Heinrich Laube
Reisenovellen - Band 1
Heinrich Laube

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwickau.

»Und nahm ihm ein Stück seines Lebens, und lachte dazu.«
Aus der verlornen spanischen Tragödie.

Nach allen Seiten hatten sich die Reisenden aus dem Posthause zu Zwickau zerstreut. Ich saß mit einem ruhigen, behaglichen Nordteutschen am Ende allein in dem winkligen Gastzimmer auf einem versteckt liegenden Sofa. Es war in der zweiten Stunde der Nacht, ein einsames Licht brannte träg auf einem entfernten Tische von lang gebranntem Dochte beschattet. Der Nordteutsche rauchte seine Pfeife und sah zufrieden vor sich hin, meine Gefühle schlugen auch allmählig immer kleinere Wellen, es war so fein still in Nähe und Ferne, der Morgenwind schüttelte leise zuweilen an den Fenstern, man hörte es, wie er den erschöpften Regen fortblies, ein früher Hahn begann schüchtern und wie unsicher probirend sein erstes Signal eines neuen Tages.

323 Ich wollte auch einen neuen Tag anfangen, und verschloß die Thür zu den Gedanken des vorigen Tages, und wendete mich an meinen Nachbar. Ein neuer Mensch auf einer Reise erschließt immer wieder ein ganz andres Terrain, wenn man seinen Geist und sein Herz nur ein wenig zu öffnen weiß.

Der Nordteutsche war einer von denen, welche nach zehn Minuten so bekannt und offenherzig sind, als wäre man schon Jahrelang mit ihm umgegangen. Das ist bei vielen Menschen eine Schwäche, bei ihm aber war es Stärke; er war sich seiner Kraft bewußt, die ihm begegneten, mochten mit dem, was er ihnen gab, machen was sie wollten, das war ihm einerlei. Er hatte ein gutes Gewissen, wie denn ein starker Mann, dessen Unterleib gesund ist, selten ein schlechtes hat. Denn an einem schlechten Gewissen sind immer zwei Dritttheil Angst und Schwäche.

Es ergab sich, daß wir zusammen über Schneeberg nach Carlsbald reisen wollten. Er sah stämmig und robust aus wie eine gesunde Kiefer, und ich fragte ihn natürlich, was er denn in Carlsbad wolle, da er nicht vornehm genug aussähe, um diese Frage überflüssig zu machen.

Da zog ein liebenswürdig Lächeln um seinen Mund, wie wenn in den letzten Tagen des April die Sonne zum ersten Male wieder oben über dem Kieferwalde zum Vorschein kommt, und die wenigen 324 Aeste einander zuraunen. »Seid munter, sie ist da.« Er nahm die Pfeife aus dem Munde, und konnte sich gar nicht mehr aus dem Lächeln herausfinden, ich war ernstlich besorgt, daß es sich in ein Lachen verwandeln, und ich gar nichts erfahren würde, und unterbrach ihn deshalb, als er lächelnd aufstand und das Licht schneuzen ging.

»Sie müssen nicht davon sprechen« –

So fangen alle Leute an, die in Teutschland mündlich etwas erzählen wollen. Die jungfräuliche kindische Scheu vor der Oeffentlichkeit ist immer so groß, daß sie roth werden, wenn sie ihren Namen gedruckt sehen, und bleich, wenn etwas dabei steht, was sie selbst gesprochen.

Ich machte ihn sicher, und nun erzählte er wie ein langsames, aber regelmäßiges Mühlrad.

Jetzt sei er zwar ein tiefer Dreißiger, aber er sei einst auch jung gewesen, und habe sich auf der Schule mit dem Cornelius Nepos und andern wichtigen Dingen beschäftigt. Und nun begann er eine Detailerzählung, und stopfte sich dazu eine neue Pfeife. Ich erinnerte ihn, daß wir keine volle Stunde mehr übrig hätten, dann ginge der Wagen nach Schneeberg ab, und ob er wohl bis dahin fertig zu werden gedächte mit dem Cornelius Nepos und andern wichtigen Dingen, um derentwillen er nach Carlsbad reise.

325 Eine Zeitlang mußte ich auf Antwort harren, da die Pfeife eben in Brand gesetzt wurde, dann zog er einen tiefen Schluck Rauch, und sagte: Wir können ja im Wagen fortfahren.

Nach diesen Worten setzte er sich und erzählte. Er hatte auf der Schule zwei Treppen hoch hinten hinaus in einer kleinen Stube mit einem langen, sehr langen Theologen und einem sehr kleinen ABC-Lehrer zusammengewohnt. Selbiger letztere habe sich sehr viel auf seine Schwester, die einen Goldschmidt geheurathet, und auf das Perfectum des Verbums ferre zu Gute gethan, was er als ehrwürdigen Rest sonstiger klassischen Bildung, die ihm geblieben, allen andern Perfectis der Welt vorzog.

Deshalb nannten wir ihn Tuli, – »Herr Tuli,« fiel ich dem Nordteutschen in's Wort, und war äußerst bewegt, denn das war ja meine Geschichte, jener Tuli war mein Stubengenoß gewesen, jener Schüler war ich.

Der Nordteutsche ließ sich aber nicht stören, sagte. »Sehr richtig, deshalb nannten wir ihn Tuli;« und fuhr gleichmäßig fort zu erzählen. Mich überlief es eiskalt, alle Geschichten von Doppelgängern, von gestohlnen Spiegelbildern kamen mir in den Sinn, es war spät in der Nacht, ich war allein mit dem Manne im Gastzimmer zu Zwickau, ich träumte vielleicht, war auf dem dunkeln Sofa eingeschlafen, 326 ich fragte den Nordteutschen, ob er gewiß wüßte, daß ich wachte.

»Ja,« antwortete er trocken, und fuhr fort in seiner Geschichte.

»Tuli hatte die ganze Stube voll Vögel hängen, und wenn sie alle sangen, so hörte man sein eigen Wort nicht. Hinter dem Ofen aber befand sich eine Hecke von Kanarienvögeln, auf welche Tuli all seine Erwartungen baute. Wir führten ein sehr stilles, gottseliges Leben: am Tage lehrten und lernten wir, Tuli das ABC, ich Lateinisch, der Theologe las hochbeinige Classiker, und sammelte sich schöne Redensarten für zukünftige Predigten. Gegen Abend fanden wir uns alle zusammen, Tuli versuchte es, eine seiner verstopften Pfeifen in Brand zu stecken, was nicht immer gelang, der Theologe, der nebenbei mein Vetter war, zog sich seinen alttestamentarischen Schlafrock an, der grau wie Buße und lang wie die Ewigkeit aussah, und ging mit großen Schritten nicht ohne Schwierigkeit im kleinen Zimmer auf und ab, ich saß im Winkel und dachte an den Epaminondas, der die Flöte so schön gespielt habe, und beschloß, meinem Vater zu schreiben, daß ich auch Flöte spielen wollte, um ein Epaminondas zu werden, meiner Mutter aber mitzutheilen, wie fleißig ihr Rath befolgt werde, und wie ich mich alle Tage am Treppengeländer baumle, um zu wachsen. Denn 327 ich sah wohl ein, daß ich größer werden müsse, um den Epaminondas zu spielen, und meinen langen Vetter beneidete ich in solchen Augenblicken immer sehr.«

»Jetzt räusperte sich Tuli und stellte mit schüchterner Stimme die Motion, ein Uebriges für den schönen Winterabend zu thun und eine Bretzelsuppe zu kochen oder Kartoffeln in Speck zu braten, da die Herren – das war mein Vetter und ich und das schmeichelte mir sehr – von der letzten Sendung der respectiven Eltern wohl noch Speck besäßen.«

»Der Antrag ging durch, es ward Licht gemacht, Tuli zog seinen blaugestreiften leinwandnen Schlafrock an, gab die Versuche mit seiner Pfeife auf, und hinkte hinunter zum Bäcker, um Bretzeln zu kaufen, und versprach den Sechser auszulegen und aus dem Keller Kartoffeln mitzubringen.«

Der scharfsichtige Leser wird bemerken, daß ich zuweilen dem Nordteutschen das Wort abnehme, und in der Erzählung seiner Veranlassung, nach Carlsbad zu reisen, selbst fortfahre. Das verwundert ihn gar nicht, es ist eine schreckliche Lage, schrecklicher als die des Lesers, der nicht absieht, wie wir nach Carlsbad kommen werden. Den Leser kann ich trösten, denn ich ahne es, wo es hinaus will, und mich quält nun auch schon die Eifersucht, aber wer tröstet mich, dem in der Nacht zu Zwickau auf dem dunkeln Sofa ein Theil seines Lebens abhanden gekommen ist!

328 Wir fuhren fort:

Aus einer Schüssel, die auf einem nackten Tische von weißgewaschenem Fichtenholze stand, aßen wir alle drei friedlich und besonnen Bretzelsuppe oder Speckkartoffeln. Dann spielte ich mit Tuli eine Partie Dame, die er mich selbst gelehrt, und wenn er zu viel Schweinchen bekam, so hörte er verdrießlich auf, und setzte sich auf die Ofenbank, die kurzen Beine horizontal so lang wie möglich vor sich hinstreckend. Da sah er aus wie ein Indianerhäuptling von einem verwahrlos'ten Stamme, und sprach drei Stunden lang kein Wort und regte kein Glied, und, wie ich gewiß weiß, dachte auch nicht den kleinsten Gedanken. Der Vetter excerpirte von Neuem klassische Stellen, ich las alle epischen Gedichte, deren ich habhaft werden konnte, und Alringers Doolin von Mainz, und Bliomberis und Schulzes Cäcilie und bezauberte Rose waren noch lang nicht die schlechtesten. Es war todtenstill im kleinen Zimmer, die Vögel schwiegen schon lang, und gespenstisch hingen die Bauer da, und von meinem Vetter und mir hörte man die Blätter umwenden, bis es zehn schlug. Ich segne aber jetzt die Zeit, denn ich brauche sie nothwendig für meine literaturhistorischen Kenntnisse, später wäre ich nimmer im Stande gewesen, so viel Heldengedichte mit durchzuschlagen.

Schon gegen zehn tummelten sich die Helden 329 verworren vor meinen müden Augen. Sobald es schlug, schleifte Tuli seine Elementar-Glieder von der Ofenbank herunter bis in's Bett. Auch ich schlüpfte hinein, und in bunten Träumen schlug ich mich herum mit dem anfänglichen Gesichte Tulis, das einem Albino, einem weißen Neger, angehört hätte, wär' er in Afrika geboren gewesen. Auf seinem Scheitel hatte er nur zwanzig lange Haare, welche aus dem Hinterkopfe entsprangen, und mit ökonomischer Benutzung einen ganzen Haarwuchs vorstellen mußten. Sie waren nämlich durch vorsichtige und sanfte, aber unausgesetzte Erziehung daran gewöhnt, gegen ihre natürliche Neigung vorn nach der faltenreichen Stirn zu, glatt und bescheiden anzuliegen. Die Stirn war kurz wie Tulis Verstand, um die Gegend, wo Augen sein sollten, schwebte ein beständiges Abendroth, in dem Allerheiligsten des muthmaßlichen Auges thaute und regnete es aber beständig, und kein Wald von Wimpern schützte die löschpapierne Wange vor Ueberschwemmung, jenen Schutz halte ihm die Natur völlig versagt. Daher kam seine boshafte Katzennatur, welche sich bald offenbaren wird, denn er ward alle Morgen blind wie die Katzen geboren, und erst nach langen Anstrengungen mit Schwamm und Tüchern, gelang es ihm, den Tag zu gewinnen.

330 Nimmer, Tuli, vergeß ich deinen Anblick, wenn du am hellen Morgen tastend bis zum Handbecken stolpertest, in welchem dein Tageslicht verborgen lag. Du warst im tiefsten Negligée, aber auch im Negligée schamhaft, nimmer vergeß' ich deine bräunlichen, flanellnen Untermodesten, aber auch nimmer den Morgen, wo du mich unbarmherzig aus meinen Träumen von dir rütteltest, der Fink hatte noch nicht gepiept und mich geweckt, ich träumte von dir und der bezauberten Rose.

Wie ein rachelustiger Gnom stand er an meinem Bett, und klagte mich der fürchterlichsten Frevelthat an, die sein ABC-Herz zu ersinnen vermochte, der Frevelthat, seine Kanarienhecke vergiftet zu haben. Am Abende hätte ich ihm alle fetten Kartoffeln von seiner Seite wegstibitzt, ich sei überhaupt ein junger Bösewicht.

Entsetzt fuhr ich auf, mein Vetter, dem ich einige schlechte Witze in sein Heft großartiger Redensarten geschrieben, was er eben entdeckte, sprang aus dem Bette, und überschüttete mich mit einer Rede des Demosthenes, ich kam nicht zu Worte, und entfloh mit Mühe in die Schule zum Cornelius Nepos, wo ich mich ein Wenig mit dem leidenden Aristides tröstete.

Nun kamen trübe Zeiten, ich lebte in unserm kleinen Zimmer wie ein Ausgestoßener, sogar die Vögel konnten mich nicht mehr erfreun, denn sie 331 erinnerten mich an die Kanarienhecke – ich glaubte am Ende selbst an meine Schlechtigkeit, und hielt mich für ein verwahrlos'tes Gemüth, wie mich mein langer Vetter immer nannte. Ach, ich war sehr betrübt.

In dieser traurigen Stimmung saß ich eines Abends einsam am blassen Tische von Fichtenholz – die Zeit der Bretzelsuppen und mit Speck gebratenen Kartoffeln war vorüber – und lernte mit schmerzlich bewegtem Herzen die Präfatio im Cornel auswendig: »Non dubito, fore plerosque« – ich zweifelte aber und verzweifelte an Allem. Es war recht teutsch unheimlich heimlich um mich, ein kleines Sechserlicht brannte matt, der Wind warf murrend den Schnee an die Fenster, hie und da schlug gespenstisch ein Vogel leise mit den Flügeln, wenn er vom Aar, oder Geier, oder von Leimruthen, oder auch von einem fern fliegenden Liebchen träumte, dessen Untreue ihm natürlich schien, da Schlegel den Vögeln keine Romantik hat beibringen können. Mich schauerte vor Einsamkeit. – –

Da klopfte es dünn und furchtsam an die Thür. Ich hatte Niemand kommen hören, und erschrak sehr, das dünne Klopfen klang so geisterartig. Kein Ton war in meiner Kehle – es klopft wieder, ich ermanne mich zu einem jämmerlichen »Herein«. Ein junges blondes Mädchen öffnet die Thür, und bittet schüchtern, ob sie ihr Licht bei mir anzünden könne.

332 Das Mädchen prägte sich mir schneller ein, als die Präfatio im Cornelius Nepos; sie machte einen wunderbaren Eindruck auf mich, und ich hielt sie für einen Engel, trotz des reellen Talglichtes, daß sie in der Hand hielt, und das ich mit meinem Sechserlichte in Brand steckte. Bei dieser Gelegenheit zitterte meine Hand, und ich erinnerte mich nach vielen Wochen, als ich wieder etwas zur Vernunft gekommen war, daß der Engel damals ein Wenig schalkhaft lächelte. Sie war zwar auch schüchtern, aber wir waren beide vierzehn Jahr, also war sie älter und hatte schon mehr Geistesgegenwart.

Ich fand sie sehr schön, und ich habe fünf Jahre lang geglaubt, jedes Mädchen, was hübsch sein wolle, müsse blonde Haare haben, und ein weißes Kleid tragen und ein himmelblaues Halstuch. Alles Andere fand ich fünf Jahre lang ordinair.

Sie fragte mich, was ich so allein machte, und ich sagte ihr, daß ich die Präfatio im Cornelius Nepos lernte. Als sie nicht wußte, was das sei, wies ich sie ihr, und als sie ungläubig den Kopf schüttelte, wuchs mir der Muth, und ich wiederholte mit Nachdruck, das sei wirklich die ächte praefation Cornelii Nepotis. Zum Beweise las ich ihr vor:

»Non dubito, fore plerosque, Attice, qui hoc genus scripturae leve, ac non satis dignum« –

333 Aber sie unterbrach mich mit der Frage, ob ich schwarzen Peter spielen könne. Vortrefflich. Und nun ging ich mit ihr, sie wohnte mit ihrer Mutter nur fünf Schritt von mir auf demselben Saale, aber vornhinaus. Es waren noch einige Mädchen da, und wir spielten schwarzen Peter, ich war aber der einzige Peter, weil ich fortwährend in die großen blauen Augen meiner kleinen Führerin sah, und wurde vielfach in's Schwarze gemalt.

Ein solcher Peter blieb ich fünf Jahre lang, wir wuchsen neben einander auf, und meine Liebe zu dem blonden Mädchen wuchs immer größer, ich wußte nicht mehr, wo ich sie beherbergen sollte, und theilte sie allen Winden und allen Wolken mit, die vorüberzogen, und strömte sie aus in drangvolle Gedichte, in melancholische Charaden, aber dem blonden Mädchen sagte ich nie etwas davon. Jetzt weiß ich, daß sie's wußte, denn ich erinnere mich, daß sie sehr kluge blaue Augen hatte.

Als die fünf Jahre um waren, verließ ich die Schule, und wollte die Universität beziehen, obwohl mir Tuli, als einem vermeintlichen Giftmischer noch immer nicht vergeben hatte. Da kam ich Abschied nehmen zu ihr. Die Mutter, welche sonst immer, wenn ich da war, verdrießlich nach der Wanduhr hinter'm Ofen gesehn, und des Abends immer gesagt hatte: »Hören Sie, es muß bald zehn sein, und 334 Sie sind noch zu jung«, die Mutter war heut freundlich, und sagte, ich könnte ihnen schreiben, und sollte die Briefe nicht frankiren. Das war sehr Viel. Ich hatte mir zwar fest vorgenommen, meinem Liebchen nach fünf Jahren zum erstenmale beim Abschiede die Hand zu küssen, aber es gelang mir nicht, und so ging ich von ihr, und hatte ihr nie ein Wort gesagt, daß ich sie seit jenem Abende der Präfatio vor fünf Jahren schwärmerisch liebe.

Hier ward uns gemeldet, daß der Wagen nach Schneeberg bereit sei. Der Morgen war frisch und blies von meinen Schläfen das Haar, von meinen Augen die nächtlichen Schatten. Ich sagte meinem Begleiter, daß er mir auf unbegreifliche Weise ein Stück meines Lebens, und zwar nicht das schlechteste, nämlich meine romanhafte Liebe auf der Schule entwendet habe, daß ich mich durchaus nicht erinnerte, sie jemals einem Menschen im Zusammenhange erzählt zu haben, daß ich ihn aber jetzt am frühen Morgen für einen Spaßvogel halte.

Er breitete seine Füße aus im Wagen, bedeckte sie mit dem Mantel, rückte den Oberleib bequem in die Ecke, und ignorirte abermals meine Einrede.

Mit gleichmäßiger Stimme fuhr er nach einer kleinen Pause in seiner Erzählung fort: Ich fand im nördlichen Teutschland eine Anstellung, und im Wirbel der Geschäfte hatte ich nicht die Zeit, an die Liebe 335 zu denken, ich wurde bequem, und brauchte viel Geld, so wurde das Heurathen verschoben. Halbe Nachrichten, die mir zukamen, erzählten übrigens, mein blondes Mädchen habe auf Drängen ihrer Mutter einen trocknen Lieutenant geheurathet, und nun begab sich noch obenein das Unglück, daß ich nach einer heftigen Erkältung ein starkes Nerbenfieber bekam, was alle früheren Gemüthseindrücke aus meinem Gedächtnisse verwischte. Ich hatte vergessen, daß ich jemals einen Vater und eine Mutter gehabt, denen ich mit Liebe zugethan gewesen, ich wußte nichts davon, daß ich Brüder habe, bis sie an mich schrieben, und mir's sagten, daß sie meine Brüder seien. Mein Gedächtniß war gleich einer abgewischten Tafel, mit mäßiger Mühe stoppelte ich mir wieder die nöthigsten juristischen Kenntnisse zusammen. In den ersten vierzehn Tagen mußt' ich Visitenkarten um meiner selbst willen bei mir tragen, weil ich meinen Namen vergessen hatte.

Von meiner blonden Liebe wußte ich kein Wort mehr. In diesem Frühjahr schrieb mir mein Bruder, seine Frau habe ein Mädchen kennen gelernt, was sich meiner mit großer Theilnahme erinnere. Die Mutter dieses Mädchens habe ihr eine vormalige Liebesgeschichte von mir erzählt, und vielfach gefragt, ob ich denn noch immer so blöde sei. Meine Schwägerin, eine red- und schreibselige Dame, die 336 Komödien und Novellen schreibt, hat mir alle früheren Details mitgetheilt, und befindet sich jetzt mit dem blonden Mädchen in Carlsbad.

Deshalb, mein Herr, reis' ich jetzt auch nach Carlsbad, und wenn ich dem Mädchen gefalle, und sie mir noch gefällt, so hab' ich sie zu heurathen beschlossen. Ich weiß zwar durchaus nicht mehr, wie sie aussieht, ich wüßte überhaupt ohne meine Schwägerin nichts von dieser meiner schwärmerischen Jugendliebe, nichts von Tuli, dem Finkler, ich bin auch dafür, daß mein blondes Mädchen für ein Mädchen schon etwas hoch in Jahren sein müsse, wenn ich mich anders recht erinnere, daß sie gleichen Alters mit mir gewesen sein soll – aber ich werde sie doch wahrscheinlich heurathen. Ich liebe so etwas Historisches vor der Ehe, und ich habe immer gefürchtet, daß ich einmal so kahl vom Fleck weg ohne Einleitung und Begebenheit heurathen müßte. Was meinen Sie, mein Herr, dazu, und worin bestanden Ihre Unterbrechungen meiner Geschichte? Sie müssen mich entschuldigen, daß ich keine Notiz davon genommen habe, mein Gedächtniß ist noch sehr unsicher, und wenn ich mich auf Nebenwege und Berichtigungen einlasse, so verliere ich leicht die ganze Geschichte unter den Händen, oder erzähle die zweite Hälfte einer ganz andern an meine angefangene. Das begegnet mir leider sehr oft, ich habe vor Kurzem unsere Familienpapiere 337 durchstudirt, um doch wieder etwas von meinen früheren und jetzigen Angehörigen zu wissen, da haben denn die Heurathsschicksale meiner Großmutter einen so lebhaften Eindruck auf mich gemacht, daß ich sie sehr oft in andre Angelegenheiten mische, namentlich in die meinen. Wenigstens versichern mich dessen meine Umgebungen, ja, und was ich Ihnen erzählt habe von meiner Cousine mit der schönen Taille – – –

Da schlief er ein. Wäre es nicht am frühen Morgen gewesen, ich hätte mich vor dem Manne gefürchtet, diese Verwirrniß, in welche meine eignen Jugendleiden verwebt waren, verhäkelte mir selbst Verstand und Gedächtniß. Ich beschloß, den verworrenen Knäul von Dingen bis Karlsbad in die Tasche zu stecken, vielleicht ließ er sich dort mit Hilfe jener Schwägerin entwirren, die am Anfange dieser Fäden zu stehen schien.

Und doch lag auf dem Gesichte des Schläfers solch klare Ordnung, solch' ein besonnener Schalk, daß es mir manchmal schien, als sei ich in den Händen einer überlegenen Fopperei.

Der Schwager blies sich ein Morgenlied, ich freute mich der Fahrt. Das Land ist hier bergig, der Weg ist einer von den Pässen, welche durch das sich absenkende Erzgebirge nach Böhmen führen. Die Berge recken und dehnen ihre Glieder durch das sogenannte Voigtland bis an die thüringschen und bairischen 338 Fuhrthen, bis dahin, wo 1806 die ersten Franzosen den Preußen begegneten. Dort finden sie neue Unterstützung, und nehmen einen höhern Flug, auf der einen Seite als Thüringerwald, auf der andern als Fichtelgebirge. Die Berge sind eine Aristokratie der Erde, und es findet sehr innige Verbindung zwischen ihnen statt. Sie hängen wie die höhere Klasse durch die ganze Welt zusammen vermittelst höherer Civilisationsgedanken, und wo man Flächen sieht, da geht die Konspiration unter der Oberfläche weiter, und es ist längst bekannt, daß unter dem Meere die Gebirge sich fortziehn von einem Welttheil zum andern.

Ich meine nicht die sogenannte Aristokratie, sondern eine bessere. Eine Aristokratie hat aber jede Zeit, auch die äußerst demokratische, und ich liebe sie sehr, denn sie ist mir die Bürgschaft der fortschreitenden Kultur.

Diese große Familie der Berge und Höhen hat ihre eignen Geheimnisse und ihre eigne Poesie. Ueber Alles liebt sie die Menschen, und trachtet sie zu beglücken. Sie sendet ihnen die Quellen, und öffnet ihnen ihre goldnen und silbernen Herzen. Ich bin oft der Meinung, die Berge seien die alten Titanen, welche einst gegen die egoistischen Götter den großen Krieg geführt haben, und leider überwunden worden sind. Damals ist ihnen das glühende Erz und das quellende Wasser in den Mund gegossen worden, daß 339 sie für ewige Zeiten die Sprache verlören, und stumm blieben bis an der Welt Ende. Das ist das große Unglück der Berge: sie dürfen nicht reden von all' den skandalösen Dingen der Olympier und von den Handgriffen der Weltregierung, deren Unkenntniß uns in Dummheit und Schwäche erhält. Nur zuweilen versuchen es die feuerspeienden Brüder, die alte Titanenrede wieder zu gewinnen, und unter dem furchtbaren Röcheln sterbender Riesen werfen sie ihren feurigen Zorn in die Luft, vielleicht sind es auch Worte, welche der Aetna, der Vesuv, der Hekla und der Krabla sprechen, aber das Lexicon dafür ist uns verloren gegangen, und wir erschrecken vor ihnen, statt ihrem Sinne nachzuspüren. In den Bergen liegen gewiß tiefere Worte, als in den Pyramiden, und ich habe oft gewünscht, daß Champollion, eh' er starb, lieber die Hieroglyphen der Berge, als die der Pyramiden entziffern möge. Denn die Felsen liegen gewiß nicht verworren auf ihnen, sondern enthalten im Titanenalphabet das große Weltgeheimniß.

Ich kann es auch nie unterlassen, mein Ohr an die Berge zu legen. Erinnern sich nicht viele meiner Leser, die das auch gethan, daß es ihnen immer vorgekommen sei, als hörte man inwendig ein dumpfes Stimmengewirr, und als würde eine große Revolution vorbereitet gegen den despotischen Jupiter, den Sohn des verstorbenen Jehovah, und wenn einmal 340 ein Erdbeben ausbricht, so sind das gewiß immer die geheimen Agenten Jupiters, welche von den Titanen entdeckt und fortgejagt sind, und sich heraufflüchten. Denn wären es Revolutionsmanövres der Titanen, wie ich in meiner Jugend glaubte, so würden nicht so viel Menschen dabei zu Grunde gehn, da die Titanen die Menschen lieben, wie ich das gewiß weiß. Dem Jupiter aber gelten sie nicht mehr, als Pfennige einem Könige, weil er alle Tage ihrer viel tausend machen lassen kann, ohne eine Hand zu rühren.

Seit einigen Jahren arbeiten die Berge mit viel größerem Eifer an einem Ausbruche der großen Erdrevolution, wo der Jupiter gestürzt wird und alle Gesetze aufhören, weil man keine mehr braucht, und die Menschen unsterblich werden, Tuli der Triefäugige nicht ausgenommen. Denn seit einigen Jahren haben sie sich in allen Welttheilen verständigt, und ein neues gewaltigeres Oberhaupt gewählt, den eisgrauen Dhavalagiri in Tibet, und den Chimborasso abgesetzt, weil er faul war, und die peruanischen und mexikanischen Gräuelthaten ruhig geschehen ließ. Und sie müssen einen neuen Weg der Verständigung mit vorzüglichen Menschenkindern gefunden haben, denn sie jagen Kouriere auf der Oberfläche, und lassen ihre Streitkräfte berechnen, und wir kennen fast die Höhe aller Spitzen. Sie haben ihre überirdischen Geschäftsträger, wie Alexander v. Humboldt, und ihre 341 oberflächlichen wie Henrik Steffens, die nach Kräften ihre Geschäfte besorgen. Es muß etwas Großes im Werke sein, und ich kann es nie unterlassen, meinen Hut abzunehmen, und »Gehorsamer Diener« zu sagen, wenn mir plötzlich so ein alter graubärtiger Berg in den Weg tritt, der vielleicht im Titanenkriege unter der alten Garbe gedient hat, und dessen Steine Ehrenlegionskreuze bedeuten, und der im nächsten Kriege Marschall werden kann.

Darum bin ich immer sehr vergnügt, wenn ich zwischen Berge hineinfahre, denn ich erwarte von ihnen das tausendjährige Reich; ich habe von Jugend auf die Gesetze nicht leiden mögen, schon das Gesetz des Buchstabirens und des Haselnußstocks ennüyirte mich, da ich zum ersten Mal in die Schule kam, und wenn man einmal anfängt zu buchstabiren, so hört's mit den Gesetzen nicht eher auf, als bis man die Seele aushaucht, und die Begräbnißgesetze nicht mehr hört. Das Leben ist eine tausendfache Sklaverei – von den Bergen hoff' ich dann immer Besserung.

Bin ich dann aber eine Weile in ihnen herumgekrochen, so fällt mir der Muth, sie kommen mir wie wachsende Gräber vor, und wenn ich in ein Bergwerk gerathe, so ist mir's, als stieg' ich in die Gruft eines ganzen Volks; die bleichen Bergknappen erscheinen mir immer wie Leichenträger und Todtengräber, es 342 überläuft mich stets ein Grausen, wenn ich sie sehe. Uf! – Es fällt mir Alles auf den Kopf, die Gedanken der christlichen Pfaffen wachen plötzlich auf in den Särgen meines religiösen Herzens, und die ganze Welt kommt mir wie ein großer Jammer vor, ob dessen ich mich entleiben möchte, weil das Wasser meiner Thränen nicht zureichen, mein Geist dem Schmerze erliegen würde.

Da muß ich eilig hinausflüchten in die Ebene, und da athmet meine Brust wieder auf. Wenn ich dann zurückblicke auf die Berge, dann werden sie mir wieder lieblich, hoffnungsreich blau und grün, und ihre Poesie wird mir wieder erquickend.

Das ist die Schwäche des menschlichen Herzens und die Poesie von der Ferne und Weite und Ungewißheit, die wir kurzweg Hoffnung nennen. 343

 


 


 << zurück weiter >>