»Und was sind sie denn?« fragte Steinheim ebenfalls leise, um die andern nicht zu stören.

»Weiß ich's?« war die Antwort, »vermutlich Christen! – Oder Heiden!« fügte sie schleunig hinzu, bemerkend, daß Reinhard, der an ihrer andern Seite saß, jedes Wort dieser kindischen Unterhaltung gehört hatte und sich unwillig abwendete, als Steinheim in ein laut schallendes Gelächter verfiel, dessen Grund er aber auf Jennys eifriges Bitten nicht sagen wollte, so sehr man auch in ihn drang.

Durch Reinhards Brust waren die letzten Worte wie ein fliegendes Weh gezogen, wie ein eisiger Frost über die ersten schönen Blüten des Frühlings. Diese Leichtfertigkeit, dies Scherzen mit allem, was andern heilig ist, das war es eben, was oft so trennend zwischen Jenny und seiner Liebe gestanden hatte. Er liebte ihre reiche, schöne Natur, ihr lebhaftes Gefühl und wurde es doch nur zu häufig mit Betrübnis gewahr, daß Jenny infolge ihrer Erziehung und der Verhältnisse, in denen sie aufgewachsen war, eine Richtung genommen hatte, die seiner ganzen Seele widerstrebte, die auch Eduard mißbilligte, die aber zu ändern ihren beidseitigen Bemühungen bis jetzt nicht gelungen war. Reinhard glaubte an ihr Herz, er liebte sie, wie ein kräftiges Gemüt zu lieben vermag – und doch fühlte er eine Scheidewand zwischen sich und der Geliebten; doch konnte er die bange Ahnung nicht unterdrücken, es stehe ein Etwas trennend zwischen ihm und ihr. Jetzt, bei Jennys letzten Worten, erwachte das Gefühl aufs neue und heute um so schmerzlicher in ihm. Trüb und verstimmt nahm er, als sich die Gesellschaft trennte, von der Geliebten Abschied, trüb und verstimmt schritt er an seiner Mutter Seite heim, während Jenny in ihrem Zimmer Tränen der bittersten Reue vergoß. Sie wußte, was sie ihm angetan hatte, aber so hatte sie heute doch nicht von ihm zu scheiden geglaubt. – Er hatte keinen Blick für sie gehabt, und jetzt wußte er es doch, daß sie ihn liebte.

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