Fanny Lewald
Jenny
Fanny Lewald

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Tage und Wochen schwanden auf die anmutigste Weise dahin. Walter überließ sich immer mehr dem steigenden Interesse, das ihn an Jenny fesselte und ihm ihren Umgang zu einem Bedürfnis machte, auf das er nicht mehr wohl verzichten konnte, und auch ihr war Walter bereits seit lange ein werter Freund geworden. Da entzog die Ankunft einer Freundin, der Geheimrätin von Meining, Jenny auf einige Tage der Gesellschaft ihrer Hausgenossen.

Frau von Meining, nur wenige Jahre älter als Jenny, war an einen bejahrten Mann verheiratet, der in Berlin als Arzt eine bedeutende Stellung einnahm. Dort hatte Jenny sie kennengelernt und ein unbedingtes Vertrauen zu ihr gefaßt, das durch den hohen sittlichen Wert jener Frau vollkommen gerechtfertigt wurde. Fast jeden Sommer pflegte die Geheimrätin in Baden zu leben, wo sie eine Besitzung hatte, während ihr Mann seinem fürstlichen Herrn auf dessen Reisen folgte, und die Aussicht, Jenny zu treffen, hatte sie um so mehr bestimmt, auch in diesem Jahre ihren Lieblingsort wieder zu besuchen. Leider aber war sie diesmal unpaß in Baden angelangt, und eine große Reizbarkeit der Nerven nötigte sie, sich fürs erste der Gesellschaft fernzuhalten und sich allein auf Jenny zu beschränken, die mit Freude ihre Zeit zwischen der Geheimrätin und den Ihrigen teilte.

Willig ließ man sie darin gewähren, nur Graf Walter konnte sein Mißvergnügen über Jennys häufige Abwesenheit nicht verbergen und äußerte eines Abends gegen den Vater, wie er sich die Abwesenheit einer so liebenswürdigen Tochter nicht gefallen lassen würde. Clara lachte darüber, und der Vater bemerkte: »Sie werden auch uneigennützig werden, mein Freund, wenn Sie das Glück empfunden haben werden, das man in der Zufriedenheit seiner Kinder genießt. Übrigens muß man auch der armen Leidenden die kleine Zerstreuung gönnen, die meiner Tochter Gesellschaft ihr gewährt.«

»Aber heute bleibt Fräulein Jenny doch ungewöhnlich lange dort«, sagte Walter, als man Anstalten machte, sich für den Abend zu trennen, ohne Jennys Rückkehr zu erwarten.

»Meine Tochter hat den Wagen erst nach elf Uhr bestellt. Die Geheimrätin leidet an Schlaflosigkeit, und Jenny wollte versuchen, ob es ihr nicht gelänge, sie durch leises, gleichmäßiges Vorlesen oder auf irgendeine andere Weise in Schlaf zu wiegen. Ich wünsche der liebenswürdigen Frau und euch eine gute Nacht.«

Mit den Worten entfernte sich der Vater; auch Clara und William zogen sich zurück und ließen Walter allein. Es war ihm zu früh, sich zur Ruhe zu begeben. Er ging hinab ins Freie, um noch eine Stunde der Kühlung zu genießen, denn er fühlte sich mißmutig, unruhig und in großer Spannung. Ihm war, als stehe er am Vorabende einer neuen Epoche seines Lebens, als erwarte er etwas oder als müsse ihm heute irgendein besonderes Ereignis begegnen. Und wenn er sich fragte, was ihn so bewege, worauf er so sehnsüchtig harre, dann mußte er sich bekennen, daß er es selbst nicht wisse. Vergebens versuchte er diesen Zustand zu bekämpfen, und um endlich, wie er glaubte, eine körperliche Erregtheit durch Ermüdung abzustumpfen, ging er rastlos und schnell vorwärts. So befand er sich nach kurzer Zeit am Ausgange der Lichtenthaler Allee, in der Nähe des Hauses, in welchem Frau von Meining wohnte. Die Meiersche Equipage hielt vor ihrer Türe. Die Fenster der Geheimrätin waren matt beleuchtet. Zerstreut blieb Walter eine Weile stehen, sah zu den Fenstern empor und schickte sich dann plötzlich zur Rückkehr an. Kaum aber hatte er ein paar hundert Schritte gemacht, als er sich auf eine der Bänke warf, die sich in der Allee befinden, und in ein tiefes Hinträumen versank, aus dem ihn dennoch der Fußtritt jedes Vorübergehenden emporschreckte. Allmählich wurde die Allee einsamer. Die Uhr des Nonnenklosters in der Stadt schlug zwölf. Bald darauf hörte er das Rollen von Rädern, er fuhr auf und blickte nach der Gegend, woher der Ton zu kommen schien. Aber täuschte er sich nicht? Ein weißes Kleid schimmerte glänzend aus der Dunkelheit empor. Er eilte der Gestalt entgegen, sein Herz schlug hörbar – Jenny stand vor ihm.

»Sie hier, Graf Walter?« fragte sie überrascht, doch freundlich, und legte ihren Arm in den des Grafen, der ihn ihr schweigend anbot.

Wer es nicht empfunden hat, wieviel Vertrauen in der Art liegen kann, mit dem eine Frau sich auf den Arm eines Mannes lehnt, der wird nicht begreifen, wie Walter sich so glücklich fühlte, als Jennys Arm jetzt in dem seinen ruhte. Denn es gibt gewiß nichts Gleichgültigeres als die Sitte, einer fremden Dame den Arm zu bieten, und doch fast nichts Süßeres, als wenn diese gleichgültige Sitte unter Personen zur traulichen Gewohnheit wird, die es noch selbst nicht wissen, wie nahe sie schon zueinander gehören.

Was unverstanden wie eine dunkle Ahnung in Walter geschlummert hatte, das fühlte er plötzlich als unwiderstehliche Wahrheit. Er hatte Jenny immer schon geliebt, und jetzt, da sie freundlich und doch arglos, als müsse es so sein, seinen Schutz und seine Stütze annahm, jetzt ging die Sonne der Liebe siegreich in seinem Bewußtsein auf, und er fragte sich: ›Warum erst jetzt?‹

Schweigend legten sie eine Strecke des Weges zurück, denn Walter vermochte nicht zu sprechen vor freudiger Bewegung, und Jenny fühlte sich so geborgen unter dem Schutze dieses Mannes, so zufrieden in dem Gedanken an die Erleichterung, die sie ihrer Freundin verschafft hatte, daß sie sich willig jener weichen Ruhe überließ, zu der die schöne Sommernacht verführerisch einlud. Allmählich aber wurde ihr Walters Schweigen peinlich. Es war, als ob seine Stimmung sich ihr mitteilte, sie fühlte sich beklommen, geängstigt, und um nur eine Veränderung in diese Lage zu bringen, sagte sie: »Es war so schwül in den Zimmern der Frau von Meining, daß ich dringend die Notwendigkeit fühlte, mich abzukühlen, und deshalb mit unserm alten Diener den Fußweg einschlug. Die Nacht ist heut' so schön.«

»Oh, unaussprechlich schön!« wiederholte Walter, und die frühere Stille trat wieder ein. Jennys Unruhe stieg dadurch von Minute zu Minute. Sie bildete sich endlich ein, um sich Walters Schweigen und ihre Unruhe zu erklären, ihrem Vater sei irgendein Unglück begegnet und man habe ihr Walter entgegengeschickt, sie davon in Kenntnis zu setzen. »Wie ging es meinem Vater, als Sie ihn verließen?« fragte sie besorgt.

»Er war wohl und munter und hatte sich zur Ruhe begeben, ehe ich fortging«, antwortete der Graf, und Jenny, als sie in diesem Augenblick ihre Wohnung erreichten, machte ihren Arm aus dem des Grafen los und sank aufatmend auf den Sitz vor ihrer Türe nieder. Sie hätte weinen mögen, so gepreßt war ihr das Herz. Sie wollte aufstehen und noch in das Zimmer ihres Vaters gehen, um sich zu überzeugen, daß er wohl sei, und war doch so beklommen und so bang bewegt, daß sie kein Glied zu rühren vermochte. Dem Grafen mußte es ebenso ergehen, er setzte sich schweigend zu ihr nieder.

Es war still um sie her; nur das Rauschen der Blätter, das leise Rieseln des Ölbaches tönten an ihr Ohr. Balsamisch drang der Duft des frischgemähten Grases von den Wiesen empor, und Jennys Seele fand Ruhe und Frieden in dieser feierlichen Stille, der sie sich mit Wonne hingab. Da tauchte plötzlich ein lichter Schein am nördlichen Horizonte auf, hell und immer heller, so daß der ganze Himmel davon durchleuchtet und verklärt schien, während ein Lichtmeer den Ursprung der herrlichen Erscheinung bezeichnete. Einzelne Strahlen schossen blitzschnell gegen den Zenit empor, im wechselnden Farbenspiel und mit ganz überirdischer Pracht; dann verschwammen sie wieder in dem Lichtermeere, und neue, ebenso glänzende Flammenstreifen tauchten daraus hervor. Es war das schönste Nordlicht, das man seit lange gesehen hatte, und bewundernd hingen Jennys Blicke an dem erhabenen Anblick. Ihre Hände falteten sich unwillkürlich, und mit bebender Stimme sagte sie: »Und sie sprechen von Offenbarung! Als ob es eine göttlichere, unwiderstehlichere geben könnte als diese. Wer sollte nicht glauben an den, der in solchen Zeichen zu uns spricht? Das ist Gott! Das ist der Gott, den ich anbete und der keines Mittlers, keiner sinnverwirrenden Lehren von Kreuz und Blut und Tod bedarf, um uns fühlen zu lassen, daß sein die Macht und er die Liebe ist.«

Tränen der Begeisterung flossen aus ihren Augen. Kein Gedanke als die anbetende Verehrung, die tiefste Demut vor Gott war in ihrer Seele, als Walter mit einem Ausruf von Entzücken sich vor Jenny niederwarf und ihre gefalteten Hände an seine glühenden Lippen preßte. Erschreckt und unangenehm durch diese leidenschaftliche Berührung in ihrer Andacht gestört, stand Jenny auf und sagte mit einem Tone des Vorwurfs: »Entweihen Sie die Stunde nicht. Knien Sie nicht vor dem Geschöpf, wenn der Schöpfer selbst Sie einer solchen Offenbarung würdigt!« Und sie schritt rasch in das Haus, an dessen Türe ihr Diener ihres Eintritts wartete.

Bestürzt sah Walter ihr nach. Sein Herz hatte voll grenzenloser Liebe verlangt, sich in dieser feierlichen Stunde der Geliebten für immer zueigen zu geben, und im Übermaß des Gefühls war er vor sie niedergesunken. Wie sie in dem Phänomen, so betete er in ihr die Macht des Schöpfers an, und kalt und tadelnd hatte sie ihn von sich gestoßen. Er warf es sich vor, wie ein blöder Träumer vor Jenny gestanden zu haben, statt von ihr wie ein Mann ihre Hand und ihr Wort zu fordern. Jetzt, sagte er sich, jetzt könnte sie mein sein. Ich könnte meine Lippen auf die ihren drücken, den Schlag ihres Herzens an dem meinen fühlen, wissen, daß sie mein ist für immer – daß sie mich liebt...

Walter hielt inne. Daß sie ihn liebte, dafür hatte er keinen, gar keinen Beweis, und doch glaubte er an ihre Liebe. Eine Liebe wie seine konnte nicht unerwidert bleiben, sie mußte Gegenliebe finden. Diese Hoffnung gab ihm Mut; und voll Vertrauen auf einen glücklichen Ausgang wollte er am nächsten Morgen Jenny seine Liebe gestehen und von ihrem Vater die Hand seiner Tochter fordern.

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