Heinrich Laube
Reisenovellen - Band 1
Heinrich Laube

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Leipzig.

Die Straße von Halle nach Leipzig ist so zweifellos und uninteressant, daß sich auf ihr durchaus nichts ereignen kann. Und Leipzig hat auch die Merkwürdigkeit, daß man das Meiste darüber zu schreiben vermag, wenn man es nicht gesehen hat. Je länger man da lebt, desto weniger weiß man darüber zu sagen. Wenn man ein bürgerlich hübsches Mädchen sieht, so kann man allenfalls hinterdrein mit ihr schwärmen, falls man gerade nichts Besseres zu thun hat; kommt man aber öfterer mit ihr zusammen, so bleibt nichts Besseres übrig, als sie zu heurathen. Und von solch' einer Heurath weiß Niemand viel zu erzählen.

Ich wollte nach Paris reisen, und blieb in Leipzig, und schrieb über die teutsche Literatur und das Leipziger Theater, und wurde kein Revolutionair, wie meine Mutter hoffte, sondern leider ein solider Mensch, 181 der zwei und zwanzig Stunden auf seinem Zimmer ist, wenn's regnet; spaziren geht, wenn die Sonne scheint, vor jedem anständigen Menschen den Hut abnimmt, seine Miethe richtig bezahlt, und hoffentlich einen guten Ruf hat. Dieses ist aber die Hauptsache in Leipzig, denn die Stadt ist sehr gottesfürchtig und hat viel Religion, namentlich grassirt das sechste und siebente Gebot.

 

Das öffentliche Leben einer Handelsstadt sind die Course, die Preise der Waaren, der größere oder geringere Transito. Der Kaufmannsstand ist einer der nützlichsten, aber die Beschreibung seines Lebens ist die langweiligste, denn das Einmaleins ist seine wenig variirte Grundform, die Wechsel sind seine Poesie, aber nicht wirkliche Wechsel, sondern – nicht doch, wirkliche, richtige Wechsel. Die Poesie selbst, vorzüglich die romantische, ist sein baarer Gegensatz – von den Dichtern Phöniziens, Karthagos, des alten wimpelreichen Venedigs sogar, des reinlichen Hollands meldet uns die Geschichte nichts; ewig wiederkehrende Ordnung ist des Handels Grundlage, die der Poesie aber reizende Verwirrung, Abwechselung, bunte Unordnung. Dort der Vortheil, ein vertrockneter Gesell in dauerhaften Lederhosen, hier die Lust im bunten, fliegenden Gewande. Nur England macht im Einzelnen von den Handelsnationen 182 eine Ausnahme, im Ganzen ebenfalls nicht, denn seine Poesie gehört den Individuen, nicht der Nation.

In Leipzig hat man Zeit zu weitläufigen Exkursionen, die Novellen und Begebenheiten, welche Einem unter den Augen herumlaufen, sind so dünn und unscheinbar, daß man sie leicht übersieht. Vielleicht fallen später, wenn ich mein Gedächtniß umschüttle, ein Paar kleine Bettelgeschichten heraus; bis dahin halte ich's dem Charakter Leipzigs für homogen, mich in eine Parallele der teutschen Handelsstädte mit dem Handelsstande Englands zu vertiefen. Wenn die Lokrer zu den olympischen Spielen kamen, so sangen sie nicht von Lokris, sondern von sonst etwas, damit sie doch einige Aussicht hätten, den Preis zu erringen.

Es hat sich Vieles zusammengefügt, um in England mehr Poesie zu erzeugen. Die verschiedenartigen Bestandtheile des Landes, die abwechselnden Eroberungen, der große Besitz Einzelner, die dem Vortheile nicht mehr nachzujagen brauchen, der Torysmus, haben Viel dazu beigetragen, daß ein Handelsstaat wie England so reich an Poeten geworden ist. Und es wäre vielleicht ebenfalls niemals dahin gekommen, wenn sein Handel nicht erst der Schutzgeborne der letzten Jahrhunderte wäre. Alle Elemente englischer Poesie datiren von früher; Leipzig könnte höchstens seine Schlachtfelder daneben stellen, 183 und das verschmäht es. Ich habe alle Winkel dieser Felder von Breitenfeld bis Wachau, von Liebertwolkwitz bis Möckern und Waaren bei Sonnen- und Mondschein durchkrochen, nirgends erinnert ein Zeichen daran, daß hier Europas Schicksal zweimal gewendet, daß das ultramontane Römerthum, und das halbmodernde Franzosenthum hier besiegt worden ist. Und doch hält man viel auf die Konstitution, und den Protestantismus, und doch waren die Schlachten bei Leipzig immer protestantische Schlachten, die sogar noch mehr versprachen, als die —sche Konstitution. Nur bei Schönfeld, in dessen Nähe die sächsische Armee überging, und Bernadotte gegen seine Landsleute schießen ließ, steht noch ein zerschossenes Gebäude, was mit seinen offnen Wunden an die Schlacht der blutigen Octobertage erinnert, in welcher man um die teutsche Freiheit focht, und von welcher Kohlrauschs Geschichte für die Jugend erzählt, daß sie vorzüglich durch die Preußen, die Sachsen und Bernadotte gewonnen worden sei. –

Das zerschossene Haus bei Schönfeld, und Poniatowskis Denkmal im früher Reichenbachschen Garten, was jetzt für vier gute Groschen angesehen werden darf, sind die einzigen poetischen Erinnerungen Leipzigs an seine Schlachten. –

In Irland, dem alten grünen Erin, sang der Katholizismus, sang ein lebendiges trotz der 184 nördlichen Lage heißblütiges Volk schon von früh auf, die Davidsharfe ist sein altes Wappen und noch viele der heutigen Herren englischer Dichtkunst sind Irländer, wie Thomas Moore, der die Muthlosigkeit hatte, Lord Byrons Leben zu verfälschen. Der schwellende grüne Rasen, der duftige melancholische Nebel, die Einsamkeit der großen Insel, das ewige Meer, dessen Gunst und Willkühr das Land fortwährend Preis gegeben war, der gesangesreiche Katholizismus, dem das Volk sich schwärmerisch hingab, weil seine Nachbarn ihn verfolgten, die scharf geprüfte Nationalität, lange Zeiten politischer Unterdrückung – Alles das half den Iren dichten, ein über die gewöhnlichen Bedürfnisse des Essens und Trinkens erhöhtes Leben führen.

Nichts von alle dem wurde Leipzig. Seine Natur ist platt und gewöhnlich, mit Mühe werden ihr einige Gedanken anerzogen, kein Berg begränzt die Aussicht, und läßt Schönheiten jenseit seiner Höhe ahnen, keine Höhe gewährt einen weiten Blick, der in seiner unbestimmten Begränztheit Träume, Wünsche, schweifende Gedanken erregte. Man weiß, wohin man rings gehe und das Auge sende, man weiß, was man hat, es ist nichts zu hoffen, nichts zu fürchten, und Alles was fertig ist, wird prosaisch, nur das Werdende reizt.

Frühzeitig sind auch die besten Elemente des 185 Katholizismus ausgerottet worden, die Kinder sind schon im Mutterleibe vernünftig, und verstehen die vier Species, wenn sie auf die Welt kommen. Nichts blieb von jener Mystik mit den Engelsstimmen, denen der Bürger an trüben Sonntagen horcht, nichts blieb von den Gesängen mit den Zauberworten eines verhüllten Jenseits, nichts von dem Zauber der geheimnißvollen Kirchen. Die letztern sind protestantisch weiß angestrichen, und der Himmel ist aufgeklärt wie eine Wassersuppe.

Man erwartet sicherlich von mir keine Klage über das gestürzte Schicksal der Hierarchie, des Katholizismus, der in seiner Stabilität alle Vernunftthätigkeit aufhob, ich spreche nur von seinem, das Maaß überschreitenden Gegensatze, dem nüchternen Protestantismus. So wie die nächsten Schüler eines Meisters des Meisters Lehre am weitesten übertreiben, so ist der Umkreis Luthers, wo er sein Reinigungswerk begann, der Strich zwischen Elbe und Saale, am dürrsten protestantisch geworden. Da werden alle höheren Begriffe zu kleinen Nürnberger Holzpuppen gemacht, die man auf den Glasschrank stellen, allen Besuchern zeigen und bis in die kleinsten Theile erklären kann, man hat das ganze Bischen Religion auf einem Papierstreifchen in der Tasche, neuere Zehn-Gebote, meist Verbote, man weiß alle Poststationen, Meilensteine, Wirthshäuser 186 im Himmel auswendig, man weiß ganz genau, wie viel der Herr Petrus Trinkgeld verdient.

Man strotzt von moralischen Grundsätzen, von frommer Gewissenhaftigkeit. Und jede äußerste Richtung führt die Intoleranz an der Hand, und streichelt ihre grämlichen, runzlichen Wangen, der Zelotismus ist ihr Laufbursche. Da wird schonungslos geurtheilt über das, was aus dem breit getretenen Gleise herausschreitet, ohne Erbarmen verdammt; ein zelotischer Protestantismus ist schlimmer als die spanische Inquisition. Diese richtete die Menschen nur einmal hin, jener aber thut's alle acht Tage einmal. Weil jede Thätigkeit der Phantasie von vornherein abgeschnitten ist, bleibt auch keine übrig für Auffassung von Erscheinungen, die nicht in das gewöhnliche Rechnungsexempel gehören. Der Schauspieler und der Markthelfer werden nach demselben Katechismus gerichtet. Die Freiheit des Individuums geht unter, Alles wird Schema. Die meisten norddeutschen protestantischen Handelsstädte sind Lykurgs eingeengtes kastrirtes Sparta mit der schwarzen Suppe übelschmeckender Moral. Wie kann bei solcher zusammengeschnürten Gemüthsthätigkeit einer Stadt je das Herz warm aufgehen! Es ist auffallend, wie viel mehr Blut, Wärme, Leben in Städten gefunden wird, welche einem gemäßigten Katholizismus, oder einem mehr indifferenten Protestantismus 187 angehören. Bei heutiger Zeit, wo man mehr und mehr die dogmatistische Thorheit einsieht, in religiösen Dingen scharf zu bejahen und scharf zu verneinen, ist der sonst so tadelnswerthe Indifferentismus ein Fortschritt der Bildung. Das Pfaffenthum jeder Art, was allein Recht haben will, gehört zu den Emigranten und den alten Moden; und das dogmatistische Pfaffenthum ist ein weiter Begriff, alle supernaturellen Systematiker haben Platz darin.

Wollte ich jene Parallele mit Irland auch rücksichtlich der ausgeprägten Nationalität fortsetzen, so würde ich auch nicht viel Erfreuliches sagen können. Teutschlands Allgemeinbildung hat durch unsre Menge Natiönchen außerordentlich gewonnen, die dadurch immer wach erhaltene Eifersucht hat viele Thätigkeiten geweckt, der Grad von wissenschaftlicher Freiheit, den Teutschland noch immer gehabt, ist vielleicht nur dadurch erhalten worden, daß sich die verjagte in dreißig verschiedene Schlupfwinkel retten konnte. Aber das Wohlbefinden und Gedeihen der Einzelnen hat sicher dadurch gelitten – ich gedenke dessen hier natürlich gar nicht, was wir als politischer Körper dadurch eingebüßt haben, das weiß Gott und der Freiherr von Gagern am besten, oder richtiger der Freiherr von Gagern und der Herr Gott, denn der Freiherr von Gagern weiß Alles besser.

Wie viele Unarten sind durch diese kleinen 188 Nationalitäten erzeugt worden. Die Kleinstaaterei ist das Vorbild der Kleinstädter geworden; sie ist vielleicht der Ursprung des teutschen Philisterthums. Das Philisterthum ist aber ein ächt teutsch nationaler Begriff. Die Leute werden gewöhnt, ihren Ideenkreis nicht über einen kleinen Raum, oft nicht über ein Paar Meilen weit auszudehnen. Sie lernen in Duodezschrittchen leben und denken, und wenn man das auf die meisten Geistesthätigkeiten ausdehnt, so ist der Philister fertig; denn Philister ist eben der, welcher mit dem kleinen, ihm angelernten Maaßstabe Alles, auch das Größte, mißt. Und nah bei einander wohnen jene rationellen Thätigkeiten, wenn zehn Gedanken immer nur von Leipzig nach Dresden fahren, so thun es bald auch hundert. Und wie viel Menschen sind froh, wenn sie ihr ganzes Leben über nur zehn Gedanken gehabt haben, lebt doch hier ein stiller Schriftsteller, Ernst Ortlepp, schon mehrere dreißig Jahre von dem Gedanken, daß er ein verkannter Klopstock sei.

Ich habe lange nicht daran glauben können, daß ein kleiner Staat wie Sachsen sich so streng sächsisch erhalten, sich so bestimmt absondern könne von seinen Umgebungen, und doch ist es so. Es liegt nicht blos daran, daß die angränzenden Staaten unter andern Formen regiert werden, wie wohl das einen anders sich gestalteten Haß erzeugt hat, es liegt 189 ursprünglich nur daran, daß es keine Sachsen sind. Ist es doch zwischen Bayern und Würtemberg, ja zwischen den andern noch kleinern Staaten ähnlich. Wie wird dadurch der menschliche Geist, der unaufhörlich die Schwingen nach größerer Ausdehnung lüftet, zusammengedrückt. Es ist eine so eifersüchtige Familienwirthschaft in Teutschland, und unser Erbvater hat uns ein so verwickeltes Testament mit allerlei Kodicillen hinterlassen, daß kein fröhliches Zusammenleben abzusehen ist, bis einst über Nacht Belsazars Hand erscheint, und das alte Testament mit schwarz und rother Tinte ausstreicht.

Wir sollen Brüder und Schwestern bleiben in Teutschland, und nicht alle ein Gesicht bekommen, aber wir sollen eine einige Familie werden, die ein Herz hat.

Es bleibt mir noch Schottland, es bleiben die Eroberungen und der Torysmus übrig, mit denen ich beweisen soll, daß England, obgleich Handelsstaat, nicht so merkantilisch verkümmert sei, als teutsche Handelsstädte, namentlich Leipzig. Schottlands historische Erinnerungen und sein Hochland mußten das Herz frisch erhalten, und gestatteten nicht, daß es zu Guineen verschlagen, zu Banknoten verschrieben würde. Der Fingalsgesang Ossians, der im Volke fortklingt, erlaubt dem Münzenklange nicht die Alleinherrschaft. Ein Land mit Bergen kann 190 niemals völlig platt werden. Handelsstädte haben keine historischen Erinnerungen, hie und da erinnert sich höchstens ein alter Buchhalter, ob diese oder jene Firma auch vor funfzig Jahren schon solid gewesen sei; damit stärkt man höchstens eine Spekulation aber kein Herz. England wurde von Römern, Dänen, Sachsen, Normännern abwechselnd erobert, die innersten Interessen der Bewohner wurden bis in die Grundfesten erschüttert; solche Bewegung des Herzens erfrischt eine Nation, Bewegung ist zu allen Dingen gut, und wenn nur die Erinnerung an solche Bewegung da ist, so kann das Gemüth nicht ganz verkümmern. Eine Handelsstadt aber haßt jede Bewegung in ihrem Innern, das Schwanken der Kourse, die Unsicherheit des Transitos ist die gefährlichste Krankheit. Und was teutsche Handelsstädte in dieser Rücksicht erlitten haben, das traf die Dächer der Häuser, einige Mobilien und die Geldbeutel. Solche Bewegungen, die nicht in's Mark gehn, regen auch keine tief greifenden Erinnerungen auf, und bringen dem hergebrachten trocknen Geschäftsleben nicht die kleinste Blume.

Die Tories in England, vielleicht wie Makintosh vermuthet, die reinen Nachkommen der zuletzt herrschenden Eroberer, der Normänner, müßten nun in Vergleich gebracht werden mit den Nationalitäten in unsern Kaufmannsstädten, und was jene im Großen 191 zur Belebung der geistigen Richtungen ihres Landes gethan, das sollte nur im Kleinen von diesen gefordert werden. Man zeihe mit Recht jene Tories des ekelhaften aristokratischen Stolzes, man gestatte aber das Zeugniß, daß sie jede Ausbildung der höheren Thätigkeiten freigebigst unterstützt haben. Sie sind die Mörder Napoleons und Lord Byrons, und dennoch war es immer ihr Ehrenpunkt, Englands rationelle Notabilitäten zu begünstigen. Wo haben sich das die Millionairs der teutschen Handelsstädte je zu Schulden kommen lassen!

Es ist möglich, daß die Tories nicht so großmüthig geworden wären, hätten ihnen nicht die sogenannten Nachkommen der alten Sachsen, die Whigs gegenüber gestanden, von denen sie sich nichts zuvorthun lassen wollten. Aber findet man nicht in den Handelsstädten alte und junge Reichthümer, Häuser der Tories und Whigs; macht die Eifersucht aus Filzen humane Menschen? Kinderlosen unfruchtbaren Neid gebiert sie, größere Habsucht. All diese Anregungen führen bei uns zu garstigen Uebeln, wie ein Spieler, der einmal im Verlust ist, immer mehr verliert, je höher er pointirt.

England ist also kein Widerspruch, daß in Handelsstaaten die besseren Beschäftigungen des Geistes und Herzens verkümmern.

Zu Leipzig genirt allerdings kein Adel, hier ist er 192 todt, aber hier ist das Terrain, was die Civilisation betrifft, wenn jene Geburtsvorzüge abgethan sind, hier kann man die zunächst eintretende Geschichtsphase studiren. Die Ahnen sind ausgelöscht. Das Reich der Bildung sollte anheben, dazwischen schiebt sich plötzlich noch jenes Etwas, was so wichtig und merkwürdig geworden ist, das Geld.

Es ist die ewige Verwechselung zwischen Mittel und Zweck, Weg und Ziel, Kleidung und Mensch – die Industrie wird nicht befördert, um das Leben zu sein, sie soll nicht an die Stelle des Lebens treten: sie soll das Leben erleichtern, und das erleichterte Leben sollen wir dann erst verschönern lernen. Alles was wir jetzt erstreben, ist erst das Werkzeug zum Glücke, die Kaufleute machen aber das Werkzeug zum Zwecke. Sie betrügen uns um unsere Civilisationsarbeit, sie müssen bereits eben so bekämpft werden, wie der Adel. Und sie sind schwerer zu bekämpfen, weil sie jünger und dümmer sind. Ihre Waffen, die gelben Louisdor, weiß jeder feige, dumme Kopf zu führen, die des Adels, die Ambition und die Erinnerungen bedurften der Uebung. Ihre Verdienste sind keine Vermächtnisse auf späte Zeiten, die man studiren muß, ihre Wechsel lauten au porteur und müssen auf Sicht gezahlt werden. Sie gewinnen in einem Jahre so viel Terrain, als der Adel in einem Jahrhunderte.

193 Der Ursprung des Adels war doch eine Art von Poesie, glänzende Vorzüge sollten doch wenigstens sein Vater sein – die Fratze entstand erst dann, als die Vorzüge allgemeiner geworden und die Adeligen in dem lächerlichen Irrthume waren, sie noch allein zu besitzen. Aber selbst der Schatten dieser Tendenz hob doch oft noch die Einzelnen dieser Kaste aus der Masse, Einzelne wollten wenigstens edler sein. Aber der Kaufmann will nur reich sein, zum Reichwerden braucht er keinen inneren Vorzug, und er will nichts mit dem Reichthume als den Reichthum.

Er ist der neue Philister, der bis jetzt Frankreich betrogen hat, und uns Alle auf lange Zeit betrügen wird, wenn wir ihn nicht im Schach erhalten. Für die Komptoirs haben wir den Adel und die Regierung des Herkommens besiegt. Freut Euch das, Ihr revolutionairen Sünder und Götter? Ich glaube kaum, daß bei diesen bockledernen Herzen etwas Anderes, als »der Schrecken,« das historische Wort Dantons »la terreur« verfängt. Sie müssen so lang eingeschüchtert bleiben, bis sie lieben gelernt haben. Sagt man doch, daß die Weiber den Mann am innigsten lieben, den sie vorher am meisten gefürchtet – die Kaufleute sollen die Menschen fürchten, um sie zu lieben.

Solche bedenkliche Dinge kommen Einem zu Sinne, wenn man lange in Leipzig lebt. 194

 


 


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