Egon Erwin Kisch
Prager Pitaval
Egon Erwin Kisch

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Die Mördergrube von Maria-Kulm

Konrad: Doch ist es jetzo nicht geheuer,
    Denn droben auf der Kulmer Höh,
    Da spukt seit ein'ger Zeit viel freier
    Das Raubgesindel. – Auf dem Schnee
    Entdeckten Leute, die dort fuhren,
    Erst heute Mittag blut'ge Spuren.

Ottomar: Sie treiben's arg.

Konrad: Dess ist Gott Zeuge,
    Viel Unheil stiften sie im Land.

(Cuno: »Die Räuber auf Maria-Kulm.«
Erste Handlung, III. Szene.)

Jetzo nicht mehr. Jetzo ist es wieder geheuer da droben auf der Kulmer Höh. Nur die Wallfahrer, nachdem sie in der Gnadenkapelle ihr Gebet verrichtet, lassen sich vom Küster die Mördergrube aufschließen, um angesichts der aufgeschichteten Totenschädel und Gebeine das Gruseln zu lernen.

»Ma gottsölige Mutta hoat sich nu d'erinner kinna an die Reiber. Des woar'n grausige Zeit'n.«

Es war eine uralte Frau, die mir das angesichts von Geripp und Totenbein beteuerte, aber trotzdem muß an diese Äußerung ein Zweifel geknüpft werden: so ganz genau kann sich ihre Mutter unmöglich an die Reiber erinnert haben und an die von ihnen verursachten grausigen Zeit'n, sintemalen die argen Mordgesellen bestenfalls im vierzehnten Jahrhundert ihr Unwesen trieben. Bestenfalls. Urkundlich findet sich nichts vor, was ihre Existenz bestätigt, es sei denn, daß man der Zeugenaussage meiner alten Nachbarin, beziehungsweise ihrer gottsöligen Mutta, dokumentarische Kraft beizumessen geneigt wäre.

Wie dem auch sei, ob die Räuber auf Maria-Kulm lebten oder nicht, sie haben in mehr als einer Beziehung ihre Aufgabe erfüllt.

Vorerst dienten sie nur ad majorem Mariae gloriamZur größeren Ehre Marias.. In der Geschichte des Wallfahrtsortes wird von einer Räuberbande, die der Sage nach nahe der Kapelle nistete, erzählt und von ihrer Unschädlichmachung vor der Heiligenstatue. Dann hat 1814 der Besitzer der von Goethe bedichteten Karlsbader Leihbibliothek, Heinrich C. Cuno, ein Drama daraus gemacht und sechs Jahre später der Graslitzer Maler Andreas Dietz auf vier Gemälden den Verlauf der Moritat schaurig-schön dargestellt. Und so kommt es, daß die Pilger unmittelbar aus der Kapelle der Barmherzigkeit in das Gewölbe der Grausamkeit zu tappen wünschen, was wiederum dem Küster, der den Schlüssel zur »Mördergrube« in Händen und ein Traktätchen über die Räuber feilhält, etwas Geld einbringt; daß die Skelette von dem aufgelassenen Friedhof stammen, hat für die Gläubigen, die das Gruseln lernen wollen, nichts zu bedeuten.

Den größten Erfolg hatte das Drama teils für sich selbst, teils als Propaganda für das stille Gnadenkirchlein ob der Eger. Nahezu hundert Jahre lang hausten »Die Räuber auf Maria-Kulm oder Die Kraft des Glaubens, Gemählde aus der vaterländischen Geschichte des XIV. Jahrhunderts« auf dem Spielplan der deutschen Theater, zuvörderst auf dem der großen (keine Geringere als Sophie Schröder glänzte in der Rolle der Bibiana!), dann auf dem der Wanderschmieren, und später wurde das Stück neben der Schauertragödie vom Räuberhauptmann Karasek auf den Puppenbühnen gespielt.

Es bringt alles mit, wessen ein Publikum bedurfte, Ritterromantik, Räuberromantik und Religionsromantik, Großmut, Grausamkeit und Geilheit, vortrefflich eingeteilt, zwar so, daß in jedem der fünf Akte von jeder dieser Ingredienzien eine starke Dosis verabreicht wird.

Vor allem aber war das Drama durch einen unsäglichen Mangel an Logik zum Erfolgsstück prädestiniert; die Naivität des Autors wird nur noch von der Naivität seiner Ritter, und die Dämlichkeit seiner Ritter nur noch von der Dämlichkeit ihrer Räuber übertroffen. Wohl stecken die Keime dieser Mängel schon in der lokalen Kirchenlegende, die Heinrich C. Cuno ziemlich mechanisch dramatisiert hat, aber das, worüber man bei der Prosaerzählung der Patres leicht hinwegliest, wird zum kompletten Unsinn, wenn sich, abendfüllend ausgedehnt, ein Fehler fortzeugend vom ersten bis zum fünften Akt schleppt.

Die Sache ist die: der alte Heinrich von Reisengrün, Herr der Veste Katzengrün, ist ausgeritten, um mit dem Burgherrn von Falkenau Schach zu spielen. Die Gelegenheit benützt der edle Juniorchef von Burg Katzengrün, Junker Ottomar, dazu, der schönen Bibiana, des Burgvogts Töchterlein, seine Minne zu gestehen; er tut dies teils in Versen, teils in ebenso geschwollener Prosa, und sie erwidert, züchtig und geschraubt, diese Liebe.

Bald darauf – die Nacht ist bereits hereingebrochen – kehrt Vater Heinrich zurück, setzt sich zum Abendbrot und vermißt plötzlich sein mit Edelsteinen reich verziertes Brettspiel. Oben auf der Kulmer Höhe, wo man kurz vorher, in einer Haselstaude versteckt, ein holzgeschnitztes Bildnis der heiligen Jungfrau mit dem Christuskindlein entdeckt und ihr zu Ehren eine Kapelle errichtet hat, ist der Alte vom Pferde gestiegen, um zu der heiligen Mutter Gottes zu beten, und als er wieder aufsaß, blieb das Spielbrett liegen. »Lauf, Ottomar«, sagt er, da er sich in der Burg daran erinnert, zu seinem Sohn, »und hol es mir.«

 

»Ottomar: Ich? Jetzt bei Nacht? Was denkt Ihr, Vater?

Heinrich: Ich glaub, der Bube fürchtet sich?

Ottomar: Ich habe Muth, dess seyd Ihr Zeuge.

Heinrich: Beweise ihn, und hol' das Bret!

Ottmar (gekränkt):
Gern will ich's Leben in die Schanze schlagen,
Wenn es die Rettung eines Menschen gilt.
Doch um ein Spielwerk möcht' ich es nicht wagen,
Da heiß mein Blut für edl're Taten quillt.

Burgvogt Konrad: So schickt doch lieber einen Knappen.

Heinrich: Dem Ottomar hab' ich's befohlen!
Und wenn ich einmal etwas sage,
so nehm' ich nie mein Wort zurück.
(Zu Ottomar:) Du gehst!

Ottomar: Ich gehe, Vater! Doch wenn Räuber –

Heinrich: Was Räuber! Nimm dein Schwert mit dir.

Konrad (bittend): So schickt doch einen Knappen, Ritter!

Heinrich (böse):Der Knapp' ist Mensch, so wie mein Sohn.
Und hat der Knappe Muth zu gehen,
so soll ihn auch der Bube haben.

Bibiana (ängstlich): Laßt mich –

Heinrich (ärgerlich): Nichts da!

Bibiana: Ich will es holen!

Heinrich (streng): Der Bube geht, du bleibst daheim! (Er geht zürnend in sein Kabinett.)«

 

Was geschieht nun? Wird der Sohn mit einigen Knechten losreiten, wodurch sich die Gefahr vermindert und er den Befehl des halsstarrigen Alten wenigstens zur Hälfte befolgt? Wird Ottomar einen seiner Reisigen schicken, trotzdem der Vater dies verboten hat und trotzdem er sich damit als Feigling erweist?

Noch schlimmer! Junker Ottomar überläßt es seiner Bibiana, einem Knappen den Auftrag zum Ritt in das Räubergebiet zu geben.

Aber es ist Bibiana selbst, die den unheimlichen Weg antritt. Der Autor und wahrscheinlich auch sein Publikum haben nicht bemerkt, daß Ottomar weit feiger dasteht, wenn ein Mädchen ihn dergestalt beschämt, und so wandert der junge Ritter auch weiterhin als sympathischer Held durch die fünf Akte.

Nun, Bibiana kommt zur Gnadenkapelle und erlauscht, vor nahenden Schritten sich versteckend, ein Gespräch der Bandenmitglieder Rupert, Karl und Lutz, worin sie ihre Geschäftsgeheimnisse ausplaudern. Sie erzählen, daß sie bei allen auf den nahen Burgen abgehaltenen Festlichkeiten als fahrende Ritter erschienen.

 

»Unser vorzüglichstes Augenmerk ging auf die Weiber und Töchter des Landes, die hier, so wie es überall ist – das Fremde dem Heimischen vorziehen. Wir buhlten um ihre Gunst, und hatten wir ihre Liebe errungen, so suchten wir sie durch Überredung, List oder Gewalt zu entführen.

Lutz: Versteht sich, daß sie ihre Schätze und Kostbarkeiten mit sich nehmen mußten.

Rupert: War es uns nun gelungen, unsern Raub ins Freie zu locken, so führten wir sie hierher, hier konnten sie sich mit ihrem Gewissen abfinden, und wenn wir denn noch so mancherlei Kurzweil mit ihnen getrieben hatten, gaben wir ihnen den Laufpaß in die Ewigkeit, theilten ihr Eingebrachtes und warfen die Leichen da links in die Grube neben der alten Eiche.«

 

Nicht nur ihre Taktik breiten die ahnungslosen Halunken vor der versteckten Lauscherin aus, Bibiana wird auch entsetzte Zeugin zweier Mordszenen. Die erste gilt einem Knappen, der seine Herrin im Auftrage der Räuber verraten hat und nun von diesen den Dolchstoß zum Lohn erhält. Die zweite aber ist noch schauerlicher: ein Burgfräulein namens Leokadia (angetan mit einem prächtigen Staatskleid, über dem sie einen Reiserock trägt) erscheint mit dem Grafen Hugo von Felsenburg, um sich heimlich trauen zu lassen. Jedoch, o Schrecken, der Bräutigam befiehlt ihr: »Leg ab den Schmuck, entlade dich der Kleider, denn beides nützt dir ferner nicht.« Er sagt ihr, daß sie sterben muß, und stellt sich vor: »Ich bin nicht Ritter und nicht Graf, ich bin das Haupt von (sic!) einer Räuberbande.« Während sich das tödlich erschrockene Mädchen auszieht, macht der Räuberhauptmann, der, wie wir aus dem Theaterzettel wissen, Kust heißt, seine Bemerkung darüber, daß sie so rasch bereit ist, sich ihrer Kleider zu entledigen:

 

»Du Törin, du! Nicht lüstern bin ich mehr nach deinen Reizen – nach deinem Blute dürste ich. Nur mach es kurz, damit ich dich zur Ruhe fördern kann. Ein gutes Mahl und alter Wein sollen mir nach dieser Arbeit trefflich schmecken.

Leokadia (ihr Haar hängt aufgelöst über die Schultern herab; sie trägt auf dem Arme die Kleider und den Schmuck; sie ist nur noch mit einem weißen Gewand bekleidet):
Was deine Habsucht immer heischen kann, das hast du nun erhalten, vergönne mir die einz'ge Hülle, die mich noch deckt – laß sie zum Leichentuch mir dienen, und nimm dafür hier dieses gold'ne Halsgeschmeide, welches dir hundertfach den Werth ersetzt. (Sie bindet die Halskette ab und gibt sie an Kust.)

Kust: Es sey!«

 

In der Zeit, da Kust mit der Abschlachtung seines Opfers beschäftigt ist, gelingt es Bibiana, sich unbemerkt davonzuschleichen, nicht ohne das Schachbrett ihres Burgherrn mitzunehmen sowie die Kleider und den Schmuck der armen Leokadia. Kust, den blutigen Mordstahl in der Hand, sucht seine Beute und erspäht in der Szene einen fliehenden Menschen:

 

                    ». . . Blut und Mord!
Das sollst du mir mit Tod und Qualen –
Mit tausendfacher Pein bezahlen –,
Dein Schmerz soll Höllenmartern gleichen! (Stürzt ab.)
Ihm nach! Noch kann ich ihn erreichen! (Ab.)

(Man erblickt Bibiana, von Kust verfolgt, auf dem Gipfel des Berges, und so wie sie beinahe von ihm erreicht wird, sinkt der Vorhang nieder.)«

 

Welch ein Zwischenakt, welche Marter für das Publikum! Und welch eine Nacht für den Junker Ottomar, der sich um das Schicksal des vermeintlich davongerittenen Knappen bangt und schließlich gar erfährt, seine Heißgeliebte habe allein den fürchterlichen Weg gewagt. Was Wunder, daß er in klafterlange Monologe ausbricht! Da kommt Bibiana, blaß und atemlos; indem sie Blick und Hände gen Himmel hebt, erzählt sie den Verlauf ihrer Flucht vor dem Mordbuben, »wobei ihr oft der Athem mangelt, weshalb sie zuweilen innehält«:

 

»Schon hat er mich gefaßt am Kleide –
Es riß – er fiel – wir rangen beide –
Bis mir die – neue – Flucht gelang. –
Auch er – verfolgte – mich aufs neue –
Schon klirrte wieder nah sein Sporn. –
Da tönt des Wächters gellend Horn –
Von dieser Burg – hinaus ins Freie. –
Das Raubtier – horcht – und stutzt – und sieht –
Indess – die Taube – ihm entflieht.«

 

Zwei Akte folgen, in denen sich die Albernheiten geradezu überstürzen. Auf Veste Katzengrün wird sofort ein Fest veranstaltet, damit sich die Räuber hier einfinden. Und sie finden sich wirklich ein, auch Kust, obwohl er doch weiß, daß er in der vorhergegangenen Nacht beobachtet wurde, daß die Lauscherin schnurstracks in die Burg Katzengrün flüchtete, also dort alle unterrichtet sein müssen und das Mädchen ihn erkennen wird. Zum Überfluß trägt Bibiana auf dem Ball die Kleider der ermordeten Leokadia. (Zum Überfluß? Gerade diese neuerliche Verwendungsmöglichkeit einer prunkvollen Toilette mag das Stück für Bühnen mit spärlichem Fundus erschwinglich gemacht haben. Ebenso erscheint ja in Grillparzers »Ahnfrau«, die mit den »Räubern auf Maria-Kulm« mancherlei Ähnlichkeit aufweist, dem als Ritter eingeschlichenen Räuber das Schloßgespenst in Bertas Gewandung.)

Wie Bibiana seherisch verkündet hat, unternimmt der adelig verkleidete Kust den Versuch, das Mädchen, mit dem er heute nacht gerungen und das, um jeden Zweifel auszuschließen, seine ihm abhanden gekommene Beute auf dem Leibe trägt, zur gemeinsamen Flucht zu bereden. Bibiana willigt ein und sagt, mit Recht, beiseite:

 

»Ha, Ungeheuer! Wie ist es doch mit Blindheit geschlagen, sonst müßte es die Schlinge seh'n, die jetzt ein unerfahr'nes Mädchen ihm gelegt.«

 

Bibiana flieht mit dem Kerl, dem sie gestern beim Meucheln zugesehen, alldieweil ihr Plan dahin geht, die blutrünstigen Gauner nicht schon beim Fest überwältigen zu lassen, sondern erst vor der heiligen Jungfrau von Maria-Kulm. Warum solches in der Legende steht, ist klar; aber warum wird im Drama dieser Kulissenwechsel vollzogen? Damit man bei der Kapelle aller Banditen habhaft werden könne? Als ob der langgediente Räuberhauptmann zur Abschlachtung eines Mädchens die Mithilfe seines ganzen Ensembles benötigen würde!

Nun, wir brauchen einen fünften Akt, und da dieser hereinbricht, kommt Bibiana eben mit ihrem Häscher in die Kapelle. Ihre Situation wird brenzlig. Schon hat der Bube das keusche Mädchen gezwungen, sich vor seinen Augen (und vor denen des Theaterpublikums) halb zu entkleiden, schon hätte er zehnmal Zeit gehabt, Bibiana das Messer in den knospenden Busen zu stoßen. Durch ihre fromme Zuversicht versetzt sie ihn derart in Wut, daß er – um sie martern zu lassen – durch drei gellende Pfiffe seine Spießgesellen aus ihren Schlupfwinkeln herbeiruft. Spornstreichs kommen sie allesamt.

Also hatten wir unrecht, Bibianas Plan für blödsinnig zu halten. Die Gesamtheit der Räuber kann nun von den Edlen umzingelt werden.

Auf Kust stürzt sich Junker Ottomar und – wird überwältigt. Der Räuberhauptmann will zustoßen – ha, die prächtige Bibiana entreißt ihm in diesem Augenblick den Dolch und rettet solcherart dem alten Heinrich den Sohn. Was kann daraufhin der gerührte Burgherr anderes tun, als sie – die Bürgerliche – zur Schwiegertochter zu erheben!

Gefesselt wird die Mörderschar, durchsucht die Höhle, und die darin gefundene Beute wird auf Antrag Bibianas zum Bau einer Kirche bestimmt, dem Bilde der heiligen Maria zu Ehren.

 

»(Sie kniet vor demselben nieder, alle Anwesenden folgen ihr und knien im Kreise mit aufgehobenen Fackeln um sie her.)

Ich beug in Demuth Herz und Sinn!
Du, die so wunderbar, so göttlich heute
Mich mütterlich aus Räuberhand befreite –,
Dank, Dank dir, Himmelskönigin!

(Sie beugt sich mit der Stirn zur Erde, alle Anwesenden mit ihr, indem sie die Fackeln senken.)

(Der Vorhang sinkt sanft nieder und verhüllt das Gemälde.)«

 

Das ist das Ende der Räuber von Maria-Kulm, die das schlimmste je von einer Räuberbande erlittene Schicksal zu erleiden hatten: das Schicksal, niemals gelebt zu haben.

Nur die gottsölige Mutta des Egerländer Weibleins, das an meiner Seite den Haufen von zerfallenen Friedhofsknochen schaudernd betrachtet, hat sich noch an die Reiber d'erinner kinna und an die von ihnen verursachten grausigen Zeit'n.

 


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