Egon Erwin Kisch
Prager Pitaval
Egon Erwin Kisch

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Der wiederbelebte Spielberg

Während sich Frankreich im Jahre 1939 anschickte, den hundertfünfzigsten Jahrestag des Bastillensturms jubelnd zu begehen, kam aus der Tschechoslowakei die Nachricht, daß das Gegenstück der Bastille, der Brünner Spielberg, seit dem Einmarsch der Nationalsozialisten zu neuem, tödlichem Leben erweckt worden war: ». . . In das Gefängnis auf dem Brünner Spielberg eingeliefert wurden gestern achtzig . . .« – ». . . auf dem Spielberg starb, wie nunmehr bekannt wird . . .«

Grausige Meldungen. Der Name des Kerkers stand in ihnen, wie in anderen ähnlichen Meldungen von Oranienburg die Rede war, oder von Papenburg, vom Boergermoor, von Brandenburg oder von Dachau, den Orten, die rasch zu einem Alptraum geworden waren.

Auch das Wort »Spielberg« hat einen ähnlichen Klang, jedoch tönt dieser aus der Vorzeit her; lange sprach man vom Spielberg nur mehr bildlich, so wie man von »Zwinguri« spricht oder von der »Bastille«: es war einmal.

Es war einmal ein Spielberg, der erhob sich als fürchterliche Drohung gegen die Feinde der Willkür, und wahrlich, er machte Ernst mit seinem Drohen.

Die seit den Zeiten des Großmährischen Reiches immer wieder aufgestockte Burg war eine Wabe aus Stein, und in jeder ihrer Zellen sollte ein Mensch vergessen, Mensch zu sein. Ganz unten, auf den Grundsteinen, wo vor einem Jahrtausend eine Waffenhalle gewesen sein mag, schuf sich der österreichische Absolutismus das, was man später »Bunker« nannte. Von den Mauern eines stockdunklen Kellers weht feuchter Moder hernieder, klatschen von den Wölbungen unaufhörlich Wassertropfen in Pfützen, zu denen sich ihre Vorgänger bereits vereinigt haben.

Ein schmaler, nasser, finsterer Gang. Hier waren sie nicht untergebracht, die Feinde des Staates, hier hätten sie gehen können, sich bewegen und miteinander sprechen, und das mußte die autoritäre Energie verhindern mit jenem Mut gegen Wehrlose, der die verächtlichste Art von Feigheit ist!

Rechts und links des üblen Korridors hatte man aus Balken und Blöcken vierunddreißig Käfige gezimmert, für je einen Häftling; dort, in einem Raum von zwei Kubikmetern, wurde er angeschmiedet, man stopfte ihm die durchlöcherte Eisenbirne in den Mund, aus deren Öffnung Pfeffer auf die Zunge des Durstigen sickerte, preßte seine Finger in Daumschrauben, seine Arme in stachlige Stahlmanschetten, spannte ihn auf die Geige oder zwickte ihn mit glühenden Zangen, und von der Decke fiel Wassertropfen auf Wassertropfen, immer auf die gleiche Stelle des Festgeschmiedeten, der oft nicht einmal vergebliche Schreie des Schmerzes ausstoßen konnte, da er geknebelt war.

Wer waren die grausamen Verbrecher, die man in so grausamer Haft halten mußte? Sylvio Pellico aus Saluzzo, der mädchenhaft zarte und fromme Dichter der »Francesca di Rimini«, büßte hier acht Jahre lang seinen Freiheitstraum. Hier entzündete sich unter der Eisenfessel das Knie seines elegischen Freundes Pietro Marioncelli; man mußte das Bein amputieren, ohne daß Leinen, Binden oder Eis die Operation gelindert hätten. Ein zweiter Freund und CarbonaroCarbonario (ital.) = Köhler. – Geheime politische Verbindung in Italien. Ursprünglich gegen die Herrschaft der Franzosen gerichtet. Nach der Juli-Revolution in Frankreich bildete sich eine neue demokratische Carbonario, die auf Einführung der demokratischen Verfassung ausging und die Gleichheitsidee Babeufs zur Grundlage hatte., der junge Graf Fortunato Oroboni, starb hier gräßlich an Blutsturz; vor den Fenstern Pellicos, dessen Zelle der seinen so nahe gewesen, bestattete man ihn. Der französische Anhänger der Carbonari Alexandre Andryane erlebte hier die tragischste Tragödie des Schriftstellers: Tag und Nacht, Jahr um Jahr hatte er sein Werk über das Wesen der Menschheit geschrieben, zum Teil mit abgezapftem Blut, doch als die Zelle durchsucht wurde, fand man das Manuskript und verbrannte es, sein Leben, seine Lehre, seinen Ruhm und seine Hoffnung.

Spielbergbewohner war auch Drouet, der kleine Postmeister der kleinen Stadt Ste. Menehould, der so große Kapitel der großen Geschichte mitbestimmte. Als Goethe seine Fahrt unternahm, um diesen Mann zu sehen, hatte Drouet noch nicht mit dem edlen Gracchus Babeuf die Verschwörung der Gleichen organisiert, noch nicht in Teneriffa dem zukünftigen General Nelson den Arm abgehauen und noch nicht der gesamten Polizei des restaurierten Königtums ein Schnippchen geschlagen.

Vorläufig hatte Drouet nur in Varennes den König Ludwig XVI. angehalten und damit verhindert, daß dieser, vom Ausland her, Frankreich mit Krieg überziehe. Zwei Jahre später wagte Drouet als Abgeordneter und Kommissar des Konvents einen Ausfall aus dem belagerten Maubeuge und wurde dabei von österreichischen Dragonern gefangengenommen. Aber nicht die Tatsache seiner Kriegsgefangenschaft war es, was ihn davor bewahrte, in einem der unterirdischen Mordverliese des Spielbergs zu vermodern, sondern etwas anderes verschaffte dem »Häuptling der Königsmörder« ein Quartier oberhalb des Erdbodens: man brauchte sein Leben, um es gegen das der Tochter von Maria Antoinette einzuhandeln.

Drouet wußte keinen Deut von Plänen, seine Pläne hießen: Flucht. Unter Beifügung von Skizzen suchte er um die Bewilligung an, eine mechanische Mühle konstruieren zu dürfen. (»Bedenkliches Ansuchen desselben um Gestattung der Verfertigung neuer Mühlenmodelle« steht auf einem der unveröffentlichten Akten des Wiener Staatsarchivs.) In Wirklichkeit erfand er nichts weniger als den Fallschirm. Mit ihm schwang er sich aus dem Fenster und blieb mit zerschmetterten Beinen im Hof des Spielbergs liegen. Nachdem er geheilt und gegen die Königstochter ausgetauscht war, berichtete er vor dem Rat der Fünfhundert über seine Haft in den Ländern der Despotie.

Man tritt von Zelle zu Zelle, das Licht der mitgebrachten Karbidlampe huscht scheu über abgebröckelte, feuchte Wände, die erbarmungslos schwiegen, wenn jahrhundertelang das Wehklagen der Verzweiflung sie beschwor, die herzlos aushielten, wenn knöchern gewordene Finger sie im Wahnwitz von der Stelle zu schieben versuchten. So saßen hier in Zeiten des Dreißigjährigen Krieges jene Defensoren und Direktoren, denen habsburgische »Gnade« erspart hatte, gevierteilt, geköpft oder gehenkt zu werden, so saßen hier die frommen Mährischen Brüder und jüdischen Opfer des Jesuitentums, so saß hier, von seinem Rivalen Prinz Eugen eingekerkert, der kaiserliche Feldzeugmeister Bonneval, der nach endlicher Freilassung zum sagenhaften türkischen Feldherrn Ahmed Pascha wurde; hier schmachtete in Ketten der Kreishauptmann Karl Ritter von David, der im Erbfolgekrieg gegen Maria Theresia und für Karl VII. (den Bayern) Partei ergriffen hatte, hier endete durch Gift der tolle Pandurenobrist Franz Freiherr von Trenck, seines Vetters würdiger Vetter, so starb hier, Dank vom Haus Österreich, der Feldmarschall Georg Olivier Graf von Wallis, so siechten hier die italienischen Autonomisten dahin, die schlanke Contessa Filanghieri, der beredte Pater Don Marco Fortini, der Markgraf Giorgio Guido Pallavicini und der Conte Frederico Confalionieri. Und Feinde aus dem Ausland: der königlich-sächsische Hofkanzlist Menzel, der an Friedrich den Großen das Bündnis zwischen Österreich und Sachsen verraten und dadurch den letzten Anlaß zum Beginn des Siebenjährigen Krieges gegeben, der sächsische Marschall Schöning, der in vollem Einvernehmen mit seinem Kurfürsten ein Bündnis Sachsens mit Hannover und Frankreich gegen Österreich angestrebt hatte und deshalb von der Wiener Polizei während eines Badeaufenthaltes in Teplitz festgenommen und, ungeachtet seiner Gicht, in die feuchten Höhlen des Brünner Felsens geworfen wurde.

Innere und auswärtige Politik, die Staatsminister für Justiz und die für Heerwesen, die für Kultus und Unterricht, die Kommissionen und Kammern und Prokuratoren aller Verwaltungszweige – die Herrscher mit dem Beinamen »der Gütige« oder »der Glorreiche«, der »Aufgeklärte Absolutismus« und die konstitutionelle Demokratie – ihrer aller ultima ratio hieß: Spielberg. Keine Revolution fand sich, oh, du mein Österreich, die diese Bastille gestürmt, ihre Wälle dem Boden gleichgemacht hätte.

Gehaßt war sie genug, und selbst uninteressanten Sträflingen, Kriminellen aus Gewinnsucht, stülpte das Volk den Glorienschein auf den Verbrecherschädel, ausschließlich deshalb, weil sie hier saßen. Aus jedem armseligen Einbrecher machte die Folklore einen Rächer der Armen, man schrieb Romane über den eingekerkerten Revierinspektor Johann Anton, den Banknotenfälscher Heinrich Henkel pries die Fama als uneigennützigen Förderer der Künste, und selbst der Fleischhauer Philipp Smutny, der sein Weib und drei Kinder umgebracht, wurde der Held eines Volksliedes.

Das Volk liebte die, die auf dem Spielberg Qualen erlitten, und die Monarchen mußten wohl oder übel diesen Sympathien Rechnung tragen. Kaiser Joseph II. weilte am 3. August 1783 eine Stunde lang in einer Kerkerzelle und verkündete hernach seinem Gefolge und den Lesebüchern, er wünsche nicht, daß jemals wieder in diesem untersten Verlies ein Mensch eingekerkert werde; ein diesbezügliches schriftliches Verbot erging, aber noch fünfzig Jahre später faulten dort lebendige Leiber. Kaiser Franz ging in seiner »Menschenfreundlichkeit« noch weiter, er untersagte auch die Benützung des nächsthöheren Stockwerkes, ohne zu verhindern, daß während seiner ganzen Regierungszeit dort politische Häftlinge lagen. Im Jahre 1848 stopfte man die Löcher mit deutschen Studenten voll, die unter dem schwarz-rot-goldenen Banner die Vereinigung aller Deutschen erstrebten, und mit tschechischen Studenten, die die Freiheit ihres Landes wollten. Kaiser Franz Joseph verbot bald darauf die Benützung des Spielberges als Gefängnis, machte eine Kaserne und – einen Garnisonsarrest daraus.

Aber, wie gesagt, das war einmal. In der Tschechoslowakei tat der Spielberg nur mehr als Park, als Kaserne und als Museum seinen Dienst. Auf den sanften Serpentinenwegen, unter Akazien und Kastanien ergingen sich Liebespaare; in der Festung waren das Ersatzbataillon eines Infanterieregiments, eine Scheinwerferkolonne und eine Brieftaubenabteilung untergebracht; das Museum war Schreckenskammer eines Panoptikums, Brünner Schulbuben trafen dort wallfahrende italienische Patrioten.

Das Instrumentarium der Folter und die in den feuchten Gewölben verhallten Seufzer brachten manchem Besuch das Gruseln bei. Das verging aber wieder, wie die Zeiten der Despoten vergangen waren, die Zeiten, die, wie wohl jeder dachte, nie und nimmer wiederkehren können. Doch hundertfünfzig Jahre nach dem Sturm auf die Pariser Bastille gellten von neuem Schreie, sausten von neuem marternde Hiebe, tönte von neuem Wehklagen innerhalb der Spielbergmauern. Der Schauplatz gewesener Schrecken war zum Schauplatz zeitgenössischer Schrecken geworden und hat den Spielberg wieder zur »Gralsburg reaktionärer Willkür« gemacht, wie Börne ihn schon vor hundert Jahren nannte.

 


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