Heinrich Laube
Reisenovellen - Band 1
Heinrich Laube

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Anhalt.

So saßen wir uns denn gegenüber im Wagen, es war noch morgendunkel, und ich wußte nicht, mit wem ich führe, ich war noch schlaftrunken, und konnte mich kaum besinnen, warum und wohin ich reiste. Manche Leute, wenn sich ihnen das Leben dehnt, und sie nicht recht wissen ob sie sich wohl oder übel befinden, suchen sich einen Weinkeller, um auf andre oder überhaupt auf Gedanken zu kommen, ich suche mir bei solcher Gelegenheit einen Wagen und einen Kutscher. Die teutschen Lohnkutscher sind eine wichtige Klasse von Diplomaten, die nicht leicht irre zu machen sind. Ich verblüffe sie aber immer, wenn sie sehen, daß es mir einerlei ist, nach welcher Richtung ich reise, diese Art Poesie ist ihnen zu hoch und zu dumm. Mit dem genialsten dieser Privat-Postmeister pfleg ich zu fahren. Ich streckte den Kopf zum Wagen hinaus, und bemerkte an den Himmelszeichen, daß wir 48 nach Norden fuhren. Unglückliche Genialität des Lohnkutschers! Ich liebe den Norden gar nicht. Ich bemerkte ferner an meinem Rückwärtssitzen, daß Frauenzimmer mit mir im Wagen seien. Das war mir sehr angenehm, denn ich liebe die Frauenzimmer, und möchte nicht acht Tage auf der Welt sein, ohne welche zu sehen. Es war aber Alles still und nichts zu entdecken, ein verrätherischer Husten schlug indessen die Hoffnung auf mein vis à vis nieder, selbiges hustete laut und grämlich, der kalte Morgenwind strich durch den schlecht verwahrten Wagen, ich holte ein großes Umschlagetuch aus meiner Reisetasche, was mir ein weiches Gemüth einst geschenkt hatte; es sind ägyptische Hieroglyphen darauf, und ich mache im Zwielicht oft bei seinem Anblick einen Kursus meiner historisch kabbalistischen Studien. Wenn ich das Wort Abraxas ausfindig gemacht habe, denk' ich an die Theologie und ihre neuesten Helden, und schlafe ein, und Tholuck segnet mich, und Wegscheider segnet mich, und Beides ist mir vollkommen egal. – So schlief ich auch hier ein, und erwachte erst, als die Sonne mir hell in's Gesicht schien. Eine alte Dame, die natürlich nicht schön war, und eine junge Dame, die gar nicht war, saßen mir gegenüber. Die junge nämlich war verschleiert. Ich machte mein Kompliment, wurde aber ignorirt. Mein Umschlagetuch mit ägyptischer Poesie hatte mir wahrscheinlich 49 abenteuerlichen Kredit verschafft. Ich trug Beides standhaft, und weil ich noch fror, blieb ich in Aegypten, und holte mir ein Buch aus der Tasche, um der Gesellschaft durch Lesen zu imponiren. Glücklicherweise war es ein französisches; tolle Geschichten von Herrn v. Balzac standen drinn. Nun ließ ich zuweilen nachlässig die Hand sinken, damit man die fremdartigen Lettern sehen könne, man mußte bemerken, daß ich Glacéhandschuh trüge, ich verfehlte auch nicht zuweilen nach der Lorgnette zu greifen und die uninteressante Gegend zu betrachten. Kurz, ich that Alles, um meine Reputation, die allem Anscheine nach auf dem Spiele stand, wieder herzustellen, und sah nun ernsthaft in den Balzac, da ich das Meinige gethan zu haben glaubte.

 

Herr v. Balzac ist des Abends ein geistreicher Taschenspieler, der unsre Nerven mit barocken Dingen zu beschäftigen versteht, in der Morgensonne ist er eine pudelnärrische Fratze, und seine entsetzlichsten Dinge sind lächerlich. Wer des Morgens Gespenstergeschichten mit Illusion lesen kann, der ist selbst ein Gespenst, des Morgens ist die Natur rationell und nüchtern, namentlich auf den Leipziger Blachfeldern; ein leidlich vernünftiger Mensch kann des Morgens nicht einmal romantisch sein, wenigstens nicht vor dem Kaffee. –

50 Den Vorposten, die alte Dame, hatte ich schon gefangen: sie fing an zu sprechen über den schlechten Wagen, die langsamen Pferde, die rauhe Witterung. Ich gab ihr Alles im Superlativ zurück, die Witterung sei sehr rauh, der Wagen unverzeihlich, die Pferde gingen nicht von der Stelle. Nun wußte sie, daß ich ein sehr wohlerzogener Mensch sei; ich nahm auch meinen verdächtigen Shawl ab und hüllte mich vornehm in den Karbonari. Sie rückte auf dem Sitze, und sprach etwas hochteutscher: Sie reisen wohl auch nach Magdeburg? Ich erschrak, als ich hörte, daß es dorthin ging: von der Universität aus brachte man immer unsre Demagogen auf die Magdeburger Citadelle und ich hatte mich früher auch mit Demagogie beschäftigt, ich hatte »das Wartburgsfest« und »Haupt« und »Herbst« »über Burschenschaft und Landsmannschaft« gelesen, ich hatte eine schwarz und rothe Mütze getragen, und dito Pfeifenquasten – das Gold war auf der Universität streng verboten – ich war sogar einmal beim alten Jahn gewesen. Aber es war Morgen, die Gespenster hatten keine Gewalt über mich, und ich nahm alle Kraft zusammen und sagte: Aufzuwarten, ich reise auch nach Magdeburg.

»Es ist wohl nicht wahr, daß die Cholera in Magdeburg ist?«

Das ist gewiß nicht wahr, in eine königlich 51 preußische Festung, in welcher königlich preußische unsterbliche Soldaten sind, wagt sich die Cholera nicht.

»Giebt es denn wirklich unsterbliche Menschen?«

Ei ja wohl: die Könige von Frankreich, die Landgeistlichen, die Solotänzer, die ersten Sängerinnen, die Poeten und die Gardeofficiere sind alle durch die Bank unsterblich.

»Je, was Sie sagen! Wie sehen denn eigentlich die Unsterblichen aus?«

Grau.

»Ganz grau?«

Ganz grau.

Hier hustete die verschleierte Dame, und ich fragte sie nach ihrem Befinden. Sie murmelte unbefriedigenden Bescheid. Die ältere, welche durch ihren großen Hut verhindert wurde, sich umzusehn, erkundigte sich nach der Gegend. »Es ist hier gar keine Gegend,« erwiederte ich ihr, und sie beruhigte sich.

Die jüngere ward nun allmählig etwas regsamer, sie zog den Handschuh aus, und machte sich unter dem Schleier an ihren Locken zu schaffen; die Hand war nicht allzuklein, aber voll, fleischig, weiß und schön. Sie lüftete einen Augenblick den Mantel, um eine Nadel festzustecken, ich durfte einen Blick auf die Figur werfen, sie war ebenfalls schön, hoch und voll. Nach diesen kleinen Entwickelungen ihrer Streitkräfte zog sie sich wieder in die frühere unangreifbare 52 Stellung zurück. Aber die Alte wollte schwätzen, und verwickelte sie in ein kleines Vorpostengefecht. Sie schienen mit einander verwandt zu sein; ich flog als Parlamentair hin und her. Endlich lüftete sie ihren Schleier, und gab sich Mühe, recht unbefangen dabei auszusehn. Das Gesicht war hübsch rund zum Küssen geformt, und von angenehmem, nördlichem Fleische gesättigt, die Augen waren groß, und wenn auch ein wenig leer, doch nicht ohne Sinnlichkeitsschmelz. Für die zufällige Begleitung im Lohnwagen war's eine glänzende Acquisition.

Wer mit dem nordteutschen Lohnkutscher fährt, rechnet nicht sehr auf Diskretion, man kann nicht lange verbergen, wer man ist. Dies Mädchen oder die junge Frau – die Conturen um die Augen waren so zweifelhaft, unsicher – versteckte sich wie eine Schnecke, sobald sie berührt wurde. Neben mir saß ein junger Mensch, der bisher geschlafen hatte und jetzt beim Erwachen eine ächte nordteutsche Grobheit entwickelte, die man gewöhnlich Geradheit und Biederkeit nennt. Er fragte ohne Weiteres, wo sie her wäre, und was sie sei.

Er hatte sich keiner Antwort zu erfreuen, und damit es nicht still würde, fing er an zu singen. Ich wußte aber genug, denn ich wußte nun, daß sie eine Schauspielerin sei. So derb verbarg sich keine andre; ich bemerkte nun auch, daß Shawl und Mantel von 53 sehr bunten Farben, und ihre Haare auf das modernste, wenn auch nachlässig, frisirt waren, ich sah, daß sie ihre Halskrause schon mehrere Tage im Stillen trug. Auch war ihre Frühstücksemmel, welche sie eben zum Vorschein brachte, in Müllners Schuld gewickelt. Das war der gestrige Theaterzettel.

»Würden Sie lieber die Elvira oder die Jerta spielen?« fragte ich mit einem Blicke auf die Buttersemmel. Sie ward glühend roth, ich wußte, wie klug ich sei. Uebrigens entschied sie sich, wenn sie eine spielte, für die Jerta; Elvira sei zu leidenschaftlich.

»Was halten Sie von der Leidenschaft?« fragte ich die Alte. Sie schämte sich, und meinte, ich solle den Anstand nicht verletzen. – Wir kamen an's preußische Zollhaus, und mußten uns visitiren lassen. Fräulein Jerta war in großer Verlegenheit, als sie der Preuße bat, den Mantel zu öffnen, und fragte, ob sie vielleicht etwas Steuerpflichtiges am Leibe trage. Zum Zeichen, wie weh ihr dies that, fuhr sie mit der Hand an's Herz. Der Visitator schüttelte den Kopf; die teutschen Schauspielerinnen sind entweder frivol oder prüde, sie finden selten eine bürgerliche Mittelstraße. Das ist aber natürlich: man erwartet sie nicht bei ihnen, und was man nicht erwartet, findet man selten. Der Charakter ganzer Stände ist 54 wie der Modekaufmann: einen Artikel, nach welchem nicht gefragt wird, führt er nicht.

Auf dem Schooße Fräulein Jerta's fand sich im weiteren Verlaufe der Fahrt ein dicker Quartant ein. Ich erkundigte mich, und sie lispelte schüchtern: Es ist mein Lieblingsschriftsteller Heinrich –

– Der Lohnkutscher zerriß den Namen, und fragte, ob er den kürzeren Weg durch den schwarzen Boden über Calbe fahren dürfe, in Calbe sei sie aber –

Wer denn?

Nu, die Cholera!

Ich war in süßer Erwartung, ob die sanfte Schauspielerin vielleicht meine Schriften so verehre, mein zarter Vorname hatte mich elektrisirt. Darum entschied ich despotisch ohne Zuziehung des Parlaments die Reisefrage, und hieß den Kutscher in Teufels Namen über Calbe fahren.

»Also Ihr Lieblingsschriftsteller Heinrich« –

»»Zschokke««

Mein Herz war erkältet, aber ich überlegte mir bei Zeiten, daß von meinen verführerischen Schriften noch nichts gedruckt sei. Sehr unbefangen und gründlich setzte ich ihr indeß auseinander, daß sie mit einem sittengefährlichen Schriftsteller verkehre. Ich erklärte ihr den feinen Materialismus Zschokke's, der wie Gift in die Poren dringe, die Sinne allerdings 55 schmeichelnd befange, aber Alles Höhere im Menschen verzehre.

Sie war sehr erschrocken, und gab Zschokke für einen äußerst moralischen Schriftsteller aus, den sie eben darum so gern gelesen. Ich versicherte sie ihres Irrthums, und fragte, ob sie wohl eine große Idee nachweisen könne, die er in ihr angeregt habe. Darauf sprach sie große Worte, Houwald und Müllner waren die Quellen, aber es war keine Idee von einer Idee darin. Ich nahm ihren Müllner-Houwald'schen Worten die weiche, lange Allongenperrücke und die gefährlichen Mäntel ab, und sagte ihr, das seien nur Dinge für Lampen und Bretter, und sie ward wieder roth, und sagte am Ende, es wäre möglich daß ich Recht hätte, aber es wäre schrecklich. Dabei verlor Zschokke seinen Platz auf ihrem Schooße. Mit Bedauern erzählte ich ihr, wie sehr man allgemein ihren Irrthum theile, und wie namentlich Zschokke von Gymnasiasten gelesen und bewundert würde, die eine weichliche Freiheitsliebe daraus erlernten, und später egoistische, haltlose, schlechte Bürger würden.

Die Alte war sehr unruhig geworden wegen der Cholera in Calbe, ich ließ aber ihre Unruhe nicht zu Worte kommen, sondern trug über Anhalt vor.

Anhalt ist das Land der Hasen, der Mittelmäßigkeit und des Obstes. Gleich und gleich gesellt sich gern. Die Hasen sitzen in ganzen Friedensheeren 56 unter den Anhaltinern, und halten große Herbstlager und Manövers ab, und wenn man die Flinte bei zugedrückten Augen losschießt, so trifft man doch einen Hasen. Der ganze Ausdruck des Landes und der Bewohner ist so mittelmäßig ausdruckslos, daß er auch nicht den kleinsten Gedanken erzeugt. Die Lüneburger Haide hat doch einen Charakter, aber Anhalt mit seinen Bewohnern ist ein verwischtes Löschpapiergesicht. Das Land ist sehr fruchtbar, die Menschen sind's auch, es ist ein gesegnetes Land. Aber es ist ein Land ohne Kourage; es giebt eine gewisse Wohlhäbigkeit, die alle Spannkraft mit weichem Fleisch oder Fett bekleidet und erstickt. Wenn man ein Gesicht sieht, was von Haus aus wohlgebildet ist, das aber langweilig aussieht wie eine leere Landkarte von Afrika, wo die Augenlieder schlafsüchtig die halben Augen bedecken, so kann man immer von vornherein vermuthen, es gehöre einem Anhaltiner. Sieht man dabei noch müde, schläfrige semmelblonde oder braunblonde Haare, die sich gern krausen möchten, aber nicht Mark dazu haben, eine kraftlose längliche Figur, bei der die Schulter schmal und die Haltung schwach ist, so ist das Anhalt, und noch einmal Anhalt.

Die Leute dort sind nicht dumm, sie sind nicht faul, nicht schlimm, aber sie sind mittelmäßig. Das Stück Teutschland vom Harze südöstlich aus bis 57 an die sächsischen und schlesischen Gebirge hat die Natur nach Tisch geschaffen, es ist ein reizloses Verdauungsland. Die Anhaltiner sind fast so höflich wie die Sachsen, aber ihre Höflichkeit ist Schwäche, ich glaube, sie haben kaltes Blut wie die Fische.

Wenn man bedenkt, daß Wilhelm Müller, der liebenswürdige Waldhornist, aus Dessau ist, so schätzt man sein Talent noch einmal so hoch. Dessau ist der hübscheste Kirchhof in Teutschland, und wenn es nicht noch muntre Judenmädchen dort gäbe, so hörte man den ganzen Tag über nicht ein Wort. Es hat sehr anmuthige Familienbegräbnisse: den Park beim Schlosse, das Luisium und Georgium, und wenn man einen ganz aparten Gottesacker sehen will, so geht man einen schattigen Weg einige Stunden weit bis nach Wörlitz. Dort giebt es kleine Seen und Tempel und Raritäten, unter andern eine medicäische Venus, die schriftstellerisch dressirt ist, und auf einen Federdruck schamhaft erscheint. Damen werden dabei nicht zugelassen, die dürfen so etwas nicht sehen. Anhalt ist protestantisch, und wenn man eine schöne Frau lieben will, muß man mit ihr verheirathet seyn.

Alle Jahre wird einmal versucht, ob die Todten in Dessau aufgeweckt werden können. Die Hallischen Studenten nämlich halten es wegen der israelitischen Kolonie daselbst für einen klassischen Punkt 58 aus dem alten Testamente, und zwar für die Schädelstätte, wo Simson mit dem Eselskinnbacken gewüthet hat. Zu Pfingsten unternehmen sie ihren Kreuzzug gegen die todten Philister, und kommen in großen Schaaren zu Fuß von Halle nach Dessau gewandert, mit großen Mäulern und kleinen Beuteln, und machen einen Spektakel, daß jeder halbweg honette Todte davon aufwachen muß. Sobald sie sich aber überzeugt haben, daß in Dessau an keine Auferstehung zu denken ist, ziehen sie nach zween Tagen wieder ab, und singen sehr malhonett die alten Spottlieder gegen die leblosen Philister. Denn man soll Niemand angreifen, der sich nicht wehren kann. Und jenes gesegnete biblische Land der Philister ist in Teutschland Anhalt. Charakteristisch ist es, daß Matthisson lange hier gelebt hat.

Es ist das teutsche juste milieu, was manches Gute zum Vorschein bringt, aber nichts Großes. Sein Hauptrepräsentant in optima forma ist der ihm entsprossene Historiker Friedrich v. Raumer, Königlich Preußischer Regierungsrath und Professor in Berlin, wie auch weiland Censor und gelehrter Patriot. Aus seinem Gesicht und in seinen Schriften und in seinen Handlungen – denn er handelt mit der Geschichte – ist jenes Anhaltinische mittelmäßige Lächeln, was links und rechts kokettirt, und nicht süß und nicht sauer ist. Als ich 59 das Vergnügen hatte, ihm in einer Abendgesellschaft bei Herrn Brockhaus in Leipzig vorgestellt zu werden, entdeckt' ich sogleich die weichlichen, grün, roth und weißen Striche der Anhaltinischen Farben in seinem Gesichtchen, und erkundigte mich auf gut Glück, ob er nicht aus Anhalt sei. Er ist ein kleines, bewegliches, gläsernes Figürchen, womit man allerlei Rollen spielt zur Belehrung und Belustigung junger Mädchen. Ich habe gar nicht glauben können, daß der Mann für Männer zu schreiben habe, nachdem ich gehört hatte, wie er die Gesellschaft unterhielt. Die niedlichen Waden der Berliner Tänzerinnen hüpften in lüsternen Entrechats auf seinen Worten herum. Er ist auch ursprünglich ein belletristischer Schriftsteller, den sein Vater und die Dessauer gezwungen haben mögen, Geschichte zu schreiben, weil sie doch auch einen Historiker haben wollten. Dadurch hat man den Mann um seinen Ruhm bestohlen – man lese seine »Wilhelmine« in der Urania von 1833, und sage, ob ich Unrecht habe. Ist es nicht eine charmante liebenswürdig psychologisirende, reizend anspruchslos entwickelnde Novelle? Verräth der Verfasser nicht die beste Anlage zu solchen kleinen, rein gewaschenen Novellen-Gedanken. Man sehe in seine leider vergessenen »Briefe aus Paris« – steckt er nicht wie in der Zwangsjacke, daß er über Tagesgeschichte sprechen muß? 60 Die Toilette der Schauspielerinnen, die Beine der Tänzerinnen, die Postkutschen, das Wetter – wie sieht man sein Naturell aufathmen, wenn er das Alles der Madame Crelinger beschreiben kann? Das ist sein Fach. Hätte er das nicht verfehlt, so wäre vielleicht Dessau zu einem ausgezeichneten Manne gekommen. Ein kleiner teutscher Abbé mit gläsernen, fidelen Augen, der die Finger der Damen leckt, Stundenlang die interessantesten Strumpfbändergeschichten zu erzählen weiß, die Augen zudrückt, wenn eine Unanständigkeit unterläuft, und bloß mit Mund und Augenwinkeln lacht, eine neue Auflage der beaux esprits aus den Gemächern der Maintenon, die wie ästhetischer Kaviar herumpräsentirt werden, daß die stumpfen Kavaliere Appetit bekommen auf Küsse und Liebesallotrien. Ein kleiner, erfrorner Historiker mit rothgeleckten Wänglein und Naseneckchen, mit einem bis zur Farblosigkeit abgewaschenen, lichten Auge, ein Männlein zur Kurzweil, ganz und gar für Friedenszeiten, ein schlüpfriger, pikanter Theaterrecensent, affable, affable, charmant sogar, sonst nichts – ganz aus Dessau, ganz aus Anhalt, das ist Herr v. Raumer.

Er hat die unglücklichste Aehnlichkeit mit Johannes v. Müller: er schreibt mit großen Buchstaben, und spricht ganz dünn, und windet, streicht sich wie ein Kätzchen um seinen Herrn, und schnurrt, 61 wenn ihm Brei vorgesetzt wird, und ist mäuschenstill, wenn man ihm selbigen nimmt. Müller war ein kleiner, vollständiger, gesellschaftlicher Geck, der krummgebuckelt in Berlin herumlief. Das thut, glaub' ich, Raumer nicht: er sündigt negativ, und hat keinen schlechten Charakter, sondern nur keinen Charakter – ein kleines Hinderniß für einen Historiker. Er ist aus Anhalt.

»Leben und leben lassen«. Diese humane Indifferenz ist ganz Dessauisch, und dafür hat Raumer Alles geopfert, und, gutmüthig gegen sich selbst, ohne höhere, innere Religion, hat er sich's vergeben, was er sich und seiner Würde vergab. Er wollte einmal mit der Censur einen Anlauf nehmen, da streckte man ihm drohend aufgehobene Finger entgegen, und rief leise: »Willst du wohl« – »»ja so««, seufzte er, und ging nach Hause. Da kam er am Opernhause vorüber, man gab großes Ballet und Musikvergnügen, er ging hinein – damals hatte er noch sein Freibillet – und amüsirte sich deliciös, klatschte, und aß Eis. Und als er heim kam, erzählte er bloß vom sublimen Ballet, und hatte alles Andere rein vergessen.

Das ist der Professor der Weltgeschichte aus Dessau, in dessen Gesicht nur eine hübsche Klatschgeschichte um die andere steht. Der Mann hat wie ein ächter Anhaltiner gar keine Leidenschaften, 62 nicht für's Gute, nicht für's Schlechte, höchstens kleine, artige Passiönchen, die man auf die Finger schlägt, wenn sie unartig werden.

Heine erzählt von ihm, er habe ihn einige Königl. Preußische Amtsthränen weinen sehn, als er vom Tode Ludwig's XVI. gesprochen, und geht ihm mit unterschiedlichen Dolchkitzeleien an den Leib. Das sollte er nicht; solche Leute aus Dessau – es ist die Gattung aus den 100 Tagen, die Alles über sich ergehen lassen, die Dutzendmenschen – müssen in der Weltgeschichte vegetiren. Sie studiren mitunter Quellen und Kodices für uns, und sind in ihrer Gutmüthigkeit und Zahnlosigkeit doch immer besser, als tausend Andere. Wenn sie leichtsinnige Kompendien über »Recht, Staat und Kirche« schreiben, so muß man einmal gelehrt gegen sie auftreten, sonst aber nur dummes Zeug mit ihnen machen.

Außerdem ist hier Herr Ritter, nicht der Geograph, auch kein Philosoph, sondern ein Professor der Philosophie, in Dessau groß und in Berlin klein geworden, und einige gute Landschaftsmaler und viel gute Marqueurs sind aus Anhalt gekommen.

Zum Landschaftsmalen reicht Mittelmäßigkeit hin, reproduciren kann man mit einem guten Pinsel. Marqueurs widersprechen meiner Schilderung Anhalts nicht, denn sie sind gut, also nicht genial, sondern industriös.

63 Moses Mendelssohn hat ebenfalls nur das Geschick gehabt, in Dessau geboren zu werden; aufgewachsen ist er in Berlin. Man darf nur folgende Geschichte kennen, um darüber in's Reine zu kommen, daß er nicht aus Dessau war: Lessing, der gottverlassene Nicolai und er hatten eine Zusammenkunft anberaumt, in der sie über das Christenthum sprechen wollten. Der Tag kam, und es regnete heftig, Mendelssohn wollte nicht ausgehen, und schrieb an Lessing: »Da heut so schlecht Wetter ist, so wollen wir – wenn's Ihnen gefällig ist – die Verbesserung des Christenthums bis über acht Tage aufschieben.«

So schreibt kein Anhaltiner.

Es hat nur zwei geniale Männer hier gegeben: der eine war der Schuhsterssohn Wilhelm Müller, und der hatte auswärts singen gelernt, und starb bald in seinen besten Jahren an Dessau, als er zurückkam. Der zweite war aber der alte Dessauer mit dem Zopfe und den Kamaschen, und seine Genialität bestand darin, daß er alle Lieder, auch die Kirchenlieder, nach der Melodie des Dessauer Marsches sang. 64

 


 


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