Egon Erwin Kisch
Prager Pitaval
Egon Erwin Kisch

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Ein gefälschtes Kulturdokument

Ein halbes Jahrhundert war die literarische Welt voll Bewunderung für die böhmische Handschrift gewesen, und fast ein halbes Jahrhundert hat es dann gedauert, bevor der Kampf zwischen den Gelehrten aller Zungen entschieden und der kostbar bewertete Fund als Fälschung entlarvt war.

Am 16. September 1817 hatte der junge Wenzel Hanka, einer der hoffnungsvollsten Kenner der altslawischen Literatur, im Kirchturm des Elbestädtchens Königinhof unter Hussitenpfeilen ein altes Manuskript aufgestöbert: zwölf Blätter und zwei Pergamentstreifen. Es standen lyrische, epische und lyrisch-epische Dichtungen in tschechischer Sprache darauf, und in einem freudestrahlenden Brief berichtete er seinem Gönner, dem gelehrten Abbé Dobrovsky, von seinem Fund. Der war nicht minder glückselig erregt. Und auch die an Kunst und Wissenschaft bislang nicht sehr interessierten Nationalisten wurden es, als bald darauf Dobrovsky, Hanka und Palacky den gehobenen Schatz kritisch ergänzend und folgernd edierten, die Entstehung der Schrift auf die Zeit zwischen 1280 und 1290 und die geschilderten Ereignisse auf die Zeit um 830 festsetzten.

Das Aufsehen war auch außerhalb Böhmens ungeheuer groß. Goethe begrüßte den Fund und hat die deutsche Übersetzung des lyrischen Gedichtes »Das Sträußchen« in sechszeilige Strophen umgestellt, Grimm und Chateaubriand veröffentlichten begeisterte Mitteilungen, La Motte-Fouqué verfaßte ein Huldigungsgedicht an den Finder, die Literaturhistoriker aller Universitäten entdeckten neue Wichtigkeiten und Schönheiten in den Königinhofer Blättern, zu Berlin und Rom gab es Leute, die Tschechisch lernten, um das Epos von Jaroslaw im Urtext zu lesen.

Die Gelehrten rektifizierten auf Grund der neuaufgefundenen Angaben ihre Lebenswerke, es entstand eine militante nationale Tendenzdichtung, aber auch eine tiefe neue Lyrik in tschechischer Sprache, im Volke erwachte nicht bloß begeisterte Verehrung für die kriegerischen Recken, von denen man durch die Pergamente Kenntnis erhalten, sondern auch Liebe zur Sprache. – Die Entdeckung der Schrift erfolgte zum Zeitpunkt einer besonders lebhaften nationalen Entwicklung, die das politische Leben bei den Tschechen genommen und die sich bei keinem zweiten Volk je in dieser erfolgreich energischen Weise vollzogen hat. Und es war eine selbstverständliche Pflicht der Dankbarkeit, daß am vierzigsten Jahrestag des Königinhofer Fundes die Literaten und Dichter unter Führung Nerudas vor Hanka erschienen, ihm dafür zu danken, daß seine glückliche Hand die heimische Kunst aus ihrem vielhundertjährigen Schlaf zu neuem Schaffen erweckt. Hanka hatte sich nicht mit der Entdeckung begnügt, sondern inzwischen in den Bibliothekssammlungen sieben andere alttschechische Schriften aufgestöbert, in den lateinischen Urtext eingefügte Übersetzungsfragmente aus dem Evangelium Johanni (zehntes Jahrhundert) und der Psalme 109 und 145, tschechische Glossen in einem Exemplar des Mater Verborum, das Lied auf den Wyschehrad, die Prophezeiung Libussas und eine ihm aus Grünberg eingesandte Handschrift. Er war also aller Ehren wert.

Aber ein Jahr nach dem feierlichen Jubiläum platzte eine Bombe in den Taumel: in einer anonymen Feuilletonreihe des heute längst nicht mehr bestehenden »Tagesboten aus Böhmen« wurde, offenkundig auf Grund von Untersuchungen eines Fachmannes, der Verdacht ausgesprochen, daß die große Königinhofer Handschrift eine Fälschung und der große Wenzel Hanka ein Fälscher sei. Welch ein Kampf entbrannte nun! Es ging nicht allein um wissenschaftliche Wahrheit; politische, antitschechische Motive und eine gewisse Schadenfreude hatten die Hand des Artikelschreibers geführt. Ebenso wurde auch drüben der Wille zur Wahrheitsfindung von dem Motiv verstellt: »Right or wrong, my country!«»Recht oder Unrecht, mein Vaterland!« Hanka selbst, der die fünf Artikel »Handschriftliche Lügen und paläographische Wahrheiten« vornehm übersehen wollte, mußte unter dem Druck der Öffentlichkeit dennoch die Klage überreichen.

Das Prager Landesgericht hat am 25. August 1859 den Angeklagten David Kuh, Herausgeber des »Tagesboten aus Böhmen«, des im § 498, Strafgesetz, bezeichneten Deliktes gegen die Sicherheit der Ehre, begangen durch die Presse, schuldig gesprochen und deshalb mit Arrest in der Dauer von zwei Monaten mit Fasten am ersten und dritten jedes Strafmonates und mit dem Verfall des Kautionsbetrages von hundert Gulden bestraft, sowie zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt. In der Begründung des Urteils wurde erklärt, daß die Artikel »keine andere Deutung zulassen, als daß W. Hanka so lange den Schimpf eines literarischen Betrügers auf sich haben werde, solange er sich nicht gereinigt habe, und daß er, da die paläographische Praxis bisher nicht stattfand, jetzt noch ein Betrüger sei«.

Das Oberlandesgericht von Prag, das am 26. September 1859 dieses Urteil bestätigte, hat noch mehr in den Artikeln des »Tagesboten« gesehen: die Beschuldigung, daß »Hanka das Publikum wissentlich irregeführt und getäuscht habe. Daß aber eine solche Beschuldigung den Vorwurf einer unehrenhaften Handlung in sich schließe, kann nach Ansicht des Oberlandesgerichtes nicht bezweifelt werden«.

Der Oberste Gerichtshof, an den nun der Prozeß weiterging, teilte die Auffassung der beiden niederen Instanzen nicht. Er hat das Urteil abgeändert und befunden, daß David Kuh von dem ihm angeschuldeten Vergehen freigesprochen und schuldlos erkannt werde. »Die Entscheidung der Frage, ob einige und welche von den entdeckten Manuskripten wirklich echt oder Produkte der neueren Zeit seien . . ., steht dem Strafgericht nicht zu, weil diese Schriftstücke keine Urkunden sind, aus welchen Privatrechte abgeleitet werden, sondern deren Inhalt bloß dem Gebiete der Literatur angehört . . . Übrigens hat der Inhalt der Königinhofer Handschrift einen so allgemein anerkannten inneren literarischen Wert, daß dieselbe, wie Hanka selbst angibt, in siebzehn Sprachen übersetzt worden ist. Wenn daher einem noch Lebenden die Verfassung derselben angeschuldigt würde, so wäre diese angedichtete Verfassung offenbar keine so unehrenhafte Handlung, welche denselben in der öffentlichen Meinung verächtlich machen oder herabsetzen würde, sondern es würde vielmehr die Gewißheit, daß er der Verfasser sei, wahrscheinlich seinen literarischen Ruf begründen und erhöhen (!), wie dies z. B. bei Macpherson der Fall war.« (Oberstgerichtl. Entsch. vom 12. April 1860, Z. 3166.)

Schon während die Artikelserie im »Tagesboten« erschien, schon während der Gerichtsprozesse fragte man sich, wer die Artikel inspiriert, wessen wissenschaftliche Ergebnisse es waren, die David Kuh hier journalistisch instrumentiert hatte. Aber die Gegner und die empörte Menge konnten nicht erfahren, wer zum erstenmal vor der heimischen Öffentlichkeit den großen Verdacht geäußert hatte. Vermutung Numero eins: der Bibliothekar Wenzel Nebesky sei es gewesen. Nebesky aber stellte am 20. Dezember 1860 öffentlich fest, daß er nicht bloß an den Veröffentlichungen keinen Anteil habe, sondern erklärte auch, daß ein solcher Anteil »eine abscheuliche Perfidie« gewesen wäre, und sprach sich entschieden für die Echtheit der Königinhofer Handschrift aus. Zweite Kalkulation: Dr. Legis-Glückselig, der Biograph Hankas, sei der Autor; auch dies stellte sich als falsch heraus. Jeder fragte David Kuh nach seinem wissenschaftlichen Hintermann. Aber selbst auf die Fragen seiner intimsten Freunde zuckte er nur die Achseln.

Bald nach dem Prozeß starb Hanka. Sein Begräbnis war das eines Monarchen. Prag war schwarz beflaggt, alle Glocken läuteten, Hunderte von Fackelträgern, Hunderte von Laternenträgern, Sänger, die Kapuziner, die Franziskaner, die Domherren, der Adel, die Professoren, der Stadtrat, Delegierte aus Bulgarien, Serbien, Kroatien, Vertreter fremder Akademien, die Vereine, zwölftausend Männer schritten im Zuge, Franz Palacky, Fürst Thurn-Taxis, Ladislaus Rieger, Wenzel W. Tomek, Wenzig, Brauner und Friè hielten das Bahrtuch, Mitglieder des Lesevereins trugen Hankas Orden und Graf Kaunitz die mit Lorbeer umkränzte Königinhofer Handschrift.

Zwanzig Jahre gingen ins Land. Jetzt war es ein Gelehrter und Konnationaler, der Wiener Tscheche Professor Schembera, der es wieder wagte, an der Echtheit des Königinhofer Fundes zu zweifeln. Auch er begegnete einer Einheitsfront der Abwehr, wurde als Verräter in Bann getan. Dennoch nahmen nach zehn Jahren die Gelehrten Gebauer, Goll und Masaryk den Kampf von neuem auf, einen Kampf, der die Straße ergriff. Führer jener, die die Echtheit verteidigten, war der Archäologe Professor Josef Ladislaus Piè. Schließlich erkannte wohl auch er, daß sein Lebenswerk von irriger Auffassung ausgegangen, die Handschrift gefälscht sei: am 19. Dezember 1911 entleibte er sich. Die philologischen, literarhistorischen, historischen, linguistischen und paläographischen Untersuchungen haben einwandfrei erwiesen, daß Hanka mit Hilfe seiner Freunde, des sprachenkundigen Bohemiens Linda, des Historikers Svoboda von Navarov und des Malers Horčička, die Königinhofer Handschrift gefälscht hat und die sieben anderen Pergamente ebenfalls. Es gibt keinen Streit um die Königinhofer Handschrift mehr.

Eingeleitet hatten den Kampf jene anonymen Artikel. Auch Johann Herben, der journalistische Führer im Kampf der Wahrheit gegen die Handschriftenfälschung, spricht schon im ersten Absatz seiner geschichtlichen Darlegung »Boj o podvrzená rukopisy« (Der Kampf um die unterschobenen Handschriften) von den Feuilletons im »Tagesboten«. Wer aber war der Verfasser? Es schien, daß die Frage nie mehr beantwortet werden würde, denn David Kuh, der einzige Mitwisser, war schon lange tot. Da starb im Januar 1913 ein emeritierter Bibliotheksbeamter in Prag, Regierungsrat Anton Zeidler, neunzig Jahre alt. Und nun trat der Sohn David Kuhs mit der ihm vom Vater anvertrauten Mitteilung hervor, Zeidler sei es gewesen, der vor fünfundfünfzig Jahren das Material zu den Artikeln geliefert hatte.

Also ein kleiner, fünfunddreißigjähriger Bibliotheksbeamter, nichts von den ängstlich gehüteten Bedenken der großen Gelehrten wissend, hatte verstohlen die Handschrift überprüft und festgestellt, daß das große, von der ganzen Welt bewunderte Werk nichts weiter sei denn eine Fälschung. Tausend Zweifel, tausend Skrupel jagten ihm durch die Brust, bevor er den Weg in die Öffentlichkeit wagte. Er schlich ihn ungesehen. Er wahrte die Anonymität, vielleicht weil er Staatsbeamter war, vielleicht weil er verhüten wollte, daß der Brand, einmal entfacht, furchtbar aufflamme und seine Gelehrtenstube ergreife.

Aber Jahrzehnte später, als der von ihm begonnene Krieg siegreich geendet, als schon den mutigen Enthüllern beinahe die gleichen Ehrungen zuteil geworden waren wie einst dem Fälscher, hätte Zeidler nichts fürchten müssen. Jetzt war er nicht Staatsbeamter mehr, jetzt war die Wahrheit seiner Untersuchungen und seiner Folgerungen vollkommen dargelegt, und jene Männer der tschechischen Nation, die Masaryk und Gebauer nicht bloß um ihres nationalen Mutes, sondern auch um ihrer wissenschaftlichen Argumentation willen bewunderten, hätten in ihrem Innern nun wohl oder übel tausendmal mehr den Forscher bewundern müssen, der schon viele Jahrzehnte vorher das Werk in Angriff genommen, den Zweifel an etwas bis dahin Anerkanntem ausgesprochen und nicht bloß das Für und Wider gegeneinander abgewogen hatte.

Jedoch Zeidler schwieg noch immer . . ., eine Gelehrten-, keine Kämpfernatur . . ., kein Mutiger, aber auch kein Ehrgeiziger . . ., blieb unbekannt, ungenannt . . .

Am Komenskyplatz war seine Wohnung, ebenerdig, gleich hinter dem Bierausschank. Von einem Wagen überfahren, konnte er das Zimmer nicht verlassen; schon morgens ließ er sich täglich aus dem Bett heben und las in spanischen, englischen und mittelhochdeutschen Werken, oder er schrieb. Nur selten empfing der alte Junggeselle Besuch. Sein Freund, der Ästhetiker Josef Bayer, war längst nach Wien übersiedelt und dort gestorben. In der Vorrede zu Bayers letztem Buch steht: »Weiter in meinem Lebensgange zurückblickend, drängt es mich aber, meinen besten und ältesten Freund, den Regierungsrat und em. Vorstand der Prager Universitätsbibliothek Anton Zeidler, zum Schlusse in diesem Vorworte persönlich anzusprechen: Einen brüderlichen Gruß des Greises an den lieben, mir so teuren Greis. Lasse es mich vor aller Welt dir sagen, wie gar so viel ich dir von meinen früheren Jahren bis in unser hohes Alter zu danken habe. Mit deiner umfassenden Gelehrsamkeit und tiefgegründeten Bildung bist du mir oft tief einsichtsvoller Ratgeber, liebreich besonnener Beurteiler gewesen, wie du denn vom ersten Federzuge an mit treuestem Freundesblick wachtest. Hier sind nun einige der letzten Federzüge: Möge in der Stille dein Segen ihnen nicht entgehen.«

In den letzten Jahren kamen nur noch die Schwester des verstorbenen Orientalisten, Hofrates Ludwig, Hofrat Virgil Grohmann und der Privatgelehrte Ottomar Keindl zu Besuch. »Zu Herrn Keindl habe ich noch kurz vor dem Tode einen Brief vom Herrn Regierungsrat getragen«, erzählt die alte Wirtschafterin.

Bei Ottomar Keindl ist Zeidlers letzter Brief, ein Dokument seiner Bescheidenheit: »An meinen lieben, guten, edlen Freund Herrn Ottomar Keindl! Es wäre vergeblich, nach meinen zwei Schriften ›Der Mammon in der Weltgeschichte‹ und ›Ein Humanistenkreis in den Vogesen‹ zu suchen. Seit fünf Jahren verhindert, an diesen beiden Schriften zu arbeiten, habe ich die für niemand brauchbaren Fragmente vernichtet. Über meine Entdeckung eines Nibelungenbruchstückes in dem lateinischen Werke der k. k. Universitätsbibliothek ›Serminoes Pomerii fratis Pelbarti de Themesvar. Hagei naw per Henricum, Gran 1500, 8. die Juni (fol.)‹ findet sich einiges in Pfeifers ›Germania‹ vom Jahre 1862. Mit herzlichen Grüßen A. Zeidler.«

Von der Prager Stephanskirche aus trug man Anton Zeidler zu Grabe. Seinem Sarge folgten sieben Menschen.

 


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