Egon Erwin Kisch
Prager Pitaval
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Pierrot, der Totschläger

In Paris erlebte die zweitausend Jahre alte Kunstgattung der Pantomime ihre große Wiedergeburt, von Paris aus ging das althellenische Mienenspiel zu Anfang des vorigen Jahrhunderts in die moderne Welt und unterwarf sie sich.

Das war das Werk von Gaspard Deburau. Ohne Zweifel verdanken die zeitgenössischen Biographen ihm selbst die Angabe, daß er am 31. Juli 1796 zu Neu-Kolin in Böhmen geboren ist, doch läßt er durchblicken, er sei trotzdem von französischem Blute: sein Vater habe sich als ausgedienter französischer Soldat auch in Böhmen, wo er sich niedergelassen hatte, kein Vermögen zu schaffen vermocht. Nach Warschau übersiedelt, erreichte ihn dort die Mitteilung, daß ihm eine Erbschaft zugefallen sei, das Familiengut in Amiens. Da es unmöglich gewesen, das Reisegeld zu erschwingen, formierte der alte Deburau aus seiner Familie eine Akrobatentruppe und wanderte etappenweise nach Frankreich. Seine beiden Töchter ließ er auf das gespannte Seil steigen, die drei Söhne produzierten sich als Equilibristen (der kleine Gaspard übrigens mit besonderer Ungeschicklichkeit).

In Amiens, wo die Truppe endlich ankam, um das märchenhafte Gut in Empfang zu nehmen und nun das Leben von reichen Landjunkern zu beginnen – ach, in Amiens, da habe es sich erwiesen, daß das Familienerbe ein verfallenes Haus mit einem halben Morgen schlimmsten Brachlandes war. Schnell entschlossen, veräußerte Vater Deburau die Baracke für einen Pappenstiel, kaufte für achtzehn Franken ein Pferd und wanderte weiter. Man schnallte dem Thespisgaul zwei Körbe an, in denen das Zirkuspersonal und der Fundus schaukelten. Das Pferd stand um, zu Fuß kamen die hungernden Hinterbliebenen in Konstantinopel an, und zu Fuß zogen sie von dort wieder nach Frankreich zurück, nach Paris.

Auf der Rue Saint-Maur etablieren sie sich. Der eine von Deburaus Söhnen, »Nieumensek« (nejmensi? nemecek?) gerufen, wird vom begeisterten Publikum als König des Trapezes bewundert, der zweite, Stephan, ist als vollendeter Springer populär. Gaspard jedoch bleibt im Dunkel. Von den beiden Schwestern wird die ältere, die in ihrer Sprache den böhmischen Geburtsort nicht verleugnet, deshalb und wegen ihrer Schönheit »La belle Hongroise« (die schöne Ungarin) genannt, die jüngere springt vom schwebenden Reck an den Traualtar; sie heiratet einen Oberleutnant Dobrovski, eine gute Partie für ein Seiltänzerkind, das sich auf der Straße und auf dem Jahrmarkt produziert.

Aber Gaspard hat beinahe noch mehr Glück, wenigstens eine Viertelstunde lang. Als er sich einmal der Truppe seines Vaters nachschleppt, überholt ihn – so diktiert Deburau seinem Biographen – bei Saint-Cloud die Karosse Napoleons. Der Kaiser läßt – eine Laune – den staubbedeckten Komödianten in seinen Wagen steigen, das Gespräch kommt auf das Theater, Bonaparte fragt den blutjungen Artisten über die modernen Dramatiker, besonders über Baour-Lormian. »Sire«, antwortet Gaspard, »diese Herren könnten große Poeten sein, wenn sie, statt Tragödien zu schreiben, sich damit begnügen würden, Pantomimen zu verfassen!« Denn Gaspard hat sich in die Pantomimen vergafft, die zwischen den Jongleurstückchen eingeschoben werden, er träumt davon, die Gestalten zu vertiefen, die Szenen abendfüllend und ihre Handlung fester zu gestalten und – der Talma der Pantomime zu werden.

Napoleon ist schon tot, als sich Deburaus Traum verwirklicht. Nach kurzem Probespiel bei Nicolas Bertrand, Direktor der Seiltänzerbühne, Nr. 18, Boulevard du Temple, schafft er Namen und Figur des Pierrot, eine echt französische Ausgabe des italienischen »Gille«, von echt französischem Charakter und echt französischem Namen. Ganz Paris ist von dem Pierrot begeistert, der in Paris entstanden ist, sieht in ihm den französischen Volkscharakter, die Literatur bemächtigt sich dieses neuen Heldentyps, und bis zu Laforgue, bis zum »Pierrot Lunaire« Girauds läßt sie ihn nicht mehr los. N. M. Bertrand engagiert den glücklichen Gaspard Deburau am Pfingstmontag 1828 auf drei Jahre für die Riesengage von fünfunddreißig Francs per Woche. Und jeden Abend spielt er von da an den Diener Peterchen, »Pierrot«, den gelenkigen und tolpatschigen, von Prügeln und Mißgeschick und Harlekin verfolgten Deus ex machina der vielen »feenhaften Harlekinpantomimen mit Ausstattung, Szenenwechsel, Divertissement und Metamorphosen«.

Kaspar der Große ist er jetzt, der Franzose aus Neu-Kolin hat sein Genre gefunden, mit dem er zu den Parisern pariserisch sprechen kann, ohne den Mund aufzutun. »Avec lui, la pantomime des Funambules devient aussi française que sont le Cid et l'Etourdi«Mit ihm wurde die Artistenpantomime genau so französisch, wie es auch der Cid und l'Etourdi sind. (Der Cid, Corneilles Stück, auf dem Schauspiel des Spaniers Guillen de Castros und den Romanzen über diesen legendären spanischen Helden beruhend.), so singen seine Panegyriker, schreiben die Größen der zeitgenössischen Kritik, die ihn für einen Franzosen halten. Béranger vergöttert ihn, Théophile Gautier, Charles Nodier, die Malibran, Gérard, der ältere Dumas, die Gesellschaft, das Volk, die Künstler und Kinder.

Aber durch seinen Ruhm gerät sein Ruhm ins Wanken. Im April 1836 erlebt auch dieser Napoleon sein Waterloo. Gaspard Deburau geht mit seiner Frau in Bagnolet spazieren. Ein junger Vorstädter (ob aus Begeisterung, ob aus Stolz darüber, den Pierrot auch ohne Pierrotkostüm zu erkennen, ob im Glauben, durch einen Zuruf besonders geistreich zu sein, oder aber in der Absicht, den Mimen zu ärgern, weiß man nicht) beginnt zu schreien:

»Hurra, Pierrot! Hurra, Pierrot!«

Gaspard Deburau, du bist über diese Ovation nicht erfreut. Gaspard Deburau, ich verstehe dich! Auf der Bühne, ja, da bist du der willfährigste Diener des Bürgers Boissec, wirbst für ihn um Colombine, schlägst dich an seiner Stelle mit seinem Nebenbuhler Arlequin, wirst von ihm verprügelt, bist auch der ergebenste Sklave des Publikums, und um sein Entzücken zu erregen, stolperst du über Blumenvasen, läßt dir den Lüster auf die Nase fallen, dich mit Schürhaken, Besen, Narrenpritschen grün und blau schlagen – aber eben deshalb willst du außerdienstlich ein Grandseigneur sein, ein ernster Mann. Eben deshalb gehst du auf den Burschen hin, der dich auch außerhalb der Vorstellung für einen Pierrot, einen Hanswurst, einen Gimpel zu halten wagt, gehst auf ihn zu und versetzest ihm eine Maulschelle.

Dieser Vorfall ist das, was man in deinem Theater den »Prologue« nennt, und es folgt der »spectacle tragique«. Am Abend, als Deburau heimkehrt, sieht er sich seinem Gegner gegenüber, der ihm, von zahlreichen Freunden umgeben, auflauert, sich zu rächen.

»Ohé, Pierrot, ohé!«

Mit einem Sprung – selbst seinem Bruder Stephan würde dieser Sprung alle Ehre machen – ist Gaspard beim Gegner. Zum Unglück hat Deburau seinen Stock in der Hand, er ist einer der besten Stockfechter der Zeit, und vielleicht, weil er von dieser Fertigkeit auf der Bühne keinen ernsthaften Gebrauch machen darf, brennt er darauf, sie anderwärts zu üben, er ist in Wut, und von seinen Streichen getroffen, sinkt der arme Mann zu Boden, um nie mehr aufzustehen.

Er ist tot, und Pierrot ist ein Mörder. Man liefert ihn in das Untersuchungsgefängnis Saint-Pélagie ein. Und da ein Unglück selten allein kommt, erfährt man, Pierrot, der Pechvogel, heiße gar nicht »Deburau«, sondern – »Dvořák«! Die Boulevardpresse, nach Details über den sensationellen Totschlag auf den Beinen, teilt dem staunenden Paris mit, daß der pariserischeste Pariser nicht einmal ein zufällig in Kolin geborener Pariser, sondern ein waschechter Böhme ist. Alle seine autobiographischen Geschichten von dem, wenn auch schäbigen Erbgut in Amiens, von der zu Napoleon Bonaparte geäußerten Kritik über das moderne französische Drama – all das sind Phantasieprodukte! Auch den Pierrot hat er nur erfunden, um sein böhmelndes Französisch zu verdecken! Die französische Literatur verdankt ihre neuromantische Richtung und die Pantomime ihre Renaissance dem dialektischen Defekt eines ehrgeizigen Schauspielers.

Deburau-Dvořák in der Kerkerzelle von Saint-Pélagie hat keine Ahnung, daß ihn nicht die Bluttat, sondern seine Herkunft beim Pariser Publikum umbringen wird. »Wenn ich auf der Bühne mit meinem Stock das Drehkreuz schlage, werden die Zuschauer an Pierrot, den Mörder, denken, und ihr Lachen wird erstarren«, schreibt er aus der Haft. Tatsächlich erhebt auch ein Teil des Schrifttums gegen Deburau den Vorwurf der Blutgier; Alphonse Karr enthüllt Deburau als einen verbissenen, außerhalb der Bühne nie lächelnden Menschen, und daraus entsteht die Anekdote, Deburau habe inkognito wegen Schwermut einen Arzt konsultiert, der ihm riet, zu Deburau zu gehen, um bei dessen Späßen das Lachen zu lernen. Henri Rivière behauptet, daß Deburau am liebsten mit Mordinstrumenten hantiere, Rasiermesser jongliere, Gifte mische . . . Aber das hätte ihm weniger geschadet, als seine fremde Nationalität.

Zwar verließen ihn nicht alle Freunde. Die George Sand und Champfleury führten im »Constitutionel«, im »Charivari« und im »Corsaire-Satan« einen heftigen Feldzug für seine Freilassung, die Nationalgarde, deren Mitglied er war, setzte sich für ihn ein und gab zu seiner Entlastung an, »dieser heftige Böhme besitzt eben das heiße Blut aller Ungarn«. Wirklich konnte der entlarvte Pierrot wieder die Bühne betreten, aber der große Erfolg blieb ihm verwehrt; verhältnismäßig jung stirbt er am 18. Juni 1846. Auf seinem Grabstein steht:

»Ci-git un comédien qui a tout dit
et qui n'a jamais parlé.«Hier ruht ein Komödiant, der alles gesagt und doch niemals gesprochen hat.

Sein Sohn und Nachfolger, Charles Deburau, beweint ihn, Kunst und Volk betrauern ihn, und man schmückt das Grab des Napoleon-Pierrot, bis eine neue Art der Pantomime kommt, mit neuen Helden: das Kino. Da vergißt man Gaspard Deburau aus Paris, dem man vorgeworfen hatte, daß er Kaspar Dvořák heiße und aus Kolin sei.

 


 << zurück weiter >>