Fanny Lewald
Jenny
Fanny Lewald

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In Berghoff, dem prächtigen, am Meere gelegenen Landhause ihres Vaters, finden wir Jenny wieder. Clara war hinausgefahren, sie zu besuchen, und harrte mit bangem Herzklopfen der Ankunft Eduards.

Sie hatte ihn noch nicht wiedergesehen und war lange mit sich zu Rate gegangen, wie und wann dies erste Begegnen vor sich gehen könne. Eduard war allerdings als Arzt bei ihrer Mutter gewesen und hatte lange dort verweilt, in der Hoffnung, Clara werde endlich wieder für ihn sichtbar werden; aber sie war nicht erschienen. So resigniert sie sich fühlte, war sie doch ihrer Fassung nicht gewiß genug, um im Beisein ihrer Mutter Eduard zum ersten Male sprechen zu wollen, und endlich, als die Sehnsucht nach ihm immer reger wurde, benutzte sie ihr Versprechen, Jenny in Berghoff zu besuchen, in der Voraussetzung, daß Eduard den Abend dort zubringen und die Anwesenheit der ganzen Familie ihr eine ruhige Haltung möglich machen werde.

Claras Eintritt erregte große Freude bei ihren Freunden, aber zugleich ein allgemeines Fragen nach ihrem Ergehen, denn man fand sie übel aussehend. Sie versicherte indessen, sich vollkommen wohl zu fühlen, und ging gleich zu einer allgemeinen Unterhaltung über. Der Vater, der anwesend war und sie mit mehr als gewöhnlicher Aufmerksamkeit behandelte, bot ihr dabei hilfreich seinen Beistand. Jenny aber täuschte das nicht, und sie benutzte die erste Gelegenheit, sich mit Clara zu entfernen, um womöglich von ihr selbst zu erfahren, was seit jenem Abend im Garten zwischen Eduard und ihrer Freundin vorgegangen sei, und ob sie den beiden ihr so treuen Personen irgend Beistand oder Trost gewähren könne. Sie kannte Williams Neigung für ihre Freundin, seine Werbung und die Scheu, mit der Clara an die Zeit seiner Rückkehr dachte, ohne daß eines der beiden Mädchen aus leicht begreiflicher Rücksicht jemals den Grund berührt hatte, der Clara dieser Verbindung abgeneigt machte. Solange Jenny ihre Freundin heiter und Eduard unverändert ruhig gesehen, hatte sie es für zudringlich gehalten, um dasjenige zu fragen, was man ihr verschwieg; nun sie aber Claras bleiches Antlitz, ihres Bruders düstere Stimmung sah, konnte sie sich nicht länger überwinden. Mit aller ihr eigentümlichen Lebhaftigkeit kniete sie vor Clara nieder und bat, indem sie sie mit beiden Armen umschlang: »Sage mir, was ist geschehen? Warum hast du so viel gelitten, daß du bleich und traurig aussiehst? Was fehlt Eduard? Sage es mir, wenn du mich genug liebst, mich mit dir leiden zu lassen.«

»Du weißt es«, antwortete Clara, »aber gerade darum laß mich davon schweigen. Helfen kannst du mir nicht, niemand kann es, und das einzige, was du für mich tun sollst, ist, mich mit Eduard ein paar Minuten allein zu lassen, wenn er heute herauskommt. Willst du mir das gewähren?«

Jenny versprach es, und traurig saßen sie lange beisammen, bis der Hufschlag eines Pferdes die Ankunft eines Reiters verkündete und nach einer Pause banger Erwartung der Vater mit Eduard zu ihnen kam. Man sah es dem Doktor an, wie schwer er sich beherrschte, als er, Clara begrüßend, ihre Hand ergriff und küßte. In Claras Augen schwammen große Tränen, nur die Anwesenheit des Vaters hielt sie zurück, aber dieser schien von dem allen nichts zu sehen. Er hielt den Brief in der Hand, und gleichmäßig wie immer fragte er die Tochter, ob sie etwas von Erlaus Abreise gewußt hätte? Er melde sie Eduard in diesem Schreiben und nehme zugleich von allen seinen Freunden Abschied. Jenny verneinte es; der Vater aber sagte scherzend: »Der Brief ist wieder Erlaus treuestes Abbild; hört nur, wie er lautet:

»An Eduard Meier, mit dem Befehl, es als Currende an das übrige Volk zu senden, das sich nach vierundzwanzig Stunden Abwesenheit eines Entfernten etwa noch erinnern sollte.

Lieber Doktor! Ziehe Dein Taschentuch hervor und trockne Deine verwunderten und hoffentlich weinenden Augen, da Du erfährst, daß ich längst zum Tore hinaus bin, wenn ich Dir dies Lebewohl sage. Du kannst nicht behaupten, daß ich treulos desertiere – die lange und langweilige Campagne eines norddeutschen, nebelgrauen Winters habe ich voll rührender Geduld und lobenswerter Teilnahme mit Euch durchgemacht; ich habe Eure steifgeschnürten, gebildeten Schönen tanzen gesehen, mich in hundert Gesellschaften gelangweilt und ruhig Eurer Ästhetik und Politik, Euren Diners und Zweckessen, Euren Vereinen und all den tausend Narrheiten zugeschaut und, was noch mehr ist, ich habe meine rechte Hand im Zaume gehalten, die täglich sich in hundert Karikaturen zu zeigen verlangte. Die Karikatur aber ist ein Bastard der Kunst, ein unwürdiger Sohn, den die Mutter verleugnen muß und zu dessen Vater ich mich und meinen ehrlichen Namen nicht hergeben mag. Wehe Euch, wenn Eure unverbesserliche Geschmacklosigkeit mich endlich dazu verleitet hätte, und Ihr waret nahe daran, mich auf diesen Irrweg zu führen. Darum fliehe ich Euch und wende meine Schritte nach jenen Gegenden, über denen ein blauer Himmel lacht, in denen man das Regieren den Fürsten und das Denken den Pfaffen überläßt, die dafür bezahlt werden und es doch nicht tun, und wo man keinen Gewerbeschein zu lösen braucht, wenn man nichts verlangt, als ruhig in der Sonne zu liegen und sich der paradiesischen Wonne des dolce far niente zu befleißigen. – Von Euch und Eurem gepriesenen kultivierten Leben verlange ich gar nicht zu hören. Ihr sollt und könnt mir nicht schreiben, weil ich nicht weiß, wo ich sein werde, und, wenn ich es irgend vermeiden kann, meine schreibkundige Hand zu nichts brauchen will, als die Blüten und Freuden zu pflücken, die mir am Wege winken. Erst wenn dieser Winter lange hinter mir liegen wird, soll der Pinsel die einzelnen Lichtstrahlen wiedergeben, die durch Eis und Schnee unvergeßlich in meine Seele drangen. Denn jede Nacht hat ihre Sterne; auch im nordischen Eise blitzen sonnenhelle Brillanten funkelnd hervor, das Auge zu erfreuen – aber zu beleben, zu erwärmen, das verschmähen sie leider. Und somit lebet wohl! Du, lieber Eduard, die Deinen alle und Ihr übrigen Freunde, genießet des spärlichen Sonnenlichtes, das Euch geworden, wachset und gedeihet, jeder auf seine Art, und wenn Ihr in Berghoff die Sonne untergehen und den Mond am Horizonte emporsteigen sehet, so betet mit mir, daß der Götter reichster Segen dies Fleckchen Erde, diese Oase in der Wüste, dies Tal beglücken möge, wo unter dem Schutze sorglicher Liebe die schöne Rose von Saron erblühte. Möge Apoll ihr und ihren Pflegern den süßen Duft lohnen, den sie in die Seele eines seiner Söhne eingehaucht, sie, die allein ihn vor dem gänzlichen Erstarren in der traurigen Farblosigkeit Eures Landes beschützte. Nochmals lebet wohl!«

»Da hast du noch ein Abschiedskompliment, mein Kind!« sagte der Vater, »und zum Danke für dasselbe magst du sorgen, daß der Brief nach Erlaus Wunsch den näheren Freunden des Hauses mitgeteilt werde. Übrigens freut es mich um des jungen Mannes willen, daß er noch solch rascher Entschlüsse fähig ist; denn Italien wird ohne Frage ihm die Vollendung geben, für die er berufen ist. Gib mir jetzt den Brief, ich will ihn der Mutter und Theresen zeigen und ihnen die Abreise des liebenswürdigen Wildfangs anzeigen.«

»Ich komme mit dir«, rief Jenny, als ihr Vater, nachdem er, seinem Wunsch gemäß, Eduard über die Pein des ersten Wiedersehens fortgeholfen, sich entfernen wollte. Clara selbst hielt sie aber zurück und sprach: »Nein, liebe Jenny! Bleibe nur, es ist besser so. Was dein Bruder und ich uns zu sagen haben, braucht für niemanden, am wenigsten für dich, ein Geheimnis zu sein.«

»Clara!« rief Eduard, »was soll diese erheuchelte Ruhe, die Sie peinigt und von der in diesem Augenblick meine Seele weit entfernt ist! Oh, das Glück, Sie endlich, endlich wiederzusehen, ist doch nicht imstande, mich das Leid vergessen zu machen, das uns trifft!«

»Auch ich leide«, erwiderte Clara mit bebender Stimme, »aber wir müssen als Freunde miteinander zu tragen versuchen, was wir nicht zu ändern vermögen. Sie bleiben mir ja«, sagte sie und faßte Eduards und Jennys Hände, die sie vereint an ihr Herz drückte, »und auch unsere Jenny wird uns bleiben, und so vieles Gute, und die Achtung vor uns selbst, und – die Liebe«, setzte sie kaum hörbar noch hinzu. »Sie muß uns genügen und erheben«, schloß sie und verbarg weinend ihr Gesicht an Jennys Brust, die sich zärtlich und mit ihr weinend an sie schmiegte.

Eduard bog sich zu dem Mädchen nieder, machte seine Hand von Clara los und drückte einen langen Kuß auf ihre Stirn. »Möge uns Frieden werden!« seufzte er, und stumm saßen sie lange beisammen. Endlich versuchte Eduard mit der Frage, ob Clara noch am Abende nach der Stadt zurückzukehren denke, das Gespräch anzuknüpfen.

»Ja!« antwortete sie, »und ich zweifle, daß wir uns in den ersten Tagen sprechen werden, wenigstens hier in Berghoff nicht, da meine Mutter die Ankunft meines Vetters erwartet und –« sie stockte, aber Eduard und Jenny errieten das Fehlende.

»Da stehen dir schwere Tage bevor«, sagte Jenny und blickte ängstlich Eduard an, der blaß geworden war und unwillkürlich ausrief. »Auch das noch und schon jetzt!«

»Mein Onkel ist hergestellt«, fuhr Clara fort, »und ich wußte schon, als wir uns zuletzt sahen, daß mein Vetter wiederkehren werde. Ich wollte es Ihnen sagen, als ich herkam, aber ich versäumte es.«

Und wieder entstand eine lange, drückende Pause, in der niemand sprach, weil jeder sich scheute, von dem Gegenstande zu reden, der ihn allein beschäftigte. Eduard wollte irgendeinen bestimmten Entschluß fassen; er wollte Clara beschwören, diese stumme Resignation aufzugeben oder lieber ein Beisammensein zu vermeiden, das für ihn bitterer als jede Trennung sein mußte. Dazustehen vor der Geliebten, der er entsagen sollte, und sein Herz zu bezwingen, das fand Eduard unerträglich. So süß es seiner entstehenden Neigung geschienen, ohne Worte jede zarte Regung in dem geliebten Herzen zu verstehen, ehe das entscheidende Geständnis den Lippen entflohen war, so qualvoll dünkte ihn jetzt ein Zwang, der ihn zu leidender Untätigkeit, zu peinlichem Erwarten des Kommenden verurteilte; ihn, der bis jetzt allen Begegnissen seines Lebens rasch handelnd entgegengetreten war. Deshalb erschien ihm Reinhard, der, eben in Berghoff angelangt, seine Braut suchte, wie ein Erlöser aus drückenden Banden. Erst nachdem die ganze Familie beisammen und eine Stunde in Mitteilungen mancher Art vergangen war, konnten sich Eduard und Clara allmählich von den schmerzlichen Empfindungen befreien, die sie erduldet hatten, und zu des Vaters großer Genugtuung sich, wenn auch ohne wahre Teilnahme, in die Unterhaltung der übrigen mischen, bis endlich, von Eduard heißersehnt, die Trennungsstunde schlug. Und wieder geleitete er Clara zu ihrem Wagen, wie an dem letzten Abende, den sie in der Stadt zusammen verlebt; aber gegen den dumpfen Gram, den beide jetzt empfunden, mußte ihnen der Schmerz jener Stunden wie ein Glück erscheinen. Denn in jenem Schmerze lag noch Bewegung und Leben; heute aber fühlten sie die Entsagung wie ein Leichentuch über ihre Zukunft gebreitet und schieden wortlos, hoffnungslos.

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