Egon Erwin Kisch
Prager Pitaval
Egon Erwin Kisch

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Lenore

Hier unten liegen die, die hier oben getötet worden sind. In der fernen Heimat warteten weinend und wehklagend ihre Mädchen, zerrauften sich ihr Rabenhaar und warfen sich zur Erde, mit wütiger Gebärde. So, an Gott verzweifelnd und Gott verleugnend, harrte auch Lenore, das schönste Bürgerkind, ihres Geliebten. Der war mit König Friedrichs Macht gezogen in die Prager Schlacht und hatte seither nichts von sich hören lassen, keine, keine Antwort gegeben auf die Frage, die Lenore ihm in ihren schweren Träumen allnächtlich stellte: »Bist untreu, Wilhelm, oder tot?«

Bist tot, Wilhelm. Schon in der Prager Schlacht wardst du erschossen, sonst hättest du geschrieben, ob du gesund geblieben. Hier liegst du mit achtzehntausend Jünglingen, die sich pour le roi de Prusse töten ließen, ganz abgesehen von den zwanzigtausend, die pour l'imperatrice de l'Autriche tot niederfielen, hier wurdest du eingescharrt, Wilhelm, mit so vielen Wilhelmen.

*

Geradenwegs von diesem Massengrab bei Šterbohol kommt Wilhelm, als der König und die Kaiserin, des langen Haders müde, ihren harten Sinn erweichten, zu Feinsliebchens Tür geritten. »Wir satteln nur um Mitternacht«, entschuldigt er die unschickliche Stunde und fügt hinzu: »Weit ritt ich her von Böhmen.«

Dorthin geht's zurück, er nimmt Lenore mit auf den Rückritt. Durch Wirbelwind und Mondscheinnacht und Blätterrascheln galoppieren sie auf dem schnaubenden Rappen gegen Prag, dem Junggesellenquartier Wilhelms zu, darin nun das Hochzeitsbette bereitet ist. An einem Leichenzug von Gespenstern, an den Geräderten auf dem Galgenberg vorbei, zerreiten sie Meile um Meile. Die Schauernacht vergeht im Flug, schon tönt der erste Hahnenschrei, da sind sie angelangt im neuen Heim, zwischen den Dörfern Chvaly und Počernice, aus deren Bauernhöfen andere Hähne die gekrähte Reveille erwidern.

Ein Schlag mit schwanker Gert an das Gitter, und auf fliegen klirrend die Flügel des Tores. Es blinken Leichensteine rundum im Mondenscheine, rundum und um und um.

Wilhelms Logis. Er legt ab, um sich's kommod zu machen, sein Koller fällt auseinander wie mürber Zunder, zum nackten Schädel wird sein Kopf, sein Körper zum Gerippe.

Und Lenore? Lenore, dieweil sie aus dem Souterrain Gewinsel vernimmt und Leichensoldaten rings um den Feldherrnhügel einen Tanz exerzieren sieht, wird ihres Leibes ledig.

*

Auf selbigem Hügel hatte sich, als es am Maientag von 1757 ums Schlachten ging, der General postiert und durch seinen Feldstecher geschaut. Achtzigtausend friderizianische Soldaten standen den hundertzwanzigtausend mariatheresianischen Soldaten gegenüber. Graf Schwerin hob das Fernglas über die beiden Armeen hinweg in die Prager Schlacht hinein.

»Ob ich wohl heute nacht wieder in dem guten Bett schlafen werde?« fragte er lächelnd seinen Adjutanten. Dreizehn Jahre vorher, als die Preußen Prag okkupiert hielten, hatte Schwerin im Palais Colloredo-Mansfeld logiert und in den Briefen an seine Frau von dem Bett nicht genug Rühmens machen können. Nur ein Kriegsmann, der in vielerlei Betten schläft und oft in keinem Bett, weiß zwischen Bett und Bett zu unterscheiden.

Damals war er sechzig gewesen, dreizehn Kriegsjahre vergingen seither. Dreizehn ist eine Unglückszahl. »Heute hat noch der Browne in dem guten Bett geschlafen«, brummte der preußische Feldmarschall und verwünschte den österreichischen Feldmarschall, der ihm mit Truppengewalt den Eintritt in die Stadt Prag, in den Colloredo-Palast an der Karlsbrücke und in das gute Bett verwehren will. »Wollen mal sehn, wer heute drin schlafen wird, er oder ich!«

Und es beginnt die Schlacht. Da das erste preußische Treffen »stiften geht« angesichts der österreichischen Grenadiere, reißt Schwerin dem Fahnenjunker die Fahne aus der Hand, bringt die Fliehenden zum Stehen und fällt.

Drüben trifft den Marschall Browne eine Kartätschenkugel ins Bein. Noch bringt man ihn ins gute Bett zurück, nach dem sein Gegner sich so sehnte, jedoch er stirbt darin.

Nicht nur die beiden alten kriegerischen Herren starben in der Prager Schlacht, es starben außerdem noch viermal zehntausend junge Männer, für welche der Heldentod keine Krönung langen Heldenlebens bedeutete, darunter Lenorens Wilhelm.

Begannen sie ihr Ballett schon am Feierabend der Schlacht, den Kampf und den Tod und den Todeskampf noch in den Gliedern? Schwenken sie den Reigen seither allnächtlich, wie an jenem Polterabend, an dem ihr Kamerad Wilhelm seine Lenore heimführte? Treiben sie es immer so, auf, unter und über der Nekropole von Sterbohol, winseln im Erdreich oder schaukeln im mondlichen Scheinwerferkegel um den toten Feldherrnhügel?

*

Darüber kann Herr Krnovsky keine Auskunft geben. Herr Krnovsky ist ein österreichischer Invalide, der als tschechoslowakischer Beamter mit preußischer Gehaltszulage die Aufsicht über die toten Soldaten führt. Diesen Dienst versieht er tagsüber, nachtsüber aber schläft er, weshalb er nicht wissen kann, ob seine Mannschaft inzwischen makabren Unfug treibt und vielleicht sogar Mädchen wie die Lenore bei sich hat. Außer Herrn Krnovsky findet sich zu mitternächtiger Stunde kein lebender Zeuge im weiten Umkreis.

Wer von den Lebenden hierher kommt, kommt bei Tage. Im Tageslicht erkennt man Furchen und Steine, braucht nicht über sie zu stolpern, gerät nicht unversehens in Feldkulturen, kann den Sümpfen ausweichen. Dörfer schauen herüber, die sich fontanisch reimen, die Dächer von Chvaly und von Pocernice, von Michelupy und Hostivice, von Kyje und von Malešice, ihr Rot und das Grün der Felder schimmern friedlich. Alles ist bildgetreu, so wie es damals war, bevor die Weltgeschichte den Erdenfleck beehrte.

Nur eben der Heldenfriedhof war nicht da vor dem Maientag, an dem jene Besucherin ankam, den hat erst sie zurückgelassen.

»Der Feind«, schrieb König Friedrich am Tag nach der Prager Bataille, »verlor vierundzwanzigtausend Mann, darunter fünftausend Gefangene; der preußische Verlust belief sich auf achtzehntausend Combattanten, ungerechnet den Feldmarschall Schwerin, der allein über zehntausend Menschen wert war.«

Wem – wenn man Ew. Majestät submissest fragen dürfte – wem war der gräfliche Greis zehntausend Menschen wert? Belieben uns Ew. Majestät zehntausend Mütter und Gattinnen und Kinder zu zeigen, die ihren Liebsten zum Tausch für den Feldmarschall hergeben würden. Kennen Ew. Majestät einen gewissen Gottfried August Bürger, deutschen Poeten?

»Kenne keine deutschen Poeten!«

»So kennen Ew. Majestät wohl auch seine Lenore nicht?«

»Kann nicht alle Bürgermädchen kennen. Was soll denn mit ihr los sein, mit sotaner Lenore?«

Lenore fuhr ums Morgenrot empor aus schweren Träumen . . .

Friedrich hört sich die Sache an. »Verdient Stockstreiche, dieser Poet. Brauche solche, die mein intérêt bedichten.«

Friedrich, bisher über eine Bahre geneigt, bewegt sich zur Balustrade der Klosterterrasse und schnarrt: »Hör Er, was da unten meine Kerls singen – etwas anderes als das Gewimmer Seiner Lenore. Denen ist's noch zu wenig, daß ich ihrer zehntausend für einen General hergeben möchte.«

In der Tat, unten singen die Seydlitz-Husaren:

»Drauf rückte Prinz Heinrich heran,
Wohl mit achtzigtausend Mann:
›Meine ganze Armee wollt ich drum geben,
Wenn mein Schwerin noch wär am Leben.‹
Oh, ist das eine große Not,
Schwerin ist geschossen tot.«

*

Selbstverständlich ist der König nur in effigie auf dem Schlachtfeld, das effigium hängt im Wohnzimmer des Friedhofwärters Krnovsky. Es stellt Friedrich am Tage nach der Bataille dar, auf der břevnover Klosterterrasse, tief gebeugt über den aufgebahrten Schwerin.

Selbstverständlich ist der Schwerin nur in effigie da, er ist nicht hier in seinem Grab begraben, der frische Leichnam wurde ins Kloster von Břevnov zur Einsegnung gebracht und von dort nach Schwerinburg in die gräfliche Familiengruft.

Selbstverständlich sind die Soldaten Friderici et Schwerini nicht in effigie da, sie liegen wirklich und tot in ihrem šterboholer Biwak.

Nur dem Feldmarschall jedoch gelten die großen Grabsteine und Obelisken. Das erste Monument, eine abgestumpfte Steinpyramide, hat ihm der Sohn der Feindin gesetzt, Joseph II. Es wurde brüchig im Laufe des Jahrhunderts und nicht mehr würdig, ein selbständiges Denkmal zu sein; desto würdiger, ehrwürdiger konnte es als Sockel für ein neues dienen. Dieses neue, hundert Jahre jüngere ist ein gedrungener Sarkophag aus schwarzem hořicer Sandstein mit einem Reliefporträt – statt zu heroisieren, hat der Bildhauer idealisiert, so zwar, daß man den rauhen Kriegsgreis schlankweg für den jungen Goethe halten könnte. Wohl genug der Ehrung, möchte man glauben. Ist aber nicht genug.

Auf hochgeschichtetem, ummauerten und eufeuumrankten Hügel erhebt sich Monument Numero drei: ein Riesenprisma aus Kanonenschmelz, geziert mit dem Still-Leben des Kriegs-Todes, mit preußischem Adler-Wildpret und Eichen-Gemüse und Lorbeer-Gewürz und Kanonenkugel-Kürbissen und mit Bestecken aller Art, auf deren Griff das königliche Monogramm F. R. eingraviert ist.

*

Der alte Preuße hatte Glück, als er hüben starb und nicht drüben im Bett.

Der alte österreichische Feldmarschall (der alte Österreicher kann man nicht sagen, wie schon der Name »Browne« zeigt) hatte auch Glück, daß er seinen Todesschuß in der Schlacht abbekam. Denn sonst hätte Habsburg ihn erledigt, wie es seine Vorgänger erledigt hat, hingerichtet wie den Rußwurm, ermordet wie den Wallenstein, eingekerkert auf dem Spielberg wie den Franz Trenck oder »abgekragelt« wie den Benedek. Vielleicht wäre es dem Browne noch schlimmer ergangen. War doch die Prager Schlacht vom Prinzen Carl von Lothringen verloren worden, dem Schwager der Kaiserin, und ein Schwager der Kaiserin kann keine Schlacht verlieren. Demzufolge mußte Browne sie verloren haben; ein wahres Glück für ihn, daß er gleichzeitig mit der Schlacht sein Leben verlor.

Dabei war die Schlacht gar nicht so sehr verloren. Die Preußen kamen allem Stürmen und Bombardieren zum Trotz nicht in die Prager Stadtmauern, sie kamen nur nach Kolin, wo sie ebenso geschlagen wurden, wie sie vor Prag geschlagen hatten.

Wie dem auch sei, Browne besitzt, obschon er als einziger Feldmarschall der österreichischen Geschichte seine Todeswunde auf der Walstatt empfing, nicht einmal ein Marterl auf dieser Walstatt, auf diesem so lange österreichisch gewesenen Boden. In der kleinen, gottverlassenen Prager Kapuzinerkirche zu St. Joseph herrscht Halbdunkel, kaum läßt sich auf der dreieckigen Grabtafel ein Name entziffern: Maximilian Ulysses Browne.

*

Ebenso wie die drei massiven Monumente gelten auch die Kugelakazien und die Trauerweiden und die Birken und die Weißdornhecke und der Wassergraben, der in Form eines Eisernen Kreuzes die Gruft konturiert, nur dem Schwerin. Weil aber der Heldenhain schon einmal da war, Enklave des Krieges in Friedenslandschaft, Enklave Preußens in Österreich, so teilte man 1813 dem Feldmarschall die Gefallenen der napoleonischen Kriege zu, die von Kulm vor allem. Ein schlichtes Mal betrifft »zweihundertfünfundachtzig preußische Soldaten«, unter einem andern »harrt seines Erlösers Carl Aug. Ferd. von Katte, königl. preuß. freiwill. Jäger, geb. den 4. Juli 1796, gest. den 5. Okt. 1813«, ein Siebzehnjähriger.

1866 bekam der Schwerin einen Schub toter Rekruten aus Königgrätz, aus Jičin, aus Trutnov. Dieser Krieg war kurz, und mehr Verluste als in den Schlachten scheint Preußen bei dem Unfall erlitten zu haben, den eine Tafel lapidar berichtet: »Zwei Offiziere, ein Portepée-Fähnrich und achtundzwanzig Soldaten, in Stücke gerissen beim Entladen einer österreichischen Granate auf dem Prager Laurenziberg am fünfundzwanzigsten August 1866.«

Gewiß, diese 2 plus 1 plus 28 gehören in den Heldenhain, eine Granate, die ihr Opfer im Fluge ereilt, tut es nicht minder blind als eine, die bei der Entladung platzt. Kaum aber können derart Zerstückelte bei dem Lenoren-Tanz mittun, nennen sie ja nicht einmal ein Gerippe ihr eigen – mehr als die anderen ringsumher sind sie des Leibes ledig, Gott sei ihrer Seele gnädig.

Jedesmal, wenn nach jener preußischen Entscheidungssehlacht in Böhmen eine neue preußische Entscheidungsschlacht in Böhmen geschlagen wurde, kamen hurre, hurre, hopphopphopp Überlebende in sausendem Galopp herangeritten, um sich angesichts der Gräberhügel zu freuen, daß sie gesund geblieben. Als Königgrätz vorbei war, meldeten sich Friedrich Carl Prinz von Preußen und Albrecht Prinz von Preußen zur Stelle, letzterer mit seinem Adjutanten, der den böhmischen Namen eines ehemaligen österreichischen Feldmarschalls führt: »von Radetzky«. Ferner trug sich ins Gästebuch ein »Beneckendorf-Hindenburg, Major a. D. in Diensten des Johanniter-Ordens und sein Sohn:« Hinter diesem väterlichen Doppelpunkt zieht sich dieses Sohnes Unterschrift, eine, die mit Gott dem Herrn nicht hadert, eine kolossale Handschrift quer über die Seite: »Paul von Beneckendorf-Hindenburg, Seconde-Lieutenant im 3ten Garde-Regiment zu Fuß, in der Campagne 1866 Trautenau, Königinhof und Königgrätz, den 24ten August 1866.«

Bescheidener schreiben sich Historiker ein (T. Carlyle, September 14th, 1855), unbescheidener Preußen und andere Militaristen sowie männiglich vom gräflichen Hause der Schwerins. Alldeutsche Vereine atmen hier »deutsche Heldenerde in slawischer Welt«, welche Atmung von Erdreich sie mit vielfachem Heil und noch mehr Ausrufungszeichen unterstreichen.

Ein Namenloser, der anscheinend lange das Buch durchblätterte, die vielen preußischen Adelstitel, die vielen militärischen Rangbezeichnungen und die vielen Jahreszahlen ihrer Besuche gelesen hat, schreibt eine schlichte Feststellung hin: »Immer kamen sie hierher, und immer mußten sie wieder fort.«

 


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