Egon Erwin Kisch
Prager Pitaval
Egon Erwin Kisch

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Gaunerzunft

»Nicht weit von der Königlichen Hauptstadt Prag, auf halbem weeg zwischen Crusteintz und besagter Stadt Prag, an dem Orth, da sich die höhe des Sandbergs anfahet, von dannen man im holen Weg auf die kleine Seiten komt, haben sich einsmals im Sommer, nahend umb S. Margareten Tag, da ohne das die Hitz am größten, zween junge Störtzer ohne gefähr angetroffen . . .«

Auf welch seltsame Abenteuer die beiden Strolche stoßen, die einander auf dem Wege nach Prag, hier, zwischen Chrustenitz und dem Sandberg, gerade um die Zeit des Sternfestes begegnen und alsbald eine Interessengemeinschaft schließen, davon erzählt eine sonderlich merkwürdige Geschichte:

»Von Isaac Winckelfelder und Jobst von der Schneidt
Wie es diesen Beyden Gesellen
in der Weltberühmten Stadt Prag
Ergangen;
Und was Sie daselbst, vor eine Wunderseltzame Bruderschaft Antroffen,
und sich Darein Einverleiben lassen.
Durch Nikolaus Ulenhart beschriben.
Gedruckt zu Augspurg
durch Andream Aperger.
In Verlegung Niclas Hainrichs 1617.«

Diese Geschichte ist bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts fünfmal mit der Ulenhartschen Übersetzung des spanischen Schelmenromans »Lazarillo de Tormes« vereint erschienen und auch als selbständiges Buch aufgelegt worden mit dem Text des Schmutztitels »Ceremoniel der Gaw-Dieb, Banditen und Spitzbuben.«

Das Werk ist das erste des »gusto picarescoBezeichnung für die Schelmenliteratur, die vom Spanien des 16. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm.« in Deutschland, ein Vorläufer der Grimmelshausenschen Romane, eine Hauptquelle zu der Diebesgeschichtensammlung »Der Alten und Neuen Spitzbuben und Betrieger Botschafften und Gewissenlosen Practiquen . . .« und die erste Novelle von Cervantesschem Geist in deutschem Gewand. C. A. Bloedau erklärt in seiner Schrift »Grimmelshausens Simplizissimus und seine Vorgänger« Ulenhart für einen Deutschböhmen, während Schwering (»Literarische Beziehungen zwischen Spanien und Deutschland«) ihn für einen Augsburger hält; auch ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß Ulenhart ein Prager Scholar gewesen sei, denn Ulenhart schmückt seinen Spitzbubenroman aus dem Rudolfinischen Prag (dem die Novelle »Rinconete y Cortadillo« als Vorlage gedient hat) mit Kenntnis lokaler Verhältnisse und mit Pragismen, welche sich einer der damals auf der Alma mater Carolina massenhaft studierenden Fremden leicht, ein durchreisender Besucher aber unmöglich erwerben konnte.

Ulenhart hat die Prager Lokalität nicht bloß als Kulisse, sondern auch zur Verstärkung der Atmosphäre verwandt. Die Vaganten, die zu Beginn des Romans bei Motol Bekanntschaft schließen, lassen einander nicht lange im unklaren über den Zweck ihrer Pragfahrt: der ältere zieht ein Spiel präparierter Karten hervor, um zu erweisen, »zu was End ich diesem Keyserlichen Hof, der sich nun mehr ein lange Zeit in dieser weitberühmbten Stadt enthelt, nachzeuch«, und der jüngere, Schneider Jöbstel, gibt sich als Dieb zu erkennen. Gleich machen sie zum Schein ein Spielchen miteinander, rupfen einen Bauer, der sich zu ihnen gesellt, um dreißig Weißgroschen. Dann tun sie so, als ob sie sich einer Reisegesellschaft nützlich erweisen wollten, und einer der Reisenden läßt den Jöbstel hinter sich auf das Pferd aufsitzen. Es ist ein Italiener – ein zeitgeschichtlicher Hinweis des Autors auf den Fremdenzustrom aus Welschland an den Hof Rudolfs, den die Herren Montecucculi Malascina, Milesimo Caretto, die Grana, Colloredo, Gonzaga und Piccolomini bestallten, während gleichermaßen in der Armee die wüsten Signori Basta, Belgiojoso, Strassoldo und Collalto die Herrschenden waren. Wie der Hof, so das Gesindel, und wir finden auch im späteren Verlauf des Romans als bevorzugte Mitglieder der Prager Gaunerzunft zwei italienische Gesellen wieder.

Jöbstel läßt die Zeit, da er zu Pferde sitzt, nicht müßig verstreichen: er trennt des Italieners Felleisen an der Naht so artig auf, daß sich die Eingeweide des Ränzels alsbald entdecken: zwei Hemden, eine Schlaguhr und eine Schreibtafel. Dieses nimmt Jobst an sich, »weil es zu Prag ohne das keine Porten hat, an deren man die Wahren, so jeder mit sich führt, verzollen darff«. Vielleicht denkt Jöbstel, er müsse dem Welschen die Mühe ersparen, am nächsten Tag in den Theinhof zu wandern und dort für Hemden, Uhr und Notizentafel Ungeld zu bezahlen . . .

Mit dem Raub machen sich die Strolche davon und nächtigen »zunächst beim Strohoff (Strahow), welches ein Kloster ist, zu eußerist an der Stadt Prag, ob dem Rätschin gelegen«. Am nächsten Tag tauschen sie in der Stadt die Beute gegen ein Paar Strümpfe, einen Hut, zwei alte Hosen und zwei Taler Bargeld ein und kaufen neue Schuhe.

So ausstaffiert, betrachten sie das Treiben in der Kaiserstadt. Das rege Leben in den breiten Zufahrtsstraßen des Altstädter Rings erfüllt sie mit guter Hoffnung. Doch fehlt es nicht an einem bittern Hinweis auf Gefahr. Sicherlich würden wir glauben, hier habe Ulenhart allzu schwarz geschildert und die öffentliche Sichtbarkeit und Not der Prager Sträflinge nur deshalb behauptet, um ein Gegenstück zu den Helden der Cervantesschen Musternovelle zu haben, die beim Anblick der Galeeren im Hafen von Sevilla trübselig an ihre Zukunft denken; aber wir wissen aus der Prager Geschichte, daß solche Verhältnisse in den Arrestzellen des Altstädter Rathauses wirklich eine traurige Besonderheit waren und daß unsere beiden Landstörtzer nicht die einzigen gewesen, die sich ob dem Geschrei der Häftlinge entsetzten, »welche sie theils an den Gättern besagtes Rathaus in der Alt-Stadt, teils unter der Erde herfür heulen höreten; und solches um so viel desto mehr, als sie vernahmen, daß die Gefangenen solchergestalt auch in der Gefängniß ihren Unterhalt ersingen und erbetteln müssen«.

Nicht lange wirkt dieses abschreckend nach. Nachdem die Landstörtzer Isaak Winckler und Jobst Schneider genugsam auf der Altstadt, auf der Kleinseite und auf dem Hradschin herumflaniert und nur bedauert haben, daß sie sich nicht auch in den Wladislawschen Saal hinaufwagen durften, verdingen sie sich, dem Rate eines Schlesinger Schwiracken (von čtverak, Schelm, švihak, Schwengel) folgend, als öffentliche Lastträger, als Dienstmänner, Standplatz: Altstädter Ring. Der Schneider stiehlt dem Kücheneinkäufer des Augustinerklosters die Börse und außerdem das Taschentuch. Dies geschieht an der Kreuzung Karlsgasse und Husgasse, »nächst am Eck, da sich die Gasse gar enge zusammengibt und man alsdann auf der rechten Hand zu der Jesuiten-Collegio hienum schlägt«.

Ein einheimischer Strolch hat den Diebstahl bemerkt und schlängelt sich an die beiden unbekannten Kollegen mit der Frage heran:

»Neg sauly panij taky toho rzemesla?« (Ob die Herren nicht auch dieses Gewerbes sind?)

»Der Herr wöll uns verzeihen«, entgegnen unsere beiden Gauner auf diese tschechische Frage ebenso höflich, »wir werstehen nicht wällsch.«

Darauf entschließt sich der Prager Schwirack, ihnen die Meinung auf gut deutsch und ohne Umschweife zu entdecken, und sagt: »Mein frag, so ich euch vorgehalten, ob und wo ihr Böhmisch gelernet, geht dahin, ob die Herren nicht auch Maussköpff seyen? Aber was darff es viel Fragens, weil ich die Probe allbereits gesehen! Begehr also von den Herren zu wissen, ob sie sich bey den Obristen Verwaltern und Praefecto dieser Zunft und Bruderschafft, desswegen und dass sie diss Handwerk ungehindert treiben dörfen, angemeldt.«

Nun ist das Staunen bei unseren beiden Fremdlingen darüber groß, daß die Gauner sozusagen ein offizielles Gewerke haben, und noch verwunderter sind sie, sintemalen sie auch von der Gottgefälligkeit und Ethik dieser Zunft hören. Isaak Winckler und Jobst Schneider erklären sich bereit, in das Syndikat einzutreten.

Der böhmische Kollege begleitet sie und zählt ihnen während des Weges, der »von dem Ring ob der Altstadt biss in die Neustadt hinaus, nahend zu den Neun Spitzen ging«, die Satzungen der merkwürdigen Innung auf.

Die beiden Zugereisten lernen in dem Wyschehrader Klub der Diebe deren Frömmigkeit, Ordensregeln, Disziplin und Einverständnis mit den Behörden kennen, und sie nehmen Einsicht in das Verzeichnis der von adeligen Herren und Bürgern bei ihnen bestellten Verbrechen und »gemeinen Despect, worunter auch der ist, dem Wirth im Gruenhauss (gemeint ist das Gränhaus auf dem Altstädter Ring) zwölf trockene Straich auff dem Rucken« zu verabfolgen. Auch in der Wälschen Gasse, auf der Kleinseite, haben sie einen wichtigen Auftrag auszuführen, einem Kaufmann einen »Schmitz« von zwölf Zoll Länge ins Gesicht zu versetzen, was aber auf eine Wunde von acht Zoll herabgemindert wird, da das Antlitz des zu Brandmarkenden wenig Raum bietet (damit, daß nur der Diener das Schandmal vom ursprünglich gewünschten Ausmaß erhalten hat, stellt sich der aristokratische Auftraggeber nicht zufrieden).

Syndikus der Diebe- und Räubergenossenschaft ist ein Mann, den man gemeiniglich »Zuckerbastel« nennt. (Grimmelshausen beginnt, die Kenntnis des Ulenhartschen Romans bei seinen Lesern voraussetzend, den »Abenteuerlichen Simplizissimus« mit einem Angriff gegen die modernen Gecken, die sich als Adelige aufspielen, während ihr ganzes Geschlecht bis zum zweiunddreißigsten Ahnen »also besudelt und befleckt gewesen, als dess Zuckerbastels Zunfft zu Prag immer seyn mögen«.)

Der Zuckerbastel nimmt unsere beiden Freunde in die Gemeinschaft auf, nobilitiert sie mit den hochtrabenden Titeln »Isaac von Winckelfelder« und »Jobst von der Schneidt«, zieht sie zur Tafel heran, bei der es unter anderem KolatschenTschechisches Gericht, eine Art kleiner runder Kuchen., »ein Trunck weißen Bieres« und ein Fässel Rakonitzer Bieres gibt, und weist den zwei Neuen den Bezirk »ober dem Räthschin von des Ertzbischoffen Palatio anzurechnen, biss hinauss vür das Capuciner Kloster, von dannen hinumb biss zum Strohoff, und daselbst durch den holen Weeg herab, biss zum Thor, nächst bey der Herberg zum Türcken genannt« als Jagdrevier für künftige Gaunertaten an, wodurch sie vollberechtigte Prager Strolche werden, die ersten, von denen in der Weltliteratur die Rede ist.

 


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