Heinrich Laube
Reisenovellen - Band 1
Heinrich Laube

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Die Novelle.

In Altenburg waren zwei Damen eingestiegen, und erst vor der Stadt hatten sie sich in die Gesichter gesehen und sich erkannt. Es schienen herzliche Freundinnen zu sein, die weit entfernt von einander gewesen waren, aber der Ausdruck ihrer Freude kam mir so dumpf gemäßigt vor, wie man die Trommeln schlägt, wenn ein Soldat begraben wird. Sie küßten sich und drückten sich die Hände; genauer schaute ich nicht hin, ich war zu sehr beschäftigt, ihre Gesichter hatte ich auch nicht gesehn. Ich saß neben ihnen auf dem hintersten Sitz, und als es ganz finster war, und sie mich gewiß fest eingeschlafen glaubten, erzählte die eine mit leise flüsternder Stimme folgende Geschichte. Vorher hatte ich auf ihr Gespräch nicht Acht gehabt, der epische Ton aber, welcher plötzlich anhub, weckte mich alsbald. Die erzählende Dame halte eine schöne Altstimme, welche 305 zuweilen über das Flüstern heraustrat. Sonst sprach sie Alles ohne Modulation, eintönig, und das erhöhte mir den Eindruck außerordentlich. Die Nacht und der Wagen war übrigens finster und still, ununterbrochen, aber in gleichmäßigem Tempo, regnete es draußen. Ich hörte halb wachend, halb träumend zu, doch werd' ich kaum etwas Wesentliches geändert haben, wie ich die Erzählung aus meinem Gedächtniß objectivirt hier wiederbringe.


1.

Draußen am Rhein in einem mäßigen Städtchen saß eine bürgerliche Familie beim Frühstück. Es war noch sehr früh, die Morgennacht sah grau zu den Fenstern herein, das Kaminfeuer brannte, und auf dem Tische standen zwei brennende Lichter. Um den Tisch herum saßen der Vater in einem warmen Schlafpelze, die Mutter mit der weißen Nachthaube, und der Sohn, ein stattlicher Bursch, zur Reise gegürtet. Ferdinand wollte in der Frühe fort, er sollte bis nach Rußland reisen. Am Kamin stand die Schwester, einen frischen Topf Warmbier kochend, denn es war kalte Frühjahrsluft draußen. Das Mädchen war hoch und schlank gewachsen, sie hatte ein großes Tuch umgeschlagen und auf dem Rücken die Zipfel zusammengebunden. Unverwandt 306 sah sie in's Feuer hinein, und langsam glitten die Thränen ihr über die Wangen.

»Aber Mathilde« – rief der Vater, »die Kanne ist leer, und Ferdinand hat erst zwei Tassen getrunken.«

Da fuhr sie erschrocken zusammen, und die weißen schönen Arme kamen aus dem Tuche heraus, und legten frisches Holz an, die Thränen fielen in's Feuer, und sie nahm sich kaum die Zeit, die Wange mit dem Tuche abzutrocknen. Das Warmbier kochte, sie brachte es auf den Tisch, schenkte dem Bruder die Tasse voll, und fuhr ihm dann mit beiden Händen über Kopf und Gesicht, und leise weinend drückte sie ihr Gesicht an seine Augen. »Und du gehst nun auch fort, Ferdinand.« – –

Mehr konnte sie nicht sagen. Der Bruder schlug den Arm um sie, der Vater stellte die Pfeife weg, und ward unruhig, die Mutter weinte sehr, und trat hinzu und nahm den Sohn bei der Hand. Endlich that der Vater, als sei er verdrießlich, und schalt, daß man den Jungen nicht wenigstens in Ruhe frühstücken ließe.

Da knallte es laut im Hausflur, und Alle riefen: »der Kutscher.«

Ferdinand sprang auf, küßte den Vater. Des Alten Gesicht war in stürmischer Bewegung. Er küßte die laut weinende Mutter; unter lautem Weinen band sie ihm einen Fuchsschwanz um den Hals, 307 und wollte ihn nicht mehr loslassen. Sie steckte ihm noch das Taschentuch, was er auf dem Stuhl hatte liegen lassen, in die Brust hinein. Nun wollte er von der Schwester scheiden. Sie legte den Arm um seine Schultern. und bat innig. »Noch nicht!« – Die Eltern durften nicht mit vor die Thür, es sei zu kalt für sie draußen. Und draußen am Wagen, da drückte sie dem lieben Bruder noch einmal die zitternden, warmen Hände in's Gesicht, und bat ihn von Herzen, er möge ja recht glücklich leben. »Und wenn du ihn in Riga triffst, so bitte ihn, daß er treu ist.«

Der Wagen rollte fort. Mathilde sah ihm mit schmerzlichem Gesicht nach, und flüchtete ihre schönen Arme unter das Tuch. Es war kalt, die Straße sah noch todt aus wie eine graue Stube, deren Decke abgetragen ist. Der Nachtwächter auf der Bank gegenüber war aufgewacht, half sich langsam am Spieß in die Höhe, lüftete seinen breiten Hut und pfiff fünf Uhr. Langsam, schauernd vor Frost und Trauer ging Mathilde in's Haus zurück. Das Kaminfeuer war ausgegangen, die Eltern saßen im Dunkeln. Sie setzte sich still in einen Winkel am Ofen, wo sie oft mit dem Bruder und dem gesessen hatte, den sie in Riga grüßen ließ. – 308


2.

Eines Abends kam Ferdinand in Riga an. Er hatte in Heidelberg seine Studien vollendet, und sollte jetzt eines reichen Banquiers Kinder erziehn. Deshalb war er hier, und schritt über die Schwelle des hell erleuchteten Hauses. Es war Theegesellschaft da, man nahm ihn vornehm freundlich auf, der Banquier machte ihn mit seiner Familie bekannt. Die Frau vom Hause hatte ein eitles aufgeblasenes Gesicht, es war viel Schönheit in den Formen, aber eine gewisse Unordnung in dem Zügen, sie behandelte Ferdinand mit jenem Gemisch von Kaufmannsdünkel, Geldstolz und halbgebildeter Artigkeit. Ihr Anzug war reich, aber ohne Geschmack, die Toilette üppig und frei. Hinter ihr, zum Theil auf ihre Schulter gelehnt stand die älteste Tochter Emilie, und sah den Ankömmling neugierig mit ihren brennenden Augen an. Das Mädchen trat eben in's Alter der Jungfrau, wie junger Reif lag ein frisches Verlangen auf den festen jugendlichen Formen, auf dem kecken Roth der Gesundheit. Sie hatte rabenschwarzes Haar und schwarze Augen, und war schon so groß wie ihre Mutter. Ferdinand sollte sie französisch und Musik lehren. Sie fiel wie Feuer in seine Augen, und er sah sie mit leuchtenden Blicken an. Die Mutter begegnete seinen Blicken und lächelte. Man fragte ihn, ob er vorlesen könne, und gab ihm Goethes Stella.

309 Ferdinand las, Emilie saß neben ihm, er fühlte ihren Athem, ihre Augen auf den Buchstaben und las heiß und leidenschaftlich. Das Mädchen hörte mit großer Theilnahme zu, und nach den Akten war sie erhitzt und holte tief Athem und lächelte dem Leser dankbar in die Augen. Die Mutter applaudirte, der Papa ging langsam im Nebenzimmer auf und ab, und sprach leise mit einem Fremden über Geschäfte. Nur zuweilen blieb er in der Thür stehn, und sah die Gruppe an, aber man konnte leicht unterscheiden, daß er auf Stella nicht höre. Zwei jüngere Brüder Emiliens waren bei Beginn der Lektüre von der Mutter entfernt worden, weil das Buch nicht passend für sie sei.

Als das Buch zu Ende war, glühte Ferdinand, und war sehr glücklich. Die Mutter trat nahe an ihn heran, lächelte zutraulich, und meinte, es sei charmant, daß er so hübsch und mit so viel Gefühl lese. »Ach ja!« setzte Emilie schnell dazu, und stand mit niederblickenden Augen sinnend neben ihm.


3.

Am folgenden Tage traf Ferdinand auf der Straße seinen Universitätsfreund Richard, und die Freude war groß, sie hatten mit einander studirt, und Richard war einst in den schönen Pfingstfeiertagen mit 310 Ferdinand nach Haus gereis't, hinaus an den Rhein in jenes kleine Städtchen, wo es still und hübsch ist, und wo Mathilde vor der Thür saß, und ihrem Bruder einen bunten Studentenbeutel stickte. Im Frühlinge, da kamen die Blumen all, und auch die Liebe, und Richard hatte Mathilden geküßt, eh' die lustigen Freunde wieder von dannen zogen, es war große Freude draußen am Rhein gewesen. Später war er wieder gekommen, und war Arm in Arm mit dem lieben Mädchen spazieren gegangen, und die Leute hatten gesagt: das ist ein schönes Paar, Vater und Mutter aber hatten sie gesegnet. –

Jetzt richtete Ferdinand Mathildens Gruß und Sorge aus, und Richard fragte zurück, wie es ihr ginge. Darauf ließ er sich von Ferdinand in das Haus des Banquiers einführen. Er spielte besser Klavier als jener, und übernahm zum Scherz und aus Freundschaft die Musikstunden für Emilien. Die Mutter war es zufrieden, denn Richard war ein sehr artiger Mann, und ein geliebter Gesellschafter in Riga; er hatte so viel Verbindliches, und war auf dem besten Wege, eine glänzende juristische Karriere zu machen. Der Banquier machte ihm sehr freundliche Verbeugungen und Ferdinand stieg im Preise, daß er so respektable Konnexionen besäße.

In den Morgenstunden unterrichtete Ferdinand Emilien und ihre Brüder, die Mutter schlief da noch, 311 oder machte Morgentoilette, der Vater hatte Geschäfte und ließ sich auch niemals sehn.

Ferdinand lehrte Alles so innig und eindringlich, daß Emilie die Stunden immer lieber gewann. Wenn nach Tisch die Eltern ausfuhren, blieb sie jetzt immer zu Hause, um bei den Stunden ihrer Brüder zuzuhören, und selbst noch Manches mitzulernen. Wenn die Sonne schien, ließ Ferdinand die Knaben in den Hof springen, und der Winter begann zu scheiden, die Sonne schien oft.

Da sprachen sie stille, herzliche Dinge mit einander, Ferdinand und Emilie. An einem solchen sonnigen Nachmittage war's, als er sich ein Herz faßte und sie bei der Hand nahm, und die frische, pulsierende Hand heiß und lebhaft küßte. Sie legte in Freude und Schreck zusammenschauernd die andre Hand auf die seine, und sie sahen sich endlich in die Augen, und fielen sich in die Arme. Es begann ein Küssen und Drücken, sie wußten nicht, wie ihnen vor Seligkeit geschah.

Da stieß ein Frühlingswind das Fenster auf, das nach dem Hofe ging, einer der Brüder unten rief. »Kuckuck,« und sie sprangen erschreckt tiefer in die Stube.

Ferdinand sagte im Taumel seines Glückes zu Emilien, er wolle den Vater, sobald er nach Hause komme, bitten, ihm seine schöne Tochter zur Frau 312 zu geben. Gestern habe er Briefe vom Rheine bekommen, und die Pfarrstelle in seiner Vaterstadt sei ihm angetragen. Emilie küßte ihn dafür, der Wagen fuhr vor, sie sprang in den Hof, um den Bruder von losem Geschwätz abzuhalten. Ferdinand ging hinter dem Banquier her, und bat um eine Unterredung.


4.

Richard war im Hofe und spielte mit den Buben. Der älteste erzählte ihm, was er heut gelernt, und wie lange er jetzt schon gespielt habe. Als Richard nach Emilien fragte, antwortete er ihm leise, sie küßte sich eben mit Herrn Ferdinand.

Darauf ging Richard eiligst zur gnädigen Frau vom Hause, und Ferdinand war kaum beim Banquier eingetreten, so erschien auch jene mit zornflammendem Gesicht, und unterbrach den Vortrag Ferdinands, welcher eben begonnen hatte. Halb zu ihm, halb zu ihrem Manne gewendet, sagte sie mit schneidenden Worten, daß der Herr Hauslehrer sich Vertraulichkeiten mit seiner Schülerin erlaube, welche sich durchaus nicht schickten.

Mühsam schob Ferdinand dazwischen, daß er eben den Vater aufgesucht habe, um Emiliens Hand zu erbitten. Da schrie die Mutter laut auf, höhnisch und 313 schneidend, der Vater aber, welcher bis dahin nur mit halbem Auge aufgesehen hatte, sah ihn plötzlich groß an, runzelte die Stirn, und sprach mit fester Stimme: »Mein Herr, davon kann nicht die Rede sein.« – –

Auf dem Korridor fand der zurückkehrende, zerschmetterte Ferdinand Emilien, die in Freude, Liebe und Angst bebend seiner harrte. Er reichte ihr die Hand, und sagte ihr mit weicher, von heftigem Schmerz bewegter Stimme, daß Alles verloren sei. Sie fiel ihm um den Hals, überschüttete ihn mit heißen Thränen und Küssen.

»Laß uns nach Teutschland fliehn!« bat sie.

»»Du willst?««

»Ich will Alles, was mich mit Dir vereinigt, ich liebe Dich sehr.«

Und nun besprachen sie, wie das zu beginnen sei, denn es war nicht wahrscheinlich, daß man Ferdinand noch länger im Hause dulden werde. Thüren wurden geöffnet, sie waren nicht sicher an dem Orte, und verabredeten ein Rendezvous. Emilie wollte sich den Schlüssel zum Gartenhause verschaffen, dort würden sie, wenn Alles im Hause schliefe, das Nöthige besprechen.

Sie schieden unter Küssen, ermuthigt durch ihre Pläne.

Denselben Abend war Thé dansant im Hause. 314 Emilie erschien geschmückt, und war ausgelassen und schön und lachte und scherzte und tanzte wild und lustig, vorzüglich mit Richard. Ferdinand stand in einem Fensterwinkel, und sah ihr mit Entzücken zu; seine Seele war mit der Liebe für das schöne, frische Mädchen und mit Besorgniß wegen der Flucht erfüllt. Er tanzte nicht. Als sich die Gesellschaft trennte, flüsterte sie ihm zwei Worte in's Ohr, und eilte auf ihr Zimmer.


5.

Es war eine mondhelle Nacht. Die Gartenthür knarrte, und eine verhüllte weibliche Gestalt huschte unter dem Schatten der Bäume hin. Es war Emilie. Ferdinand schlich drüben an der Gartenmauer entlang. Sie mußten vorsichtig sein, denn der Mond schien verrätherisch klar, und in des Vaters Schlafzimmer, was auf den Hof herausging, war noch Licht. Plötzlich schrie Emilie laut auf – rücksichtslos sprang Ferdinand über die Beete herbei. Sie zitterte am ganzen Körper, und deutete auf eine dunkle Stelle des Gartens, von dort habe sie ihren Namen nennen hören. Rücksichtslos ging Ferdinand auf die Stelle los – er fand nichts. Sie gingen in's Gartenhaus, und küßten sich, und kamen in Folgendem überein: Ferdinand sollte aus dem Pavillon, der in's Freie führte, sogleich nach dem Hafen eilen, 315 zwei Plätze auf einem Schiff bestellen, und dann an denselben Ort zurückkehren. Emilie werde ihre Habseligkeiten und Kostbarkeiten zu einem Bündel schnüren, und ihn reisefertig erwarten.

Ferdinand geleitete sie erst zurück in's Haus, nahm seinen Mantel um, steckte ein neues Testament in die Tasche, und ging. Am Hafen war's still, ein Schiffer schlief auf dem Damme. Er weckte ihn, und begann seine Unterhandlung. Der Schiffer blieb liegen, stemmte seine Arme unter, ließ ihn ausreden, stand dann auf und ruderte, ohne ein Wort gesprochen zu haben, Ferdinand hinüber an's Schiff. Der Kapitain ward gerufen, das Geschäft war bald abgemacht, um 6 Uhr wollte das Schiff in See gehn. –

Ferdinand eilte zurück, fand Emilien harrend, und trat den Weg zum Hafen mit ihr an. Sie wollte immer bemerken, daß ihnen in weiter Entfernung eine Figur gleichmäßig folge, aber Ferdinand nannte es Träumerei. Erst am Hafen schien es auch ihm, als folge ihnen Jemand, das Boot, was sie übersetzen sollte, zögerte, er ward unruhig. Drüben von den Häusern her näherte sich eine Figur. –

Aber das Boot war da – sie segelten hinüber, und bestiegen das Schiff. Beide holten tief Athem und fühlten sich in Sicherheit. 316


6.

Es war noch nicht Tag, da begann eine große Verwirrung im Hause des Banquiers. Ein Mann, in einen langen Mantel gehüllt, hatte heftig an der Hausthür geschellt, und darauf bestanden, den Herrn vom Hause augenblicklich sprechen zu müssen. Der Wagen des Banquiers rollte nach dem Polizeihause, die Polizei eilte bald darauf nach der Richtung des Hafens hin.

Der Dreimaster hob eben die Anker, in Riga schlug es sechs, als der Polizeihauptmann auf einem Boote am Schiffe ankam, und im Namen des Kaisers den Kapitain zu sprechen verlangte. Die Matrosen schrieen, die Anker würden gelichtet, es sei zu spät, »Im Namen des Kaisers« klang es verhängnißvoll in das Gewirr. Der Kapitain kam.

Bald darauf sah man Emilien und Ferdinand die kleine Schiffstreppe herab klettern in's Boot. Richard, der in seinen langen Mantel gehüllt, auf dem Steindamme stand, führte Emilien an des Vaters Wagen, hob sie hinein, küßte ihr die Hand, und rief dem Kutscher zu, nach Haus zu fahren.

Ferdinand ward in's Gefängniß gebracht, und es begann ein Kriminalprozeß.

In den ersten Tagen hatte Emilie oft geweint; Richard war aber redlich bemüht, sie zu trösten.

317 Nach einiger Zeit sagte man ihr, Ferdinand sei nach Teutschland entlassen und die Sache sei aus.


7.

Draußen am Rhein in dem kleinen Städtchen blieben nun auch die Briefe von Ferdinand aus, denn Briefe von Richard erwartete man schon nicht mehr. Mathilde war sehr blaß geworden und noch ernsthafter als früher. Eines Tags sagte sie dem Vater, sie wolle mit der Post nach Riga reisen, Ferdinand sei gewiß krank und habe in der Fremde keine Pflege. Der Vater sagte nichts, und machte ihr das Reisegeld zurecht. –

– In Riga hörte sie auf der Polizei, Ferdinand sei nach Sibirien transportirt worden. Sie weinte nicht, sondern traf Anstalten, nach Petersburg zu reisen, um dem Kaiser einen Fußfall zu thun. Als sie nach dem Hafen ging, um einen Platz auf dem Schiff zu bestellen, ging ein eleganter Mann vor ihr her, der ein teutsches Lied sang, was man bei ihr zu Hause am Rheine oft zu singen pflegte. Sie ging etwas schneller; vielleicht hatte der Mann Ferdinand gekannt. Er wendete sich um. Mathilde stand still wie eine Bildsäule, sie kannte den Mann; er hieß Richard. Er kannte aber sie nicht, und ging weiter, und trällerte sein rheinisches Lied. 318


8.

Mit vieler Mühe war sie in Petersburg zur Audienz gekommen, mit vieler Mühe hatte sie ihres Bruders Begnadigung erhalten. Jetzt fuhr sie über die weite Eisfläche Sibiriens hin, sie hatte schon viele hundert Werste zurückgelegt, das Städtchen lag vor ihr mit seinen Hütten, wo sie Ferdinand finden, ihm seine Befreiung ankündigen würde.

Man trug eine Leiche an ihrem Schlitten vorüber, und als sie in den Ort kam, erfuhr sie, daß es Ferdinands Leiche gewesen war. –

– Mathilde weinte nicht. Sie wollte zurück nach dem Rheine; um ihre alten Eltern zu pflegen. –

– In der Nähe von Riga begegnete ihr eine schöne Equipage. Der Kutscher des schönen Wagens fuhr heftig gegen einen Stein, es krachte ein Rad, die Darinsitzenden stiegen aus, der Postillon, welcher Mathilden fuhr, hielt still, um dem Kutscher behilflich zu sein.

Der Herr und die Dame, eine junge schöne Dame, baten Mathilden, sie mitzunehmen nach der nahen Stadt. Mathilde erkannte den Herrn, und ließ ihren Schleier über das Gesicht fallen, es war Richard. Er saß ihr gegenüber und scherzte mit ihrer Nachbarin. Die Nachbarin war aber seine junge Frau, und als sie nach Riga kamen, sagte ihr der Postillon, die 319 junge Frau wäre die Tochter eines reichen Banquiers, welche einmal mit einem jungen Teutschen hätte fortfahren wollen.

Mathilde sagte nichts, und fuhr weiter nach Teutschland hinein.


In diesem Augenblicke hielt der Wagen vor dem Posthause in Zwickau. Man leuchtete mit einer Laterne hinein, und ein Lichtstrahl fiel über die Erzählerin. Ich erbebte wie zum Tod erschrocken: Das waren die verstorbenen großen Augen Mathildens, auf diesen blassen edlen Zügen lag die ganze Leidensgeschichte des unglücklichen Mädchens aus jenem Städtchen draußen am Rhein. Ach, es schien mir ein erschreckliches Unglück auf diesen todtgeweinten Mienen still und stolz zu ruhen, lange, lange schon mochten es keine Thränen mehr befeuchtet und geschmeidigt haben. Ein strenger Weibesschmerz sah heraus, trocken war das Auge eines Mädchens nach solch trauriger Geschichte. Meine Nachbarin, an welche die Erzählung gerichtet worden war, bedeckte das Gesicht mit dem Taschentuche und schluchzte innig, und die erschütterte Seele drängte sich in den bebenden Körper heraus.

Bei Erzählung solches Unglücks konnte nur ruhig und thränenlos sein, wer das Unglück selbst erlebt hatte.

320 Keinen Augenblick zweifelte ich mehr, daß es Mathilde selbst sei. Ich hob sie aus dem Wagen, ihre Hand, ihr Arm war kalt, sogar ihr Athem, der mich berührte, schien keine Lebenswärme mehr zu haben. Es war eine hohe Gestalt. Sie vergaß mir zu danken, und reichte stumm der nach ihr kommenden weinenden Freundin die Hand. Als diese beim Heruntersteigen beide Hände bedurfte, und einen Augenblick das Tuch vom Gesicht nahm, sah ich auch ihr Gesicht – ich war versteinert von den verschiedenartigsten Eindrücken. Es war der schöne Mädchenkopf aus Altenburg, es waren die verweinten Augen, die schmerzlich verzogenen Züge meiner kleinen Heidin aus Sprottau.

Umsonst hatte ich sie gesucht, ohne es zu ahnen hatte ich eine Poststation neben ihr selbst gesessen und mit ihrem Bilde geschwelgt, und jetzt weinte sie und war schmerzerfüllt; ich konnte sie nicht anreden, wenn es mein Leben gerettet hätte, sie gehörte dem Schmerz und Mathilden.

Mein Weg führte über Schneeberg, der Postwagen ging aber gerade fort über Plauen nach Baiern hinein. Eh' ich meine verwirrten Affekte geordnet hatte, waren die Reiseeffekten geschieden, die Mädchen fuhren von dannen, ich hatte nicht den Muth gehabt, ein Wort an sie zu richten, hinaus in die Nacht fuhr 321 das Mädchen mit dem süßen Gesicht meiner Jugendliebe.

Ich stand schmerzlich bewegt, voll Trauer und Sehnsucht im Thorwege, und sah der Laterne des Wagens so lange nach, bis sie verschwand.

All' die süßen Liebesschauer aus der Sakristei, all' das Liebessehnen der frischen Jugend ging durch mein Herz – ich hatte ein altes Gedicht gelesen, und hätte wie damals als Knabe bitterlich weinen mögen, daß es zu Ende war. 322

 


 


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