Egon Erwin Kisch
Prager Pitaval
Egon Erwin Kisch

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Komensky im Kasernenarrest

Eine interessante Kriegsbestimmung hat Naarden, die niederländische Festung. Rings um Amsterdam sind von der Zuidersee bis zur Nordsee zwei Gebiete bestimmt, aus denen im Augenblick, da der Feind kommt, die Bevölkerung evakuiert werden soll, damit die Deiche durchstochen und alle Ländereien unter Wasser gesetzt werden können, einen Fuß hoch.

Aus diesem einst dem Wasser entrissenen und gegebenenfalls aus militärischen Gründen wieder dem Wasser preisgegebenen Land soll die Zitadelle Naarden emporragen, dem Feind ein »Halt« zurufen, wenn er die Flächen trockenlegen und mit seiner Armee einen Marsch durch die Marschen versuchen wollte. Was Verdun für Paris, ist Naarden für Amsterdam.

In der letzten Zeit haben jedoch Geologen ausgerechnet, daß der Boden Hollands sich im Laufe der Jahrzehnte gesenkt hat, im Falle eines Dammdurchbruches das Wasser der Überschwemmungsgebiete daher mindestens achtzig Zentimeter hoch stünde und der Feind auf Schiffen einfahren könnte. Dies wird praktisch nicht zu beweisen sein, und die strategische Linie bleibt im Kalkül, aber Naarden wird trotzdem geschleift, da der letzte Krieg auch die neutralen Staaten gelehrt hat, daß Bombengeschwader die Herrlichkeit von Wällen und Zinnen im Nu vernichten.

Mit einem Freund, der seine Kindheit in Naarden verbracht hat und alle Bastionen und Traversen, alle Schießscharten und Luken besser kennt, als ein Artillerist sie je kennen kann (weil ein Artillerist nicht jahrelang darin als Feind und Freund, Belagerer und Belagerter, Soldaten und überdies noch Indianer gespielt hat), gehe ich über die Brücke und über das Wasser des Festungsgrabens, der sich durch nichts von den tausend Weihern und Grachten Hollands unterschiede, wären an seinem scharfkantigen Ufer nicht die Öffnungen – Auspuff der eingebauten Kanonen und Unterstände.

Über das schwarze Wasser zogen Schiffe mit Munition, ihre Löschung und Einlagerung war das Erlebnis der Knaben von Naarden; wirkliches Pulver und wirkliche Granaten und wirkliche Patronen! »Wir haben das Zeug seither zur Genüge kennengelernt«, sagt mein Freund und meint damit, daß die Jugend von damals wehrpflichtig geworden und mit dem »Zeug« umgehen gelernt hat. Dieses »zur Genüge« war der Jugend außerhalb Hollands noch lange nicht zur Genüge, in uns weckt der Begriff Artilleriemunition viel grausigere Erinnerungen.

Doch kam ich nicht hierher, in den stillen Weiher zu gucken, auf die über seinen Spiegel geklatschten Wasserrosen, und dabei an imperialistischen Krieg zu denken; ich kam, den Philosophen Johann Arnos Komensky zu besuchen, der der Gründer der Pädagogik, ein Internationalist und mein Landsmann war.

Er ist drinnen in der Stadt begraben, die der Harnisch aus Mauerwerk umzwängt, ohne daß sie dadurch etwas von dem friedlichen Charakter niederländischer Kleinstädte verliert; die verbergen nichts, weder die Struktur der Backsteine noch das Leben hinter den Fenstern des Vorbaus, aber die nehmen aus dieser Offenheit auch das Recht auf Neugierde, wovon die schrägen, neben jeder Scheibe in die Straße ragenden Spiegelchen Zeugnis ablegen.

Das Kaffeehaus heißt »Het Gooische Koffiehuis«, ein Zigarrenladen und ein Hotel nennen sich stolz »Het Gooiland«, denn Naarden ist nicht nur der militärische Vorposten der Reichshauptstadt, sondern selbst eine Hauptstadt, die des alten Waldgebietes Gooi.

Gravitätisch schreiten die Bürger. Sie haben den Kopf voll von Tulpen, Käse und Kühen, die Geschäfte gehen gut, die inneren Probleme scheinen nicht groß, und ich staune, wenn ein Hüne mit glattrasiertem Schädel und Gesicht hutlos durch die Straßen stürmt und den Gruß meines Begleiters herzlich, aber eilig erwidert. Das ist Hermann Gorter, ein großer Dichter; er hat dem Lärm der großen Städte entsagt und der Literatur, er will nichts von alldem wissen und lebt von Nachhilfestunden in Latein und Griechisch im stillsten Teil des Gooilands.

Weit zurück reicht die kriegerische Vergangenheit von Stadt und Festung Naarden. So oft wurde gebrandschatzt, daß aus Egmonts Tagen nur noch drei Bauten blieben, das Rathaus, die Schmiede und das Spanische Haus. In dessen Fassade ist eine bunte Relieftafel eingelassen (Skulpturen haben bunt zu sein, wir müssen das wieder lernen!), spanische Hellebardiere zeigend, die eine Versammlung massakrieren.

Der dies nefastusUnglückstag. von Naarden war der 1. Dezember 1572: in der Lazarettkirche hatten sich die fünfhundert vornehmsten Bürger zusammengefunden, um über die Friedensbedingungen mit den Spaniern zu beraten, als plötzlich ein Priester unter die Versammelten trat und sie aufforderte, sich auf den Tod vorzubereiten. Gleich darauf brach die Soldateska ein, Musketenschüsse, Degenstöße und Hellebardenstiche machten Naarden um fünfhundert Bürger ärmer.

Die Stadt wurde niedergebrannt, und von der Lazarettkirche, in der sich der Massenmord ereignet hatte, blieb nur das Mauerwerk. Jetzt ist ein Comenius-Museum darin untergebracht, aber das Gebäude hat mit Comenius nichts zu tun – der hätte sich kaum entschlossen, in dem Hause zu wohnen, dessen Schicksal an das seines eigenen Hauses in Fulnek erinnerte, das gleichfalls von spanischen Arkebusieren eingeäschert worden war.

Man muß also darauf verzichten, die bewußte Weihe der Örtlichkeit zu empfinden; nur Reste von eingebauten Backtrögen, Backöfen und Kaminen sind aus vergangener Zeit hier zu entdecken – Spuren der Militärbäckerei, die vor den Comenius-Reliquien das Haus innehatte, unser Begleiter entsinnt sich noch.

Das Museum ist recht bescheiden, es enthält nur Bücher, »Orbis sensualinum pictus«, »Historia fratrum Bohemorum«, »Pansophiae Diatyposis«, »Pansophiae Prodromus«, »Didactica opera omnia«, einige Reproduktionen bekannter Comenius-Porträts, einen tschechoslowakischen Fünfkronenschein mit dem Kopf von Komensky, Gipsabgüsse der Modelle für das Amsterdamer Denkmal, Bilder der beiden Beschützer Comenii, des Grafen Karl von Zierotin und des Mijnheer Lodewijk de Geer, die alte Landkarte Mährens, einen Glasschrank mit welken Kränzen, die von pädagogischen Gesellschaften hier niedergelegt wurden, und eine Vitrine mit Visitenkarten von Landsleuten.

Einziges Original ist das aus gehefteten Pergamentblättern bestehende Totenregister der Wallonischen Kirche, worin ein Rubrum die Eintragung enthält:

»No. 8. Johannés Amos Coménius, le fameux
Autheur du Janua Linguarum
c'est aparamment enterré le 22. novembre 1670.«

(Nr. 8. Johannes Arnos Comenius, der berühmte
Verfasser des Janua Linguarum,
wurde offenbar am 22. November 1670 beerdigt.)

Dunkler ist die Tinte, mit der zwei Männern, die sechzig, siebzig Jahre später starben, von dem Schriftführer, offenbar absichtlich, die Ehre angetan wurde, in die gleiche Rubrik (kaum aber in dieselbe Gruft) mit dem großen Philosophen eingesetzt zu werden: dem Schriftsteller Brouwerus van Niderth, gestorben 15. Juni 1742, und dem Mr. Louis Guerre, der, seinem Namen Rechnung tragend, Capitain des Invalides war und schließlich Kirchenältester der Wallonischen Gemeinde von Naarden, gestorben 1730. Diese beiden Einfügungen sub numero 8 stammen aus den angegebenen Sterbejahren und sind jünger als die Notiz über Comenius, aus dem siebzehnten Jahrhundert rührt jedoch auch diese nicht her. Übrigens spricht das Wort »aparamment« dem Dokument den dokumentarischen Wert ab.

*

Auf dem Rangierungsplatz der Festung, zwischen dem pseudogotisch geschmückten Utrechter Tor und der Pionierkaserne, exerzieren Soldaten in Gruppen, ein Zug übt Öffnen in ein Glied, ein zweiter Schwenkungen, ein dritter macht Gewehranschläge, Ziel: die Spitze des Monuments. Das Monument ist dem Hus-Denkmal in Konstanz ähnlich, ein Hügel, den eine dichte Lage Efeu überwächst, nur vorne und hinten je eine Tafel freilassend. Auf diesem Denkmal, 1892 aufgerichtet, weil Comenius zu Ehren Naardens in Naarden starb, ist in Marmor gemeißelt, daß Comenius am 17. November 1670 – in Amsterdam starb.

So steht ein Fehler auf dem Denkmal des Philosophen, das an sich fehlerhaft steht: auf einem Festungsplatz, wo Kanonen starren und wo es den Gewehren lernender Soldaten als Zielscheibe dient. Die Deplaciertheit hat man wohl empfunden und stellte 1920 draußen im Park vor dem Wall ein zweites Monument, aber Büste und Backsteinunterbau sind konventioneller Kitsch.

*

Von der Wallonischen (Französischen) Kirche blieb noch ein Trakt, gerade der Altarteil, unter dem Komenskys Gebeine beigesetzt sind. Das hohe spitzbogige Fensterwerk ist vermauert und kleine quadratische Fenster sind ausgebrochen. Am Fuß eines der Strebepfeiler lehnt ein Schilderhaus. In weitem Karree schließt sich ein Komplex von Militärbauten an, die Weeshuiskaserne, in der das 7. Festungsartillerieregiment untergebracht ist; 1845 hat das Kriegsministerium das Eigentumsrecht an der Wallonischen Kirche erworben und dieses als Magazin der Genietruppe verwendet, bis 1861 eine Schützenkompanie hier untergebracht wurde, was den Umbau der Kirche nötig machte; am 10. April 1861 war die Verweltlichung des religiösen Baues vollendet, und mit Ausnahme einer im Jahre 1896 aufgeführten Wand findet sich im »Buch der Naardener Garnison« (Niederländisches Archiv der Genietruppe) keine bauliche Veränderung verzeichnet, also auch keine Verlegung von Grüften.

Wir wollen zum Grab von Comenius, und der Torposten holt, nachdem er uns davon abgeraten hat, da gar nichts zu sehen sei, den Wachkommandanten, der uns gleichfalls vor übertriebenen Erwartungen warnt und aufschließt.

Aufschließt? Was schließt er auf? Er öffnet eine eisenbeschlagene Tür, über der mit Kalk gemalt ist: »Nr. 10 A.« Und darunter: »Voor 3 Man.« Das ist die Zelle des verschärften Arrests. Eine Tragbahre und zwei hölzerne Pritschen nebeneinander, der Wachkommandant lüftet die Fensterladen – durch das Gitterfenster dringt die Sonne des Gooilands nur trübe herein – er hebt die Tragbahre und eine Pritsche auf, »da unten«, er deutet auf die Steinfliesen, auf denen jetzt bloß der Abortkübel und drei Garnituren von Hand- und Fußfesseln liegen, »da unten liegt Comenius begraben. An dieser Stelle war die Grabplatte, die jetzt in Prag im Museum ist.«

Hier also dürfen wir die bewußte Weihe des Ortes empfinden, die wir vorher vermißten; hier, wo jetzt der Eimer steht, stand der Altar, das vergitterte Kerkerfenster war einst eine hohe, fromm bemalte Scheibe, durch die der Himmel leuchtete, und unter den drei Ketten mit Schließen und Schlössern schläft der große Humanist den Schlaf der Ewigkeit.

Der Wachposten hatte recht: es gibt wenig zu sehen, die Wände sind beschrieben, ein Arrestant hat mit dem Fingernagel ein Schiff in die Tünche gekritzelt, die anderen, denen ein Bleistift verblieben war, verewigten Namen und Datum auf der Mauer.

»Wird dieses Arrestlokal viel benützt?«

»Nein, fast überhaupt nicht mehr.« Da der Wachkommandant bemerkt, daß ich ein Datum von voriger Woche an der Wand entziffere, fügt er hinzu: »Nur wenn die anderen Zellen besetzt sind.«

Ich lasse mir den Gebrauch der Spangen erklären, mit Neugierde, mit gespielter, denn ich kenne dieses Instrument der Folter, ich war als österreichischer Soldat im Manöver . . . Der Wachkommandant zieht den Schlüssel hervor und zeigt die Konstruktion, eine Schelle legt er mir über den rechten Fußknöchel, die andere über den rechten Handknöchel, und die Kette macht die beiden Eisenklammern zu einem kommunizierenden Gefäß, ich sitze gekrümmt da, wie 1905 im Berauner Kaisermanöver.

»Aber das wird nicht mehr angewendet«, sagt der junge Wachkommandant, obwohl ich, von einem Naardener Bürger eingeführt, keines Verrats verdächtig bin.

»Wozu haben Sie dann die Schlüssel?«

»Na ja, wenn doch jemand ganz bösartig ist . . ., betrunken zum Beispiel.«

»Und die Tragbahre, die ist auch für Betrunkene?«

»Für Kranke überhaupt.«

»Die Tragbahre für Kranke müßte doch im Marodenzimmer sein?«

»Dort sind auch welche.«

»Warum werden die Gebeine von Comenius eigentlich nicht ausgegraben?«

»Ja, unter dem Altar der Wallonischen Kirche sind vier Menschen beerdigt. Man könnte schwerlich feststellen, welches der richtige ist. Während man jetzt wenigstens die Stelle verehren kann, wo er begraben ist.«

Ein würdiger Platz für Verehrung – über dem großen Humanisten des Internationalismus und der Pädagogik sitzen verhaftete Soldaten, der eine, betrunken, ist an Arm und Bein festgekettet, der andere benützt den Kübel, der dritte kratzt seinen Namen in die einstige Kirchenwand.

Ein Bild, das Johann Amos Comenius niemals in seinen »Orbis pictus« aufgenommen hätte!

 


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