Egon Erwin Kisch
Prager Pitaval
Egon Erwin Kisch

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Der Fall des Generalstabschefs Redl

Im Jahre vor Beginn des Weltkrieges hat der erzwungene Selbstmord des Generalstabschefs des Prager Korps, Oberst Alfred Redl, und die bald darauf bekanntgewordene Tatsache seiner Spionagetätigkeit beispielloses Aufsehen hervorgerufen, was durch die gespannte europäische Lage politisch und durch den Rang und den Wirkungskreis des Täters kriminalistisch begründet war. Gerüchte, Interpellationen, Beschuldigungen, Verdächtigungen und Kombinationen überstürzten sich bis in den Winter 1914, in welchem sich sowohl in Rußland als auch in Serbien der Aufmarsch der österreichisch-ungarischen Armee als mißglückt entschied.

Allein wie es die Tendenz des Befehls zu »freiwilligem« Selbstmord gewesen war, den monströsen Vorfall lautlos aus der Welt zu schaffen, so hat man auch nachher, als sich dieser Plan schon längst als undurchführbar erwiesen hatte, kein Wort darüber verlautbart, für welche Großmächte der Generalstabsoberst seine Spionage betrieben, was er verraten, wohin er die militärischen Dokumente geliefert, wieviel Geld er dafür bekommen und wer schließlich den ungeheuerlichen Auftrag gegeben hatte, daß sich ein Mensch selbst zu entleiben habe, wer dies Harakiri überwachte und wie sich die Wirkung dieses Vorfalles auf Hof und Wehrmacht äußerte. Ja, selbst über die Entdeckung der Tat und die Überführung des Täters wurden nur Darstellungen bekannt, die einander widersprachen oder die Wahrheit verschleiern sollten.

Der damalige Chef des Evidenzbureaus (Spionage und Spionageabwehrdienst in der österreichischen Armee), August Urbañski von Ostromiecz, wurde im Zusammenhang mit dieser Affäre viel genannt.

Angesichts der latenten Kriegsgefahr, in welcher Österreich-Ungarn seit der Annexion Bosniens schwebte, mußte Urbañski, der 1908 das Evidenzbureau des Generalstabes übernommen hatte, bemüht sein, die Kundschafterstelle auszubauen. Unter seinem Vorgänger, General von Giesl, hatte der damalige Major Alfred Redl die Leitung der Kundschafterstelle innegehabt, der die gesamte aktive und passive Spionage Österreich-Ungarns unterstand, das heißt die Organisation der Auskundschaftung fremder Militärverhältnisse und die Abwehr fremder Spionage im Inlande. Das Bureau war kriminalistisch modern organisiert, jeder geheime Besucher wurde im Profil und en face photographiert, ohne daß er davon wußte, denn in zwei Gemälden waren Öffnungen für die Linsen photographischer Apparate eingeschnitten, die vom Nebenzimmer aus bedient wurden.

Ebenso konnten von jedem Anwesenden ohne sein Wissen Fingerabdrücke hergestellt werden; der Offizier telefonierte und reichte mit der einen Hand dem Besucher oder der Besucherin Zigarettenschachtel oder Bonbonniere hin – sie waren unsichtbar mit Seidenpulver bestreut; auch Feuerzeug und Aschenbecher, die der Raucher zu sich heranziehen mußte, waren derart präpariert. Lehnte der Besucher sowohl Bonbons wie Zigaretten ab, so ließ sich der amtierende Generalstäbler aus dem Zimmer abberufen – neigte der Gast zur Spionage, nahm er gewiß den Akt zur Hand, der auf dem Tisch vorbereitet lag und mit dem Vermerk »Geheim! Für reservate Einsichtnahme!« versehen war. Auch dieses Dokument war mit Seidenpulver bestreut.

In einem Kästchen an der Wand, einer Hausapotheke ähnlich, war ein Schallrohr eingebaut; es konnte dem Stenographen im Nebenzimmer als Horchapparat dienen, aber auch den metallenen Stift in Bewegung setzen, der das Gespräch wortgetreu in eine Grammophonplatte einritzte. Jedes Buch oder Aktenstück konnte binnen weniger Sekunden auseinandergeheftet, an die Wand projiziert, seitenweise photographiert und wieder gebunden werden, so daß es in kürzester Zeit wieder – wie unberührt – an der Stelle war, von wo es »entliehen« worden. Man hatte hier Alben und Kartotheken mit Lichtbildern, Handschriften und Maschinenschriftproben aller spionageverdächtigen Personen Europas, besonders der Spionagezentren in Brüssel, Zürich und Lausanne.

Von 1900 bis 1905 hatte der Generalstabsoffizier Alfred Redl als Sachverständiger in allen Wiener Spionageprozessen fungiert: unerbittlich, keine mildernden Umstände gelten lassend, das Höchstmaß der gesetzlichen Strafe fordernd. Im Jahre 1902 hatte er durch sein energisches Auftreten die Verurteilung des ehemaligen Offiziers Alexander von Caric zu viereinhalb Jahren schwerem Kerker, die Verurteilung des internationalen Spions Paul Barstmann und des italienischen Ingenieurs Pietro Contin zu je vier Jahren Kerker erwirkt. Als Redl im Jahre 1904 bei dem wegen Spionage verhafteten Bezirks-Kommandanten von Stanislau, Major von Wienckowsky, eine Hausdurchsuchung vornahm, verwickelte er das sechsjährige Kind des eben Festgenommenen in ein liebevolles Gespräch, und es gelang ihm, auf diese Weise herauszubekommen, wo Papa seine geheimen Briefschaften zu verstecken pflegte. Bemerkenswert für die Gefühllosigkeit Redls ist ein Wiener Vorfall aus diesen Jahren: ein Mann namens Jonasch hatte einem Photographen die Zeichnung eines Festungsplanes zum Photographieren gegeben. Dies wurde der Polizei gemeldet, und als Jonasch die Bilder abholen wollte, verhaftete man ihn. Er hatte wegen Betruges schon neun Jahre im Kerker gesessen. Bei seiner Verhaftung gab er sofort zu, daß er die Photographien als Plan der Festung Trient im Ausland verkaufen wollte, doch sei es das gewöhnliche »Schema einer modernen Festung«, das er aus einem allgemein erhältlichen Buch über Fortifikationswesen von einem Maler hatte abzeichnen lassen. Nachdem sich diese Angabe als richtig erwies, wollte die Polizei den Mann freilassen. Aber Redl, der in allen Spionagesachen vorher gefragt werden mußte, protestierte dagegen und beharrte darauf, daß Jonasch dem Strafgericht eingeliefert werde: »Ich bitte Sie, was schadet es ihm, wenn er ein paar Wochen Untersuchungshaft absitzt? Und für uns ist es immer besser, wenn wir auf eine große Zahl von Spionagefällen hinweisen können . . .« – Der Mann mußte auch wirklich fünf Monate im Grauen Hause sitzen, bevor man das Verfahren gegen ihn einstellte.

Vielleicht hatte diese Taktik Redls den Erfolg, daß die Spionageabwehr noch stärker organisiert wurde – stärker als selbst Redl ahnen mochte. Denn er war bald darauf als Oberstleutnant zur Truppendienstleistung befohlen worden, wie es für die Laufbahn der Generalstäbler vorgeschrieben war. Nach einem Jahr verlangte General von Giesl, der jetzt als Kommandant des 8. Korps der Prager Garnison vorstand, daß ihm sein ehemaliger Spionagereferent Redl wieder beigegeben werde. Bei den fünfzehn österreichisch-ungarischen Korpskommandanten war je eine Generalstabsabteilung eingerichtet, deren Leiter den Titel eines »Generalstabschefs« führte, während dem Kommandanten des gesamten österreichisch-ungarischen Generalstabskorps der Titel »Chef des k. u. k. Generalstabes« gebührte. Nach langjähriger Dienstleistung in der Residenz wurde nun Redl als Oberst und Generalstabschef nach Prag versetzt. Man bedurfte hier des Mannes mit den unterirdischen Verbindungen. Das Böhmische Staatsrecht, das gegen den Wiener Zentralismus gerichtet war, hatte hier Tausende von Anhängern; der Antimilitaristenprozeß hatte manifestiert, wie die mächtige tschechische Nationalpartei gegen die Armee zu arbeiten entschlossen war; fast täglich wurden tschechische Provinzblätter beschlagnahmt, weil sie Episoden von der habgierigen Bewirtschaftung und erbarmungslosen Behandlung auf dem Gut Konopischt des Erzherzogs Franz Ferdinand brachten: »Los von Wien« hieß die offenbare Parole.

Während nun Redl in Prag einen militärischen Spitzeldienst zu organisieren hatte, wurden in Wien die Redlschen Maßnahmen zur Bekämpfung der Spionage ausgebaut. So war das Staatsgrundgesetz, mit welchem das Briefgeheimnis gewährleistet war, vom Evidenzbureau im Hinblick auf die drohende Kriegsgefahr in Wirklichkeit aufgehoben worden, die Post wurde überwacht, in einem abgeschlossenen Geheimraum öffnete man täglich an tausend Briefe und leitete dort, wo der Inhalt verdächtig war, Nachforschungen ein. Die Beamten selbst, die diese ungesetzliche Briefzensur vornahmen, ahnten nicht, daß sie in militärischem Auftrage handelten; sie glaubten, ihre Amtshandlung diene vor allem zur Aufdeckung besonderer Zollschwindeleien und des Schmuggels. Von der Überwachung der Privatpost durch dieses »Schwarze Kabinett«, das erst eingerichtet wurde, als Redl schon zur Dienstleistung nach Prag kommandiert worden war, wußte er ebensowenig, wie sonst ein Mensch in Österreich vor dem Kriege. Mit diesen hemmungslosen Ausgestaltungen der Abwehrmaßnahmen gegen feindliche Ausspähung waren die Landesverratsprozesse ins Unheimliche gestiegen. Auch der russische Militärattaché, ein Oberst Martschenko, und dessen Nachfolger wurden abberufen, der erste, nachdem er durch das persönliche Verhalten Kaiser Franz Josephs – dieser brüskierte ihn beim Hofball – davon erfahren hatte, daß seine Geheimtätigkeit aufgedeckt sei.

*

Frühjahr 1913 waren zwei Briefe als verdächtig geöffnet worden, die postlagernd unter der Chiffre »Opernball 13« beim Hauptpostamt Wien lagen. Sie kamen aus Eydtkuhnen und enthielten – ohne irgendeinen Begleittext – Geldbeträge in österreichischer Währung, der eine sechstausend Kronen, der andere achttausend Kronen; keinesfalls war anzunehmen, daß solche Summen postlagernd geschickt würden, wenn es sich um rechtmäßiges Gut handelte.

Umgehend ergriff man Maßnahmen, sich des Behebers der Briefe zu bemächtigen. Zwei Detektive wurden zu ständiger Dienstleistung in die Wachstube des Postamtes entsendet, die durch eine elektrische Klingel mit dem Postschalter verbunden war: auf das Glockenzeichen des Beamten hin sollten sie den Übernehmer der Briefe sicherstellen. Wochen vergingen, Monate. Der Beamte, der die Überwachung angeordnet hatte, Polizeichef Dr. Novak, war ins Ministerium versetzt worden und hatte die Angelegenheit seinem Nachfolger (dem nachmaligen Bundeskanzler Dr. Schober) übergeben. Niemand fragte nach den Briefen, in denen so viel Geld war.

Am Abend des 24. Mai 1913, eines Samstags, gegen Schluß der Amtsstunden, weckte plötzlich das Glockensignal die Agenten aus ihrer langen Ruhe.

Bevor sie durch den Durchgang des Postamtes zum Schalter kamen, wo der Beamte mit Langsamkeit, aber doch auch nicht mit auffallender Langsamkeit, die Briefe mit der »Opernball«-Chiffre ausgehändigt hatte – war der Beheber fort . . .

Sie eilten ihm nach, sie erblickten ihn noch, einen stattlich gebauten Herrn, der die Tür des mit laufendem Motor wartenden Autos hinter sich zuschlug.

Sie sahen auch den Wagen davonfahren. Es war ein Mietsauto.

Ein anderes Auto, das die Verfolgung hätte aufnehmen können, hatten die beiden Detektive nicht. Was half es ihnen, daß sie die Nummer des Autotaxi gelesen? Was half es ihnen, daß sie am nächsten Tag den Chauffeur würden ausforschen können und erfahren, woher und wohin der »Ritt« gegangen sei? Der Fremde war doch sicherlich nicht direkt in seine Wohnung gefahren! Ein Verbrecher mit solchen Geldsummen steigt auf der Straße aus oder vor einem Durchgang und nimmt dann einen neuen Wagen. Fest stand für die beiden Detektive nur eines, daß gegen sie eine Disziplinaruntersuchung angestrengt werden würde, deren Ausgang nicht zweifelhaft war.

Aber nun begann für sie eine Kette von unglaublichen Zufällen, »Jägerglück«.

Während die beiden Agenten beraten, ob sie auf eigene Faust den Chauffeur noch heute nacht ausforschen und sich dann im Einvernehmen mit ihm ein Märchen von abenteuerlicher Flucht des Unbekannten ausdenken sollen oder ob sie nicht doch der Staatspolizei ihr Mißgeschick melden müßten – fährt auf dem Kolowratring ein Mietsauto an ihnen vorbei. Sie lesen die Nummer – es ist der Wagen, der ihnen vor zwanzig Minuten ihre Beute entführt hat. Sie pfeifen, schreien, laufen. Das Auto hält. Es ist leer.

»Wohin haben Sie den Herrn vom Postamt geführt?«

»Ins Café Kaiserhof.«

»Fahren Sie uns sofort ins Café Kaiserhof.«

Auf der kurzen Fahrt schnüffeln die Detektive im Innern des Wagens und finden das Futteral eines Taschenmessers, eine Hülse aus hellgrauem Tuch.

Im Café Kaiserhof, in das sie mit dem Chauffeur eintreten, ist der Fahrgast nicht mehr.

Sie eilen zum nächsten Autostand. Ja, ein Herr, der so aussieht, ist eben weggefahren. Wohin? Wir sind in Wien, und dort weiß es einer: der Wasserer. Eigentlich ist er kein Wasserer, denn am Autostand sind keine Fiakerpferde, denen man den Tränkeimer reichen kann, aber er putzt die Karosserien und betätigt sich vornehmlich als Wagentüraufmacher. Der hat natürlich gehört, wohin der »gnä' Herr« zu fahren befohlen hat: »Ins Hotel Klomser«.

Nach ins Hotel Klomser! Im Foyer wird der Hotelportier befragt. »G'rad« jetzt saan zwaa Herren im Auto ankommen, Kaufleut' saans aus Bulgarien.« – »Und vorher ein Herr allein?« – »Im Auto? Dös waaß i net. Vor einer Viertelstund' is der Herr Oberst Redl kommen. In Zivil war er, dös waaß i. Aber i waaß net, ob er im Auto vorg'fahren is.«

Oberst Redl? Den Polizeiagenten flößt der Name Scheu ein. Sie kennen ihn gut. Er hat ihnen keine Sekunde Rast gegönnt, die Notwendigkeit einer Nachtruhe nicht anerkannt, wenn sie seine Treiber waren auf der Jagd nach Spionen. Und wie hat er sein Wild zur Strecke gebracht, wenn er im Gerichtssaal als berufenster Sachverständiger, als Leiter des österreichisch-ungarischen Kundschaftsdienstes die Schuld des angeklagten Spions in das grellste Licht rückte! Merkwürdig wäre es, wenn der Beheber der Geldsendungen, ein Spion, nun zufällig im selben Haus, ja, vielleicht Wand an Wand mit dem Chef der Spionageabwehr wohnte, in der Höhle des Löwen!

Aber zu solchen Überlegungen ist jetzt keine Zeit. Regierungsrat Gayer von der Staatspolizei ist sicherlich durch das Wiener Hauptpostamt bereits davon in Kenntnis gesetzt worden, daß die Briefe behoben sind. Man muß ihm endlich berichten, wie die Verfolgung ausgefallen ist. Auch anfragen, ob der Herr Regierungsrat einverstanden ist, daß Oberst Redl die Untersuchung im Hotel leite – er wohnt nämlich zufällig gerade hier. Jedenfalls muß das Hotel gleich bewacht werden. Während der eine der beiden Agenten zum Telefon geht, spricht der andere mit dem Portier. Er überreicht ihm das Messerfutteral, damit er seine Gäste frage, wem es gehört.

Eben kommt ein Herr in Uniform die Stufen vom ersten Stock herunter und legt dem Portier die Schlüssel von Zimmer Nr. 1 auf den Tisch. »Haben Herr Oberst das Futteral Ihres Taschenmessers verloren?« fragt der Portier.

»Ja«, antwortet Oberst Redl und steckt das hellgraue Tuchsäckchen gedankenlos in die Tasche, »ich hab's schon gesucht. Wo habe ich es denn . . .«

Plötzlich unterbricht er den Satz. Zuletzt hat er ja sein Taschenmesser benützt, als er auf der Fahrt vom Postamt die Kuverts der Geldbriefe aufgeschnitten hat. Dort hat er die Messerhülle vergessen!

Er schaut den Mann an, der neben dem Portier steht und mit anscheinendem Interesse das Gästebuch des Hotels durchblättert.

Oberst Redl hat die Frage, wo er das Futteral liegen gelassen habe, nicht zu Ende gesprochen.

Oberst Redl ist ganz blaß.

Er weiß: in wenigen Stunden wird er tot sein.

Er betritt die Straße. Sieht sich ein wenig um und geht die Herrengasse rechts hinunter. Bevor er an der Ecke beim Café Central ist, schaut er wieder zurück, ob niemand das Hotel verläßt. Niemand. Aber sicherlich kommen ihm die zwei Herren nicht geheuer vor, die aus der Schwemme des Restaurants Klomser treten.

Der eine hat dem Portier nachträglich aufgetragen, die Nummer 12‑3‑48 anzurufen, die Geheimnummer der Politischen Staatspolizei: »Sagen Sie, daß alles in Ordnung ist – das Futteral gehört dem Herrn Oberst Redl.«

Da die beiden Agenten an die Ecke der Strauchgasse kommen, ist Oberst Redl verschwunden. Weder in der Strauchgasse, noch in der Wallnerstraße ist er zu sehen. Kann er inzwischen den Haarhof erreicht haben, der zur Naglergasse führt? Nein, selbst laufend nicht. Also ist er im Haus der alten Börse verschwunden, das drei Ausgänge hat, zwei durch das Café Central und einen gegen die Freyung zu. Alle Achtung vor einem Mann, der vor zwei Minuten unvermutet entlarvt wurde, der seit zwei Minuten sein Leben verwirkt weiß und schon die Möglichkeit des Entkommens kaltblütig versucht!

Inzwischen spielt das Telefon im Hotel Klomser zur Staatspolizei, vom Schottenring zum Stubenring. Dort ist das Evidenzbureau des k. u. k. Generalstabes. Oberst Redl! Die Offiziere der Kundschaftergruppe sind in beispielloser Erregung. Ihr Vorgesetzter, ihr Lehrer, ihr Vorbild, ihr Ratgeber ist es, um den es sich handelt.

Ein Offizier fährt selbst sogleich zur Hauptpost, um den Schalterbeamten zu fragen, wie der Beheber der Briefe ausgesehen habe. Auch ein Zettel ist dort, auf dem die Chiffre der Briefe aufgeschrieben ist.

Die anderen Offiziere im Evidenzbureau suchen die Handschriften Redls hervor. Es ist kein Mangel daran: eine »Anweisung zur Anwerbung und Überprüfung von Kundschaftern, verfaßt von Alfred Redl, k. u. k. Hauptmann im Generalstab« ist da, fünfzig Paragraphen lang, ein »Schema für die Beschaffung von Kundschaftermaterial«, »Normen zur Aufdeckung von Spionen im In- und Ausland«, ein dickes Aktenbündel »Gutachten in den Jahren 1900 bis 1905«. Man bereitet all dies auf dem Tisch vor. Aber als vom Hauptpostamt der Offizier zurückkommt, den Zettel in der Hand, »Opernball 13«, bedarf es keiner Schriftvergleichung. Zwar ist das Wort leicht und dünn hingeschrieben, jedoch von einer ausgesprochenen Verstellung kann keine Rede sein. Es ist die Schrift des Obersten Redl.

Die Detektive verfolgen indessen ihr Opfer. In der Passage zur Freyung haben sie den Verschwundenen wiedererspäht. Auch er erblickt sie. Und weiß: daß er den beiden nicht entwischen kann.

Er zieht Papiere aus der Tasche (wie sich später herausstellte: sehr belastende Papiere, deren er sich ohnedies entledigen muß, wenn er sich verteidigen will) und zerreißt sie. Die Papierschnitzel wirft er in der Passage auf die Erde. Einer der Detektive, nimmt er an, wird sich mit dem Aufklauben aufhalten, und dem anderen kann er vielleicht entkommen. Aber die beiden gehen ihm weiter nach. Auf der Freyung halten sie ein Auto an und geben dem Chauffeur die Weisung, langsam nachzufahren. Dann erst kehrt der eine Agent in die Passage zurück, sammelt die Papierfetzen und bringt sie zur Polizei.

Von dort fahren die Papierchen sofort im Auto ins Evidenzbureau, wo sie zusammengestellt werden. Es sind Postbestätigungen über eine Geldsumme an Ulanenleutnant Stefan H. und über eingeschriebene Briefe nach Brüssel, Warschau und Lausanne – alle drei Adressen sind dem Evidenzbureau als Spionageadressen bekannt.

Es muß gehandelt werden. Soll man sofort mit Verhaftung vorgehen? Mit militärischer oder polizeilicher Verhaftung? Soll man sofort den Kaiser benachrichtigen? Oder den weiteren Verlauf der Untersuchung abwarten? Dem Verbrecher ermöglichen, daß er sich der irdischen Gerechtigkeit entziehe?

Oberst Redl geht über den Tiefen Graben und die Heinrichsgasse zum Franz-Josephs-Kai. Von Zeit zu Zeit sieht er sich um; sein Schatten folgt ihm. Am Kai biegt er nach links ein. Er will wohl in die Brigittenau. Dort ist er heute um vier Uhr nachmittags mit seinem Wagen, den er im August 1911 bei Daimler für achtzehntausend Kronen gekauft hatte, aus Prag angekommen. Ein schönes Auto, A. R., in Goldbuchstaben verschlungen, auf dem Wagenschlag; der Querstrich des A. ist kein waagerechter Strich, sondern besteht aus zwei schrägen Linien: es sieht wie ein »v« aus. Auch ist eine Krone über dem Monogramm, zwar nur die fünfzackige Bürgerkrone – aber wer merkt das? Beim Karosserienmacher Zednicek, auf dem Brigittaplatz, hat er das Auto eingestellt, damit er die Seitenwände des Chassis in den unteren Teilen mit Glanzleder bekleide und das Innere mit bordeauxroter Seide neu tapeziere, binnen vier Tagen soll das Ganze fertig sein, der Herr Oberst will schon Dienstag im Wagen nach Prag zurück. Dem Chauffeur hat er den Auftrag gegeben, bei Prowodnik zwei neue Pneumatiks zu kaufen und am Dienstagmorgen zur Abreise bereit zu sein. Dann hat er sich vom Wallensteinplatz ein Mietsauto holen lassen und ist ins Hotel Klomser gefahren, wo sein Diener Josef Sladek vom Inf.-Reg. Nr. 11 bereits mittags mit dem Prager Zug eingetroffen war.

In dem Hotelzimmer war nachmittags Stefan H. zu Besuch erschienen, ein junger Kavallerieoffizier aus Stockerau. Eine lange Auseinandersetzung hatte stattgefunden, deren Inhalt man später in Briefen Redls fand. Redl hatte in dem Hotel den jungen Freund wieder für sich gewonnen. Um halb sechs Uhr war Leutnant Stefan H. fortgegangen. Zehn Minuten später Redl. Eilig. Er mußte aufs Postamt. Das Geld beheben. Wochenlang hatte er es aufgeschoben. Jetzt mußte es sein. Er wollte seinem Stefan ein Auto kaufen. Mit ihm über Land fahren.

»Über Land fahren . . .« Und jetzt hastet Redl mit unheimlichem Gefolge den Donaukanal entlang und denkt, wie gut es wäre, in seinem Tourenwagen zu sitzen und – auch ohne Glanzlederbelag an den unteren Teilen des Chassis und ohne bordeauxrote Seide – schön über Land fahren zu können. Über Land fahren. Er muß jedoch einsehen, daß daran nicht zu denken ist, und kehrt über den Schottenring nach Hause zurück.

Der Leiter des Evidenzbureaus, Urbañski von Ostromiecz, ist beim Grand-Hotel vorgefahren. Im Speisesaal sitzt »der Chef« in großer Gesellschaft. »Was bringst du mir Schönes?« fragt Conrad von Hötzendorf den Freund. Die Musik spielt ein Potpourri aus dem »Graf von Luxemburg«, der neuen Operette, »Bist du's, lachendes Glück . . .«

»Dürfte ich Ew. Exzellenz gehorsamst um ein Gespräch unter vier Augen bitten?«

»So dringend? Na, alsdann gehn wir!«

Der Chef des Generalstabes geht mit dem Chef seines Evidenzbureaus durch den Speisesaal.

In einem Nebenraum erstattet Urbañski die Meldung. Conrad war schon auf Schlimmes gefaßt. Aber als er hört, um was es sich handelt, wird er kreidebleich. Er spricht kein Wort. Er versucht, sich die Tragweite dieses Verbrechens vorzustellen. Der Fall wird bekannt – Empörung braust heran – die Truppe haßt den Generalstab ohnedies, »die Auserwählten« – und was wird das Ausland sagen! der Feind! – welch eine Schmach! Alles schon morsch, sagt man gerne der Monarchie nach – und im verbündeten Reich, welche Besorgnis, welches Mißtrauen! Und bei den oppositionellen Nationen, was wird geschehen, wenn in dieses Pulverfaß ein Zündstoff fällt! Gerade jetzt, da die Lage kritisch ist. Conrad denkt nach. »Diese alberne Musik, wenn sie doch wenigstens für fünf Minuten aufhören wollte!« Er setzt sich, steht wieder auf. Spricht die Entscheidung aus:

»Der Schuft muß ergriffen werden, man muß aus seinem Munde hören, wie weit der Verrat reicht und – dann muß er sofort sterben!«

»Er selbst, Exzellenz . . .

»Ja. Niemand darf etwas über die Todesursache erfahren! Bin ich verstanden worden, Herr Oberst?«

»Zu Befehl, Exzellenz!«

»Heute nacht muß alles geschehen!«

»Zu Befehl, Exzellenz!«

»Sie werden sofort eine Kommission zusammenstellen, Herr Oberst! Bestehend aus Höfer als Leiter, aus dem Chef des Auditoriats, Ihnen und dem Leiter der Kundschafterstelle. Nur vier Herren. Die Berichte sind direkt an mich zu erstatten.«

»Zu Befehl, Exzellenz!«

Während Oberst Redl, überwacht, in der Richtung zur Brigittenau strebte und dann diese Absicht aufgab, wartete in der Halle des Hotels Klomser ein alter Bekannter auf ihn, dem er aus Prag sein Kommen telegrafiert hat, um mit ihm den Abend zu verbringen: es ist der Generalstaatsanwalt beim Obersten Gerichts- und Kassationshof, Erster Staatsanwalt Dr. Viktor Pollak. Redl und Pollak kennen einander von Berufs wegen. Wenn Redl als militärischer Gutachter Belastungsmaterial über Belastungsmaterial auf einen spionageverdächtigen Angeklagten gehäuft hatte, war es Dr. Pollak als höchster öffentlicher Ankläger, der in seinem Plädoyer diesem Gutachten die (den Angeklagten) vernichtende Wirkung lieh. Partner und Freunde sind diese beiden unerbittlich strengen Männer.

Sie gehen heute gemeinsam ins Restaurant Riedhof in der Josefstadt. Der Oberstaatsanwalt hat keine Ahnung, daß das Souper überwacht wird. Er weiß nichts davon, daß sein Freund, an dessen Glas er eben mit dem seinen stößt, ein so schwerer Verbrecher ist, wie er keinem in seiner langjährigen staatsanwaltschaftlichen Praxis begegnet ist. Was aber dem Generalstaatsanwalt auffällt, ist die Nervosität, die Aufregung, die Einsilbigkeit des Tischgenossen.

Oberst Redl überlegt. Wie könnte er sich dem Tod entziehen. Soll er sich seinem Freunde, dem Oberstaatsanwalt, anvertrauen, seinen Rat einholen, seine Intervention erbitten? Und zu welchem Ende? Um ins Ausland zu flüchten? Um im Sanatorium Schutz zu suchen, sich auf Geistesstörung ausredend oder sich als Opfer seiner Sexualverirrungen hinstellend?

Er schließt Kompromisse zwischen all diesen Möglichkeiten, er vertraut sich dem Freund nicht geradzu an, macht aber doch Andeutungen, er gibt seine Homosexualität nicht zu, spricht aber von moralischen Verfehlungen, er gesteht nicht ein, daß er ein Spion ist, bezichtigt sich aber vag eines schweren Verbrechens, er redet verwirrt, so daß sein Freund daraus eine Geistesstörung folgern könnte, und er verlangt dessen Hilfe zur sofortigen ungehinderten Rückkehr nach Prag, wo er sich seinem Vorgesetzten, dem Korpskommandanten, rückhaltlos anvertrauen möchte.

Erschrocken hört Oberstaatsanwalt Dr. Pollak zu. Er hat wohl schon hundertmal wegen kleinerer Andeutungen Leute ins Gefängnis gebracht und schon wegen geringerer Momente sofortige Verhaftung oder Verweigerung des Strafaufschubes beantragt. Hier aber bin ich ein Mensch, in persönlichem Verkehr, denkt er, und Redl ist mein Freund. Er erklärt sich auf dessen Bitten bereit, den Chef der Politischen Polizei anzurufen.

Zu seiner Überraschung ist Regierungsrat Gayer, mit dessen Wohnung er sich verbinden lassen wollte, zu so später Nachtstunde noch im Amt.

»Ich bin hier mit dem Generalstabsoberst Redl beim Nachtmahl«, beginnt er.«

»Ja, im Riedhof, Herr Oberstaatsanwalt.«

»Wieso wissen Sie das, Herr Regierungsrat?«

»Zufällig, Herr Oberstaatsanwalt. Und Sie wünschen?«

»Oberst Redl hat anscheinend eine psychische Störung erlitten. Er spricht von moralischen Verfehlungen und Verbrechen, die er begangen hat. Er bittet mich, ich soll ihm die ungestörte Fahrt nach Prag ermöglichen. Vielleicht könnten Sie ihm einen Begleitmann mitgeben?«

»Heute abend läßt sich gar nichts mehr machen, Herr Oberstaatsanwalt. Aber beruhigen Sie den Herrn Obersten und sagen Sie ihm, er soll sich morgen direkt an mich wenden – was in meinen Kräften steht, will ich gerne tun.«

Mehr als diese Zusicherung kann der Oberstaatsanwalt nicht erzielen.

Oberst Urbañski von Ostromiecz und Generalstabshauptmann Ronge sind inzwischen in die Wohnung des Oberstauditors Kunz, des Auditoriatschefs (Chef der Militärjustiz), gefahren. Aber der ist nicht in Wien. Sie gehen in ein Caféhaus und suchen in Lehmanns Adreßbuch, welcher Auditor von Stabsoffiziersrang im IX. Bezirk wohnt. Sie finden den Namen »Wenzel Vorlicek, k. u. k. Majorauditor (Gerichtsoffizier im Range eines Majors)«.

Armer Major Vorlicek. Vor seinem Haus steht eben eine Droschke. In seiner Wohnung sind die Koffer gepackt. Ihm ist ausnahmsweise ein Urlaub bewilligt worden, damit er seine schwerkranke Schwägerin nach Davos bringe. Die Schlafwagenplätze waren nur mit Mühe zu beschaffen, für heute hat er sie endlich erhalten und in Davos telegrafisch Zimmer bestellt. Um 11 Uhr 20 geht vom Westbahnhof sein Zug. Jetzt treten der Chef des Evidenzbureaus und der Leiter der Kundschafterstelle in seine Wohnung und bringen ihm den Befehl, an einer Kommission teilzunehmen, die mit wochenlanger Untersuchung verbunden sein wird. Die Schwägerin ringt verzweifelt die Hände, der Major selbst ist entsetzt. Läßt sich nichts machen? Nein, Eile. Befehl vom Chef des Generalstabes. Vorlicek muß den Zivilanzug vom Körper reißen, die Uniform anlegen, ins Auto steigen.

Die Fahrt geht zum Stellvertreter des Chefs des Generalstabs: Generalmajor Höfer wird aus dem Bett geholt, er muß Leiter der Kommission sein.

Die vier Herren fahren zum Kriegsministerium, erkundigen sich zunächst nach dem Stand der Angelegenheit. Sie erfahren vom Souper im Riedhof, von der Bitte des Dr. Pollak, die Polizei möge eine überwachte Rückkehr Redls nach Prag ermöglichen. Auch im »Café Kaiserhof« seien die beiden Herren nach dem Souper gewesen, und von dort telefonierte der Oberstaatsanwalt von neuem dem Regierungsrat Gayer, ob man Redl nicht in einem Sanitätsauto in ein Sanatorium bringen könnte. Aber auch daraufhin hat er nur Vertröstungen für den nächsten Tag als Antwort bekommen.

Vor halb zwölf Uhr nachts hat sich Oberstaatsanwalt Dr. Pollak an der Tür des »Hotel Klomser« von Oberst Redl verabschiedet.

Um Mitternacht läuten vier Offiziere an der Hoteltür von Klomser. Der Portier will sie – den Hotelinstruktionen entsprechend – nicht ins Zimmer hinauf lassen. Aber auf das entschiedene Auftreten der Herren hin muß er jeden Einspruch aufgeben.

Sie klopfen an die Tür vom Zimmer Nr. 1. Während ein heiseres »Herein« hörbar wird, öffnen sie. Oberst Redl sitzt beim Tisch und schreibt.

Er erhebt sich wankend, Leichenfarbe im Gesicht.

»Ich weiß, weshalb die Herren kommen«, bringt er langsam hervor. »Ich habe mein Leben verwirkt und bin eben im Begriffe, Abschiedsbriefe zu schreiben.«

Ein Brief Redls an seinen Bruder liegt auf dem Tisch, der angefangene Brief ist an General von Giesl, den Kommandanten des Prager Korps, adressiert. Auf dem Waschtisch liegen ein Taschenmesser und ein kleines Stück Bindfaden. (»Ein dolchartiges Messer und eine Rebschnur«, sagte eine Woche später Landesverteidigungsminister Georgi im Reichsrat, als die Heeresverwaltung beschuldigt wurde, den Selbstmord befohlen zu haben.)

Die Kommission fragte Redl nach seinen Mittätern.

»Ich hatte keine«, erwidert er.

Auf die Frage nach dem Umfang seines Verrates, nach dessen Einzelheiten und Dauer hat er zur Antwort, alle Beweise würden sich in seiner Prager Dienstwohnung im Korpskommandogebäude finden. Die Kommission gibt sich damit zufrieden. Bevor sie das Zimmer verläßt, fragt einer: »Eine Schußwaffe haben Sie, Herr Redl?«

Oberst Redl: »Nein.«

Das Mitglied der Kommission: »Sie dürfen um eine Schußwaffe bitten, Herr Redl.«

Redl (stockend): »Ich bitte – gehorsamst – um einen – Revolver.«

Niemand hat einen bei sich. Aber man sagt ihm zu, daß er ihn bekommen werde. Eines der Kommissionsmitglieder fährt nach Hause, seinen Browning zu holen, um ihn »Herrn Redl« einzuhändigen.

Dann warten vier hohe Offiziere an der Ecke der Herrengasse und der Bankgasse, damit sich der Hochverräter nicht durch Flucht dem Tode entziehe. Sie können die Fenster von Nr. 1 nicht sehen, denn es ist ein Hofzimmer. Sie lösen einander ab, um schwarzen Kaffee zu trinken. Dann wird das Café Central gesperrt.

Es vergehen Stunden auf Stunden. Kein Lärm, keine Aufregung, kein Schuß verrät, daß das Spionagedrama seinen vorläufigen Abschluß gefunden habe. Abwechselnd fährt je eines der Kommissionsmitglieder nach Hause, Zivil anzulegen, denn die vier auf und ab gehenden Stabsoffiziere fallen bereits auf in der stillen Herrengasse. Die Stunden verrinnen. Nichts.

Man kann doch nicht hinaufgehen und dem Oberst sagen: »Machen Sie rasch, wir wollen schlafen gehen.«

Wie spät ist es?

Melde gehorsamst. Fünf Uhr.

Zeitig morgens soll man den Chef des Generalstabes anrufen und die »Beendigung« der Affäre melden. Zwei der Offiziere müssen mit dem ersten Schnellzug, 6 Uhr 15, nach Prag fahren, um die Hausdurchsuchung vorzunehmen.

Es wird also ein Detektiv der Staatspolizei telefonisch herbeigerufen – einer von den beiden, die gestern die Verfolgung Redls durchgeführt und noch in der Nacht einen Spezialschwur geleistet hatten, kein Wort über diese Angelegenheit zu sprechen. (Die Kenntnis der ganzen Sache sollte auf zehn Personen beschränkt bleiben und niemals ein anderer auch nur ein Wort darüber erfahren, daß ein Generalstabschef Spionage getrieben habe.)

Der herbeigekommene Detektiv erhielt genaue Weisungen. Falls er Oberst Redl tot auffinde, möge er im Hotel nichts verraten, damit nicht die auffallende Tatsache bekannt werde, die Leiche sei von einem Polizeiagenten entdeckt worden.

Mit einem Zettel, mittels dessen Oberst Redl zu einem Rendezvous geladen wurde, begab sich der Detektiv in das Hotel Klomser und sagte, er sei vom Herrn Oberst bestellt, um ihm um halb sechs Uhr früh diese Antwort auf einen Brief persönlich zu übergeben. Der Portier, seines vergeblichen Einspruches gegen den nächtlichen Besuch der vier Offiziere eingedenk, ließ den Boten passieren. Der kam, kaum zwei Minuten später, wieder zurück und trat auf seine vier Auftraggeber zu.

»Das Zimmer war offen«, meldete er erregt, »ich bin also eingetreten. Neben dem Kanapee liegt der Herr Oberst – tot.«

Hiermit war der Straßendienst der Stabsoffiziere zu Ende – genau zwölf Stunden nach der Behebung der postlagernden Briefe. Man rief – damit die Leiche noch vor Tagesanbruch gefunden werde – das Hotel unter einem fingierten Namen an: der Herr Oberst möge sofort zum Telefon kommen. Man wartete aber nicht länger am Apparat.

Wenige Minuten später verständigte das Hotel Klomser die Polizei von einem im Hause vorgefallenen Selbstmord. Oberkommissär Dr. Tauß und Oberbezirksarzt Dr. Schild erschienen, den Lokalaugenschein vorzunehmen. Sie konstatierten Selbstmord.

Redl hatte sich, vor dem Spiegel stehend, in den Mund geschossen, das Projektil hatte das Gaumendach durchbohrt und war schräg von rechts nach links in das Gehirn gedrungen; im linken Scheitelknochen war das Geschoß steckengeblieben, die Ausblutung war durch die linke Nasenhöhle erfolgt. Neben dem Sofa war er tot zusammengesunken, bei der Leiche lag der Browning.

Auf dem Schreibtisch fanden sich zwei verschlossene Briefe, einer an den älteren Bruder des Entleibten und einer an den Prager Korpskommandanten, Baron Giesl von Gieslingen, und ein offener Zettel ohne Adresse. Darauf stand: »Leichtsinn und Leidenschaft haben mich vernichtet. Betet für mich. Ich büße mein Irren mit dem Tode. Alfred.«

Als Nachschrift war hinzugefügt: »Es ist dreiviertel zwei Uhr. Ich werde jetzt sterben. Ich bitte, meinen Leichnam nicht zu obduzieren. Betet für mich.«

Es war offenkundig, daß hier ein Selbstmord vorliege, und die Beamten – jedenfalls mit einer diesbezüglichen Weisung versehen – wollten die Amtshandlung rasch und ohne Aufsehen schließen. Doch hatten sie die Rechnung ohne den Offiziersdiener gemacht: Josef Sladek vom Inf.-Reg. Nr. 11 (Fahnenspruch: »In altbewährter Treue«) wollte sich durchaus nicht damit zufrieden geben, daß hier ein Selbstmord konstatiert werde.

In schlechtem Deutsch und großer Aufregung erzählte er zuerst den Polizeibeamten und – als diese ihn beiseite schoben – dem aufhorchenden Hotelpersonal: der Browning gehöre nicht seinem Herrn, sein Herr habe keinerlei Selbstmordabsichten gehabt, habe gestern Einkäufe gemacht und für heute allerhand Anordnungen getroffen und wollte Dienstag in dem neu bezogenen Auto nach Prag zurückreisen. Also sei der Herr Oberst erschossen worden, und der Revolver gehöre dem Mörder.

So unbequem dem Hotelpersonal jedes Aufsehen sein mußte, etwas war da, was dem Verdacht des Dieners Glaubwürdigkeit verlieh: der fremde Mann, der um halb sechs Uhr morgens ins Hotel gekommen war, um dem Obersten eine Mitteilung zu bringen. Wenn er wirklich eine Botschaft übergeben hatte, mußte er doch die Leiche gesehen haben! Warum hatte er davon nichts gesagt?

Und was hatten die vier Offiziere um Mitternacht im Zimmer Nr. 1 getan?

Die Kommission, zu der sich inzwischen auch ein Offizier des Platzkommandos gesellt hatte, bemühte sich vergeblich, die Gerüchte und Vermutungen zum Schweigen zu bringen. Besonders der Josef war nicht zu beruhigen. Da kam einer der Beamten auf den Gedanken, dem unbequemen Diener einzureden, der Herr Oberst habe sich eines Mißbrauchs der Amtsgewalt an Untergebenen schuldig gemacht und sich umgebracht, als er sich verraten sah. Im selben Augenblick verstummte der Diener. Denn er wußte ja von etwas, wovon weder die Polizeikommissäre wußten noch die Generalstäbler, die den Selbstmord dirigiert hatten: von der Homosexualität Redls. Dagegen hatten weder die Polizeikommission noch der brave Josef von der wahren Ursache des befohlenen Freitodes eine Ahnung: von der Spionage.

Die Sachen des Erschossenen wurden nun verpackt und versiegelt, die Leiche am Abend in die Totenkammer des Garnisonspitals geschafft.

Das kaiserlich-königliche Telegrafenbureau gab eine Meldung über den Selbstmord des Prager Generalstabschefs aus, in der stand, »der hochbegabte Offizier, dem sicherlich eine große Karriere bevorstand, hat sich in einem Anfall von Sinnesverwirrung . . .«, ». . . in der letzten Zeit an außergewöhnlicher Schlaflosigkeit litt . . .«, ». . . in Wien, wohin ihn dienstliche Aufgaben geführt hatten . . .«

Der Chef des Evidenzbureaus, Urbañski, und Auditor Vorlicek fuhren nach Prag. Die beiden Herren kamen gegen Mittag an. Urbañski speiste mit dem Korpskommandanten Baron Giesl, der bereits telegrafisch davon in Kenntnis gesetzt worden war, daß sein Generalstabschef Selbstmord begangen habe. Erst während des Mittagessens erfuhr Giesl das Motiv der Tat. Tags vorher hatte er von seinem Bruder, dem österreichisch-ungarischen Gesandten in Belgrad, einen langen Brief bekommen, in dem mitgeteilt wurde, die serbische Regierung betrachte den Krieg als unvermeidlich; beide Brüder korrespondierten unausgesetzt miteinander, da das 8. Korps für »Fall 3« (Krieg gegen Serbien) zum Vormarsch über die Save zwischen Drinamündung und Savemündung bestimmt war. Um so furchtbarer war die Erschütterung des Generals, als er nun erfahren mußte, daß sein Vertrauensmann und Liebling alles verraten habe.

Nach dem Essen begab man sich in die Wohnung Redls, die sich im Hause der Hauptwache, neben den Amtsräumen des Korpskommandos befand. Die Wohnung war verschlossen und mußte erbrochen werden. Ebenso der Schreibtisch und die Schränke.

*

»Von einem Schlosser?« frage ich den ehemaligen Chef des Evidenzbureaus, der mir von dieser Dienstreise erzählt.

»Ja, ich glaube. Es war Sonntag nachmittags und kein Soldat, anwesend, kein Professionist.«

»Exzellenz wissen nicht mehr, woher man den Schlosser holte?«

»Nein. Natürlich irgendeinen Schlosser aus der Nachbarschaft.«

Feldmarschalleutnant von Urbañski hat bisher mit bewunderungswürdiger Geduld und bereitwilliger Liebenswürdigkeit auf alle Fragen Antwort gegeben – zum erstenmal scheint er jetzt unwillig. Der Interviewer bemüht sich daher, seine dumme Frage zu entschuldigen.

»Der Schlosser hätte doch die gewaltsame Eröffnung der Wohnung und der Schubfächer verraten können?«

»Sie meinen?« fragte Urbañski ironisch.

»Gewiß, Exzellenz. Ich glaube, er hat es sogar der Presse mitgeteilt.«

»So?« Urbañski lächelt ungläubig.

Und deshalb schaltet der Interviewer hier ein persönliches Erlebnis ein: am Sonntag, dem 25. Mai 1913, spielte in Prag der Deutsche Ballspielklub »Sturm« ein Fußballmatch gegen »S. K. Union-Holeschovice«. Die Notiz des »Prager Tagblatt« lautete am nächsten Tage:

DBC Sturm I gegen SK Union V (Holeschowitz) 5:7 (Halbzeit 3:3). Sturm war von Anfang an überlegen, was sich auch in der großen Zahl seiner Tore ausdrückt. Doch war seine Verteidigung durch das Fehlen Marečeks und Wagners derart geschwächt, daß Atja allein nicht imstande war, alle Durchbrüche Unions zu vereiteln.

Kurzum, ein ungünstiges Resultat. Am meisten ärgerte sich wohl der Obmann von »Sturm« über das unangesagte Fernbleiben Wagners, dem er knapp vorher eine Gefälligkeit erwiesen hatte, wie sie Obmänner den besten Spielern der ersten Mannschaft manchmal zu erweisen pflegen. Dafür hatte Wagner pünktliches Auftreten versprochen – und schon am Sonntag blieb Wagner aus. Deshalb schaute besagter Obmann (der im Privatberuf Reporter eines Prager Blattes und Prager Korrespondent einer Berliner Zeitung war) gar nicht freundlich auf, als ihn Wagner am Montag in der Redaktion besuchte.

»Ich konnte wirklich nicht kommen«, versuchte der saumselige Verteidiger sich zu entschuldigen.

»Das ist mir egal.« Ich blieb ablehnend.

»Ich war schon angekleidet, da kommt eine Ordonnanz in unsere Werkstatt und sagt, es soll ein Gehilfe ins Korpskommando kommen, ein Schloß aufbrechen.«

»Erzähl mir keine Geschichten! So etwas dauert fünf Minuten. Und wir haben eine geschlagene Stunde mit dem Anstoß gewartet.«

»Aber ich mußte die Wohnung eines Offiziers aufbrechen, und dann alle Schubfächer und alle Schränke . . ., es war nämlich eine Kommission aus Wien da, die hat nach Papieren gesucht. Und nach Photographien von Plänen.«

»So? Und wem gehört die Wohnung?«

»Ich glaube, einem General. Eine sehr nobel eingerichtete Wohnung.«

»Und der General war nicht da?«

»Nein, der ist gestern in Wien gestorben.«

Gestern in Wien gestorben? Der Obmann, der im Privatberuf Reporter ist, ist dem unentschuldbaren Verteidiger und pflichttreuen Schlossergehilfen gar nicht mehr böse. Er sagt ihm nicht mehr: »Erzähl mir keine Geschichten«, sondern läßt sich die Geschichten ganz genau erzählen, wie der Wiener Oberst jede Photographie dem Korpskommandanten hinüberreichte und wie der jedesmal verzweifelt den Kopf geschüttelt und gesagt hat: »Schrecklich, schrecklich! Wer hätte das für möglich gehalten!« Auch, daß die Wohnung ganz merkwürdig ausgesehen hat, wie von einer Dame, lauter Toilettengegenstände und Parfüms und Brennscheren, aber die parfümiertesten Briefe seien von Männern gewesen, deren Namen sich die Wiener Herren notiert haben.

Der Reporter weiß natürlich sofort, daß es sich um die Wohnung des Generalstabschefs Redl handelt, dessen Selbstmord samt begeisterter Biographie heute vom k. k. Telegrafenbureau gemeldet und wörtlich im Mittagsblatt abgedruckt worden ist. Und er hat gar keinen Anlaß, eine Diskretion zu bewahren, um die er nicht ersucht worden ist, ein Geheimnis zu hüten, das man ihm nicht anvertraut hat. Ich schreibe einen Bericht an mein Berliner Blatt. Denn in Prag würde eine Mitteilung ganz gewiß konfisziert werden.

Oder soll man es doch versuchen? Beratung mit dem Chefredakteur. Wir entschließen uns zu einem Kompromiß: wir werden die Beschlagnahme der Abendausgabe riskieren und die Nachricht in Form eines Dementis bringen. »Von hervorragender Seite werden wir um Widerlegung der speziell in Offizierskreisen aufgetauchten Gerüchte ersucht, daß der Generalstabschef des Prager Korps, Oberst Redl, der bekanntlich vorgestern in Wien Selbstmord verübt hat, einen Verrat militärischer Geheimnisse begangen und für Rußland Spionage getrieben habe. Die nach Prag entsandte Kommission, bestehend aus einem Oberst und einem Major, die am Sonntag in Gegenwart des Korpskommandanten, Baron Giesl, die Dienstwohnung des Obersten Redl und die Schubfächer öffnen ließ, hatte nach Verfehlungen ganz anderer Art zu forschen, usw.« Solche Dementis versteht der Leser, es ist so, wie wenn man sagt: »Der X. ist kein Falschspieler.« Aber unterdrücken ließ sich dieser Bericht schwer, vielleicht glaubte der Presse-Staatsanwalt, das Dementi stamme vom Korps-Kommando, das Korps-Kommando vermutete, es stamme aus Wien.

Jedenfalls erschien das Abendblatt, der Draht gab die Nachricht nach Wien, die Journalisten liefen ins Hotel Klomser, im Parlament wurden zwanzig Dringlichkeitsanträge und Interpellationen eingereicht, und ganz Österreich wußte von den Ursachen des Selbstmordes, die die maßgebenden Kreise des Auslandes, deren Spion Redl ja gewesen war, ohnedies kannten und die man im Inland sogar vor dem Kaiser geheimhalten wollte.

Man hatte auf die Verhaftung des Spions und auf ein gewiß aufschlußreiches Gerichtsverfahren mit Zeugenvernehmungen, Protokollen usw. verzichtet, man hatte eine Nacht lang das Hotel bewacht, Spezialeide der Geheimhaltung leisten lassen. Und nun erfuhr die ganze Welt davon. Weil ein Verteidiger ein Wettspiel versäumt hatte. Gegen Union-Holeschovice.

*

Das erste, was die Kommission beim Eintritt in die Wohnung des Gerichteten verblüfft hatte, war der weibische Geschmack, der sich überall äußerte. Die Möbel waren rot in rot gehalten, seidene Steppdecken und rosa Plüschüberwurf auf dem Himmelbett, Alabaster vorherrschend, als Rauchgarnitur, Nachttischplatte und Figuren (bloß die große Napoleonbüste über dem Schreibtisch war aus Bronze), überall zierliche Nippes und alle drei Zimmer von Parfümgeruch erfüllt. Ein Riesentoilettetisch mit Haarfärbemitteln, Tuben, Tiegeln, Brennscheren, Manikürekästen, Pomaden, Parfüms fiel auf.

Als der Schreibtisch aufgebrochen worden war und man feststellte, daß die zahllosen mattbunten Briefe erotischen Inhalts von Männerhand stammten, hatte man die Auflösung des Rätsels: Oberst Redl war homosexuell gewesen.

Angefangene Briefe, zerknüllt in den Papierkorb geworfen, zeugten von seiner Leidenschaft für den jungen Ulanenoffizier in Stockerau; der hatte sich in ein Mädchen verliebt und wollte es heiraten, während Redl mit verzweifeltsten Ausrufen ihn wieder für sich zu gewinnen strebte.

Dreimal war dieser Brief begonnen, alle drei Fassungen sind verworfen worden. Redl entschloß sich, seinen Freund lieber mündlich zu beschwören, daß er ihn nicht verlasse. Er reiste nach Wien, wohin auch Stefan aus seiner nahen Garnison kam. Die Unterredung im Hotel scheint mit dem Versprechen Redls geschlossen zu haben, den Austro-Daimler-Tourenwagen zu kaufen. Und deshalb fuhr er zum Postamt, das bewacht war . . .

Beweise für die verräterische Tätigkeit Redls fanden sich genug vor: Empfangsbestätigungen von Geldsendungen aus Rußland, Quittungen über gewechselte Rubel und vor allem photographische Platten. Er hatte in seiner Wohnung bei geschlossenen Fensterläden Dienstbücher geheimen Charakters, Mobilisierungs-Instruktionen und ähnliche Schriften photographiert. Auch Befehle über Bewaffnung und Verpflegung, Eisenbahntransporte und Durchführung von Truppenverschiebungen hatte Redl für seine Auftraggeber photographiert und aktuelle Befehle des Kriegsministers Krobatin, des Erzherzogs Franz Ferdinand und des Chefs des Generalstabes, Conrad von Hötzendorf, die sich auf Organisationsfragen innerhalb des 8. Korps bezogen.

Dagegen fand sich hier noch kein Beweis dafür vor, daß Redl konkrete Kriegsvorbereitungen, wie zum Beispiel Aufmarschdispositionen, Grenzbefestigungen, Festungspläne, Geschützkonstruktionen oder die Namen von österreichisch-ungarischen Spionen im Auslande verraten habe – so allgemein dies damals auch behauptet wurde. Die Spuren des Verrats, die sich in seinen Fächern fanden, reichten bloß anderthalb Jahre zurück, die Dauer seiner Tätigkeit in Prag. In dieser Zeit hatte Redl mit seiner Spionage einen Betrag von nahezu sechzigtausend Kronen verdient, etwa das Zehnfache seines Gehaltes. Aus dem Nichtvorhandensein von älteren Beweisstücken schloß dann Landesverteidigungsminister Georgi, daß die Verrätereien bloß zwei Jahre zurückreichten. Er mußte sich im Parlament darauf antworten lassen, daß Redl seit mindestens zehn Jahren einen übermäßigen Aufwand trieb, schon seit langem zwei Autos besaß. Redl, der glaubhaft zu machen gewußt hatte, daß er im Besitze eines großen Privatvermögens sei und eine Erbschaft gemacht habe, hatte vor mehreren Jahren ein Gut gekauft, besaß außer in Prag auch in Wien, in der Wickenburggasse, eine vornehm eingerichtete Wohnung, hielt Reitpferde und pflegte Champagnergelage zu geben. Seine Verbrechen müßten daher mindestens bis in die Zeit zurückreichen, da er Leiter der österreichisch-ungarischen Kundschafterstelle im Evidenzbureau des Generalstabes gewesen war, wenn nicht gar bis in die Zeit seiner Truppendienstleistung bei Regimentern der Grenzfestungen.

*

Jedenfalls ist das Verhalten Redls in dem größten Spionageprozeß Österreichs, in dem Prozeß Hekailo-Wienckowski-Acht, ein so merkwürdiges gewesen, daß zehn Jahre später, nach dem Selbstmord Redls, bei den wenigen Eingeweihten der Verdacht auftauchen mußte, er habe damals eine Doppelrolle gespielt und auf eine Weise Menschenleben vernichtet, wie sie teuflischer kaum gedacht werden kann.

Im Jahre 1903 waren nämlich in Wien Vorerhebungen im Gange gegen den Oberstauditor Hekailo, Justizreferenten der 43. Landwehrdivision in Lemberg, der verdächtig schien, durch Fälschung einer Quittung Gelder unterschlagen zu haben. Während der streng geheim geführten Erhebungen wurde der auf freiem Fuß belassene Hekailo flüchtig, und erst nach dem Bekanntwerden seiner Flucht meldeten sich weitere Geschädigte, aus deren Aussagen hervorging, daß Hekailo auch die Heiratskaution eines Rittmeisters und das Vermögen eines Mündels unterschlagen hatte.

Ein paar Monate später erschien der Generalstabshauptmann Alfred Redl in der Kanzlei des nachmaligen Generalmilitäranwalts Wilhelm Haberditz, der die Untersuchung gegen Hekailo führte, und machte die überraschende Mitteilung, daß Hekailo nach den unwiderleglichen, von Redl beschafften Beweisen als Spion in russischen Diensten stand und wahrscheinlich auch den Aufmarschplan der österreichisch-ungarischen Armeen durch einen Spion in Thorn den Russen ausgeliefert habe. Durch einen Brief, den Hekailo nach seiner Flucht an einen Freund in Galizien gesandt, kenne man auch seinen gegenwärtigen Aufenthalt, Curityba in Brasilien, und seinen Decknamen »Karl Weber«, weshalb ein Auslieferungsbegehren zu stellen wäre.

Das Aktenstück, in welchem natürlich nur von den gemeinen Verbrechen des Betrugs und der Veruntreuung die Rede war, wurde sofort verfaßt und dieses Auslieferungsbegehren vom Ministerium des Äußern auf telegrafischem Wege der brasilianischen Regierung mitgeteilt. Als jedoch Hekailo verhaftet werden sollte, wies er einen russischen Paß vor, der auf den Namen »Karl Weber« lautete, und stellte sich unter den Schutz des russischen Konsulats. Schon war verfügt, daß ein höherer Offizier zum Zwecke der Feststellung der Persönlichkeit des Festgenommenen eine Reise nach Brasilien unternehmen solle, als die Nachricht des österreichisch-ungarischen Konsulats in Curityba eintraf, Hekailo habe sein Leugnen aufgegeben, da man beim Öffnen seines Koffers ganz oben den österreichischen Paraderock gefunden hätte.

Da es nun klar war, daß der Verhaftete österreichischer Offizier war, legten ihm die brasilianischen Gendarmerieoffiziere »mitleidvoll« einen geladenen Revolver in die Zelle. Hekailo machte von der Waffe ebensowenig Gebrauch wie von der wiederholten Gelegenheit, die ihm der begleitende brasilianische Artillerieoberstleutnant auf dem Seeweg von Paranagua nach Rio de Janeiro bot, sich in das Meer zu stürzen. In Rio de Janeiro wurde Hekailo auf einen nach Triest abgehenden Kohlendampfer eingeschifft. Er war in einer Kabine des Zwischendecks untergebracht und muß durch die tropische Hitze schwer gelitten haben, da er bei seiner Ankunft in Wien kaum wiederzuerkennen war.

Programmgemäß wurde nun Hekailo zuerst über seine vielseitigen Unterschlagungen verhört. Der Kaiser Franz Joseph interessierte sich lebhaft für diesen Prozeß und wurde über jede Phase durch seinen Freund, den Chef des Generalstabes, Grafen Beck, unterrichtet. Endlich war es soweit, daß man Hekailo die Beweise seines Verrates vorhalten konnte. Sie bestanden in der Hauptsache aus Photographien und Briefen, die er unter der Deckadresse der beim russischen Generalstabschef in Warschau angestellten Gouvernante an diesen gesandt hatte. Nach Angabe Redls hatte der Erwerb dieser Beweisstücke gegen Hekailo neunundzwanzigtausend Kronen gekostet, die das Ministerium für Landesverteidigung auch bezahlen mußte. Bei den Verhören Hekailos wurde Hauptmann Redl als Sachverständiger zugezogen.

Hekailo, der ohne Zweifel wußte, daß er nach dem Wortlaut des Auslieferungsbegehrens und nach dem bestehenden Staatsvertrag mit Brasilien wegen Spionage nicht bestraft werden könne (weshalb er auch die Gelegenheiten zum Selbstmord nicht ausgenützt hatte), zeigte sich im Verlauf der Untersuchung sehr offenherzig und gestand unumwunden, was er den Russen geliefert hatte, darunter die Instruktion für die Alarmierung der Lemberger Garnison. Nur von dem Aufmarschplan wollte er absolut nichts wissen und antwortete Redl, der in auffallendem Übereifer wiederholt in ihn gedrungen war, die Auslieferung dieses Planes einzugestehen, einmal in treffender Weise: »Herr Hauptmann, woher sollte ich mir diesen Aufmarschplan verschafft haben? Den kann nur jemand aus den Generalstabsbureaus in Wien den Russen verkauft haben.«

Nach langem Drängen nannte Hekailo auch seinen Mittäter, den Major Ritter von Wienckowski, Ergänzungsbezirkskommandanten in Stanislau. Schon am nächsten Tage fuhr der Majorauditor Haberditz, mit den weitestgehenden Vollmachten ausgerüstet, in Begleitung Redls und des Auditors Dr. Seliger dorthin. Nachdem die Verhaftung Wienckowskis in dessen Bureau vorgenommen worden war, schritt man zur Hausdurchsuchung. Zuerst fand die Kommission in der Wohnung des Festgenommenen nichts von Bedeutung vor.

Im Kinderzimmer spielte das sechsjährige Töchterchen des Majors mit der deutschen Gouvernante. Das hübsche Kind war anfangs sehr befangen und starrte die Eindringlinge erschreckt an. Erst als Redl es beim Händchen ergriff und mit ihm polnisch zu plaudern begann, wurde es zutraulicher. Redl legte der Kleinen einige Fragen vor, zum Beispiel wieviel zwei mal zwei sei. Er stellte sich ganz überrascht darüber, daß das Kind richtige Antworten gebe, und belobte es, worüber die Kleine glücklich war.

»Bist du auch so gescheit, daß du weißt, wo Papa seine Briefe versteckt?« fragte Redl.

»Natürlich«, lachte das Kind und lief in das Arbeitszimmer des Majors, kroch unter den mächtigen Schreibtisch und deutete auf dessen linke Ecke.

Nun wurde das schwere Möbelstück umgelegt, man fand einen verborgenen Knopf, und als man auf diesen drückte, öffnete sich ein Geheimfach, voll mit schwerbelastenden Dokumenten. Die Kommission konnte mit ihrem kriminalistischen Erfolg zufrieden sein, aber diese Zufriedenheit wurde beeinträchtigt durch die tückische Art, wie Redl das unschuldige Kind zum Verrat am Vater mißbraucht hatte.

Die Untersuchungsakten dieser Affäre wiesen am Schluß ein Gewicht von hundertzwanzig Kilogramm auf. Sie wurden in einer großen Kiste aufbewahrt und von militärischen Posten bewacht, die die beiden Majore selbst des Nachts visitierten. Eines Tages – Majorauditor Haberditz war gerade abwesend – wollte Redl von Dr. Seliger einen streng geheimen Mobilisierungsbefehl zur Einsicht haben, der sich im Aktenstück befand. Dr. Seliger schlug ihm dies mit Hinsicht auf seine Instruktionen ab, worauf sich Redl verstimmt entfernte. Kurze Zeit darauf legte Redl der Kommission nahe, ihn nach Rußland zu entsenden, um in Warschau einige unklare Momente der Affäre aufzuklären. Dieser Vorschlag wurde abgelehnt, da die Erhebungen für das Verfahren nicht wichtig seien. Nach Verhaftung eines weiteren Komplicen, des Hauptmannes Alexander Acht, Personaladjutanten des Lemberger Militärkommandanten, fuhr die Kommission nach Wien zurück, wo die Verhöre mit den Festgenommenen fortgesetzt wurden.

Da ging in Redl eine auffallende Veränderung vor; hatte er anfangs eifrig für die Überführung des Majors Wienckowski gearbeitet, so begann er sich plötzlich für dessen Unschuld einzusetzen. Dies ging so weit, daß der Untersuchungsleiter Haberditz es ihm einmal unter vier Augen vorhalten und eine weitere Zusammenarbeit in Frage stellen mußte. Es kam zu einer Auseinandersetzung, nach welcher Haberditz beim Vorstand des Evidenzbureaus, Oberst Hordliczka, die Ablösung Redls als Experten verlangte. Oberst Hordliczka gab ihm in der Hauptsache recht und versprach, auf Redl entsprechend einzuwirken; zu einer Abberufung könne er sich jedoch nicht entschließen, da ja die Überführung des Hauptbeschuldigten ein Verdienst Redls gewesen sei und er diesen nicht um die Früchte seiner Bemühungen bringen wolle. Majorauditor Haberditz gab sich damit zufrieden, Redl wurde jetzt tatsächlich viel zurückhaltender und unterließ besonders seine hemmenden Einwände.

Ja, eines Tages erbot er sich sogar, aus Warschau ein Stück der angeblich von Major Wienckowski eigenhändig abgeschriebenen Mobilisierungsweisungen herbeizuschaffen, da Österreich-Ungarn doch beim Warschauer Generalstab einen sehr verläßlichen russischen Offizier im Solde hätte, dem es ein leichtes wäre, aus dem Dossier »H« ein Stückchen der bewußten Schrift herauszureißen. Majorauditor Haberditz war tieferschüttert, als ihm Redl dann nach ungefähr drei Wochen die Nachricht überbrachte, daß der bewußte russische Generalstabsoffizier in Warschau beobachtet worden sei, wie er sich beim Dossier »H« zu schaffen machte, daß daraufhin eine Untersuchung seines Schreibtisches erfolgte, in welchem an Österreich ausgestellte Rechnungen gefunden wurden, und daß der Mann zwei Tage darauf standrechtlich gehenkt worden sei.

Nach der Entlarvung Redls erscheint sein damaliges Doppelspiel aufgeklärt: er selbst hatte den Aufmarschplan Österreich-Ungarns an die Russen verkauft und ihnen gleichzeitig erklärt, daß er nun auch einen Spionageerfolg für Österreich erzielen müsse. Er brauchte diesen Erfolg um so mehr, als damals der Verrat des österreichisch-ungarischen Aufmarschplanes ruchbar wurde und er unbedingt einen Sündenbock haben mußte. Da lieferten ihm die Russen denn den Hauptbeschuldigten Hekailo aus, der nach seiner Flucht für sie nicht nur wertlos, sondern sogar unbequem geworden war: hatte doch der russische Generalstab den Major Hekailo um die Hälfte seines Lohnes geprellt und mußte eine Anzeige fürchten. Als aber dann die Untersuchung auf aktive österreichische Offiziere übergriff, an denen der russische Generalstab noch ein Interesse hatte (Wienckowski und Acht), wird es an Vorwürfen und Drohungen der Warschauer Stelle gegen Redl nicht gefehlt haben. Das war der Grund, warum Redl plötzlich für die Unschuld des Majors Wienckowski und des zweiten Offiziers eintrat und die Gerichtsbehörde zu bestimmen suchte, das Verfahren gegen die beiden einzustellen. Dies gelang ihm aber nicht, und Redl mußte nun in anderer Weise und um jeden Preis die Russen von seiner ferneren »Loyalität« überzeugen. Da beging er dann die größte Schurkerei, indem er dem russischen Generalstabsoffizier in Warschau, der für Österreich arbeitete, eine raffinierte Falle stellte und ihn so dem Galgen auslieferte.

Hekailo, Wienckowski und Acht wurden zu Kerkerstrafen von acht bis zwölf Jahren verurteilt; Wienckowski ist im Kerker von Josefstadt gestorben.

Ein anderer Fall, bei welchem Redl einen russischen Oberst, der für Österreich einen Spionagedienst geleistet hatte, dem Tode überantwortete, ist durch die Promptheit der Denunziation erwähnenswert. Der Thronfolger Franz Ferdinand war in Petersburg zu Besuch gewesen und hatte sich mit dem Zaren in verschiedenen politischen Fragen geeinigt; auf der Heimreise durch Rußland begleitete ihn Oberstleutnant Müller, der damals österreichisch-ungarischer Militärattaché in Petersburg war. Während der Fahrt trug der Erzherzog dem Militärattaché auf, den Zaren jetzt durch unnütze Spionage nicht zu reizen. Oberstleutnant Müller verabschiedete sich vom Thronfolger in Warschau. Dort fand sich der russische Generalstabsoberst Cyrill Petrowitsch Laikow bei Müller ein und bot ihm den ganzen russischen Aufmarschplan zum Kauf an. Eine solche Gelegenheit konnte Oberstleutnant Müller trotz der erzherzoglichen Weisung nicht ungenutzt lassen und vermittelte den Kauf des Aufmarschplanes.

Nach kurzem Jagdausflug kehrte Müller nach Petersburg zurück und begegnete schon am ersten Tage bei Leuten, die ihm bisher freundschaftlich entgegengekommen waren, einer frostigen, beinahe beleidigenden Ablehnung. Erst als er in der Zeitung las, daß Oberst Cyrill Petrowitsch Selbstmord begangen habe, glaubte er diese Kälte seiner bisherigen Gastfreunde zu verstehen: man hatte jedenfalls erfahren, daß Laikow ihm den Mobilisierungsplan angeboten, und vermutete nun, er habe den Unglücklichen dazu verleitet.

Aber das war es nicht, was ihm die zaristischen Militärs übelnahmen, sondern sie verargten ihm, daß er seinen Spion an Rußland verraten habe. Daran war jedoch Müller, der übrigens kurz darauf von seiner Stellung abgelöst wurde, ganz unschuldig. Der ehemalige Reichsratsabgeordnete Graf Adalbert Sternberg hat mit der Gattin des russischen Großfürsten Paul und dem österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand über diese Affäre gesprochen und deduziert aus dieser Unterredung, daß es Redl gewesen sei, der Laikow sofort an Rußland verraten, ihn dem sicheren Tode ausgeliefert habe.

Abgeordneter Sternberg gibt übrigens dem Obersten Redl die Schuld am Weltkrieg. »Dieser Schurke«, sagt er von Redl, »hat jeden österreichischen Spion denunziert, denn der Fall des russischen Obersten wiederholte sich mehrmals. Redl lieferte unsere Geheimnisse den Russen aus und verhinderte, daß wir die russischen Geheimnisse durch Spione erfuhren. So blieb den Österreichern und den Deutschen im Jahre 1914 die Existenz von fünfundsiebzig Divisionen, die mehr als die ganze österreichisch-ungarische Armee ausmachten, unbekannt – daher unsere Kriegsverluste und unsere Niederlage. Hätten wir klar gesehen, dann hätten unsere Generale die Hofwürdenträger nicht zur Kriegserklärung getrieben.«

Tatsächlich wurde diese Behauptung, daß Redl alle österreichisch-ungarischen und auch deutschen Spione, die in Rußland tätig waren, an Rußland verraten habe, wiederholt von Beteiligten erhoben. Und sie hat viel Wahrscheinlichkeit für sich, ebenso wie die Annahme, daß Redl konkrete Kriegsvorbereitungen verriet. In der Interpellations-Beantwortung bestritt es zwar der österreichische Landesverteidigungsminister von Georgi, aber er hat ja auch in der Bestimmung des Zeitpunktes, seit welchem Redl in feindlichen Diensten stand, unrecht gehabt. Georgi war eben vom Generalstabskorps düpiert, das den Generalstäbler auch dann noch zu entlasten versuchte, wenn er schon des größten militärischen Verbrechens überführt war. Redl mußte alles verraten, was man von ihm verlangte; das wird jedem klar, der sich vergegenwärtigt, wie Redl zum Verrat geworben wurde und wie sehr er sich daher in den Händen seiner Auftraggeber befand.

Ein Mann von den Fähigkeiten und dem Range Redls konnte nicht so zur Spionage verleitet werden, wie es bei militärischen Greenhorns üblich ist. Es war fast immer die gleiche Methode: ein junger Leutnant, der sich auf einem Fort bei Cattaro, Drohobycz oder Rasuljaca langweilte, erhielt eines schönen Tages die Aufforderung einer Schweizer oder holländischen Zeitung, Stimmungsberichte über das Leben der Ortsbewohner und über die Landschaft zu schreiben. Man habe von seinem schriftstellerischen Talente gehört usw. Er versuchte es, schickte etwas ein, bekam das Belegexemplar der Zeitung, die meist eigens für diese Zwecke hergestellt wurde, sah sich freudestrahlend gedruckt, erhielt ein Honorar von zweihundert Franken und große Komplimente der »entzückten« Redaktion. Dann verlangte man andere Mitteilungen von ihm oder trug ihm einen Redakteurposten mit fürstlichem Gehalt an – er möge sich Urlaub nehmen und nach Lausanne oder nach Den Haag kommen. Lehnte er es ab, so hatte man die große Pression bei der Hand: Organe der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft hätten sich bereits nach dem Artikelschreiber dringlich erkundigt, aber man habe das Redaktionsgeheimnis streng gewahrt, »weil man den wertvollen Mitarbeiter doch nicht verlieren wolle«. Dies sagte dem armen Leutnant genug. Wenn er sich nicht weiterhin willfährig zeige, würde er verraten werden. »Unbefugte Mitteilungen an die Presse«, vielleicht gar »Verrat militärischer Geheimnisse« – denn was konnte nicht alles als militärisches Geheimnis angesehen werden!

Ranghöhere Offiziere, die strafweise in Grenzstationen kommandiert oder durch die Einöde und die Einförmigkeit zu Alkohol und Hasard getrieben worden waren, wurden gewöhnlich durch Darlehensangebote von Geldleuten in deren Abhängigkeit gebracht. Eine ganze Bande solcher Lockwucherer hat am Anfang dieses Jahrhunderts in Galizien und der Bukowina ihr Unwesen getrieben, und sie waren es auch, die unter anderem Hekailo, Wienckowski und Acht zum Spionagedienst preßten.

Eine dritte Art der Spionenwerbung ist die, an Leute heranzutreten, die sich des Schmuggels oder anderer Verbrechen schuldig gemacht hatten, und sie unter Zusicherung von Straflosigkeit in den Kundschafterdienst aufzunehmen. In gewissem Sinne ist auch Redl als solch ein Opfer seines Vorlebens anzusehen. Zwar ist anzunehmen, daß er als Leiter des Kundschafterdienstes geistig angesteckt wurde. Gibt es eine zwiespältigere Beschäftigung, als Spione anzuwerben und zu entlarven, Spionen Aufträge zu geben und Spione der Bestrafung zu überantworten! Fast unvermeidlich mußte in ihm der Gedanke auftauchen, um wieviel besser er Nachrichten liefern könne als die armen Kerle, die er leicht entlarvte und die dennoch viel Geld verdienten, mehr als er selbst.

Trotzdem aber hätte er sich, ehrgeizig wie er war, niemals zu solchen Diensten hergegeben – wenn er nicht das Opfer einer Erpressung geworden wäre.

Als Leiter der Spionage-Anwerbung wurde er natürlich von Agenten fremder Mächte beobachtet, die wissen wollten, mit wem er verkehre. Diese Überwachungsorgane hatten bald in Erfahrung gebracht, was Redls Vorgesetzte und Kollegen nicht wußten – daß er verbotenen Umgang mit Männern pflege. Verschiedene Umstände weisen darauf hin, daß jener russische Militärattaché, den Kaiser Franz Joseph beim Hofball brüskiert hatte, derjenige gewesen war, der Redl – allerdings lange vorher – zum Spionagedienst für Rußland gepreßt hat. Als der Russe von der Homosexualität seines Gegners erfuhr, war Redl verloren, denn das Bekanntwerden dieser Anomalie mußte ihn den Kragen kosten, während er insgeheim Verbrecher sein und doch von Stufe zu Stufe steigen konnte, bis zum Generalstabschef und vielleicht noch höher.

*

Der Befehl des Platzkommandos Wien, der sich auf die Ausrückung zum Trauerkondukt für den dahingeschiedenen Herrn Alfred Redl, Oberst im k. u. k. Generalstab, bezog, war bereits bekanntgegeben, in der Rossauerkaserne übte die Musikkapelle ihre Trauermärsche, im Hof exerzierten drei Bataillone die Generaldecharge ein, und die Truppen und Anstalten hatten Trauerkränze bestellt, als am Mittwoch der Platzkommandant eine Zirkulardepesche absandte: »Das Leichenbegängnis des dahingeschiedenen Herrn Alfred Redl, ehemaligen Obersten, findet in aller Stille statt. Hiermit sind die mit gestrigem Platzkommandobefehl ausgegebenen Weisungen außer Kraft gesetzt. Bürkl, Oberst, m. p.«

Die Leiche wurde obduziert und dann im Wagen auf den Zentralfriedhof geschafft. Kein Offizier hat sie begleitet. Die Begräbniskosten, die des Toten Bruder (der inzwischen seinen Namen geändert hat) später der Hinterlassenschaft liquidierte, betrugen vierhundertsiebenundsechzig Kronen, einschließlich Sarg, Transportkosten und Grab. Auf dem Zentralfriedhof von Wien, im Grab Nr. 38, Reihe 29, Gruppe 79, liegt Alfred Redl begraben.

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Die Schriftstücke, Bücher und photographischen Platten, die mit dem Verrat Redls im Zusammenhang stehen konnten, wurden in einen großen Koffer gepackt, den der Chef des Evidenzbureaus nach Wien mitnahm. Die weiteren Untersuchungen in Prag wurden den Auditoren Dr. Leopold von Mayersbach und Dr. Vladimir Dokoupil übertragen, zum Gerichtskommissär hatte das Kleinseitner Bezirksgericht den Notar Dr. Uhlir ernannt, der die Inventur vornehmen ließ.

Es fand sich eine Barschaft von 15 184 Kronen vor, Wertpapiere in der Höhe von 5966 Kronen, Sparkassenbücher auf den Betrag von 2685 Kronen, Juwelen im Schätzwert von 2618 Kronen und Möbel im Schätzwert von 3584 Kronen, außerdem eine ungeheure Menge von gestickten Wäschestücken (darunter 195 Oberhemden), Garderobe mit zehn Uniformmänteln auf Seide und Pelz sowie Gummi- und Reitmäntel, Zivilwinterröcke und Ulster, 25 Paar Hosen, 400 Paar Glacéhandschuhe, 8 Offizierssäbel, 10 Paar Lackschuhe und dergleichen. Bloß eine Schußwaffe wurde versteigert: der fremde Browning, mit dem Redl sich getötet hatte und der natürlich als sein Eigentum ausgegeben wurde. Die Bibliothek bestand aus hundertfünfundzwanzig Bänden militärwissenschaftlichen Inhalts.

Die Sattelkammer, wo sich Schabracken, Brustriemen und Kopfgestelle aus Lackleder, silberne Sporen und Steigbügel und Sättel vorfanden, sowie das photographische Laboratorium mit Zeiß-Apparaten, Tessar-Objektiven, Rollfilm-Kassetten, Kopierrahmen, Reflektoren, elektrischen Entwicklungslampen und Stativen, waren die am reichsten ausgestatteten Teile der Wohnung. Obwohl diese von eigens berufenen Tapezierern einer Wiener Firma eingerichtet war, war sie äußerst geschmacklos. Ebensowenig zeugten die Nippes von besonderem Geschmack ihres Besitzers: eine alabasterne Frauenfigur im Hermelin zum Beispiel ließ, wenn man auf einen versteckten Knopf drückte, ihren Pelz fallen und stand nackt da! Im ganzen wurde die Einrichtung gerichtlich auf 33 167 Kronen geschätzt, wozu sich noch ein Vollblutschimmel, zwei Halbblutreitpferde, die beiden Autos (über die bei der Auktion Witze gemacht wurden: sie hätten keinen Führersitz, sondern einen Redlsführersitz) und der Grundbesitz Redls in Neustift-Innermanzing als weitere Aktivposten gesellten.

Diesem Vermögen standen große Forderungen gegenüber, so daß die Passiven etwa 45 000 Kronen betrugen. Am 30. November 1913 verhängte daher das Prager Landesgericht den Konkurs über das Nachlaßvermögen, dessen Ergebnis hinter den Erwartungen zurückblieb. Demgemäß gelangten an die Gläubiger bloß 14 938 Kronen und 30 Heller zur Auszahlung, das sind siebzehn Prozent.

Ein Prager Realschüler, der bei der Auktion ein Paket Rollfilme erstanden hatte, entdeckte, daß einer der Filme belichtet war. Er entwickelte ihn im Beisein eines Lehrers im physikalischen Kabinett der Schule, wobei die Photographie eines vertraulich ausgegebenen Ergänzungsblattes zum Dienstbuch J 15 (Kriegsfahrordnung) zutage trat. Der Film wurde dem Korpskommando übergeben, das ihn an das Evidenzbureau des Generalstabs nach Wien weiterleitete.

Die Briefe, die mit dem Verrat offenkundig in keinerlei Beziehung standen, bewahrte der Konkursmasseverwalter auf. Es sind Liebesbriefe von Männern. »Mit Freude ergreife ich die Feder . . .« – so beginnen die meisten, und mit Geldforderungen enden sie. Eine Sammlung von etwa dreihundert Visitenkarten füllte eine große Prunkschatulle: durchweg aristokratische Namen. Auf seine Beziehungen zur böhmischen Aristokratie schien sich Redl besonders viel einzubilden, die Erlangung des Adelsstandes sein brennender Ehrgeiz zu sein. Vorläufig hatte er sich damit begnügen müssen, über seine Initialen auf dem Wagenschlag eine Bürgerkrone zu setzen.

Zwei oder drei Briefe waren von einer Prager Lebedame, Ludmilla H., die als Geliebte des Generalstabschefs galt. Aber sie, eine »fausse maitresse«, war nur da, um jeden aufkeimenden Verdacht der Homosexualität zu verscheuchen. In diesen Briefen spricht Ludmilla H. Geldforderungen aus, ohne Umschweife erklärend, daß die Rücksicht auf ihre Freundschaft mit Redl, »die von Dir immerfort verlangte Wahrung des Dekorums« ihr die wichtigsten Einnahmequellen verstopfe . . .

Für geistige Betätigungen Redls fanden sich keinerlei Beweise vor. Die kurz vorher fertig gekaufte Bibliothek militärischen Charakters war nicht bezahlt, die Bücher nicht einmal aufgeschnitten. Andere Bücher hatte er nicht, im Theater war er bloß bei Operetten zu sehen gewesen. Seine Freundschaft mit Dr. Pollak, dem Oberprokurator Österreichs, scheint bloß auf der kriminalistischen Interessengemeinschaft aufgebaut gewesen zu sein.

Redl war groß und breit gewachsen, der Schnurrbart aufgezwirbelt, der Blondheit des sorgfältig gescheitelten Haares mit Färbemitteln nachgeholfen. Er galt als der eifrigste Mann des Generalstabskorps, als der prompteste Aktenerlediger (in Deutschland hatte den gleichen Ruf schon im Frieden Ludendorff), und dieser Fleiß erscheint noch bemerkenswerter, wenn man dazu die Arbeit seiner Spionage, die Intrigen zu deren Verschleierung und zur Verdeckung seiner Gleichgeschlechtlichkeit, die Affären mit seinen geheimen Freunden und seiner öffentlichen Freundin addiert.

Es ist kein Zweifel, daß der Profosensohn Alfred Redl (sein Vater war Gefängnisverwalter des Garnisongerichtes Lemberg) noch höhere Machtstellen erlangt hätte, wenn seine heimliche Tätigkeit noch ein weiteres Jahr unentdeckt geblieben wäre, bis zum Ausbruch des Weltkrieges.

 


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