Egon Erwin Kisch
Prager Pitaval
Egon Erwin Kisch

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Käsebier und Fridericus Rex

Im Sommer 1757, nach der Schlacht bei Prag, belagerte Friedrich II. fast mit seiner ganzen Wehrmacht die Stadt, in die sich die österreichische Armee unter Führung des Herzogs Karl von Lothringen zurückgezogen hatte. Obwohl in Prag Hungersnot und Bombardement furchtbar wirkten und die Stadt so hermetisch abgesperrt war, daß weder Nahrungsmittel noch Boten vom Hofe Maria Theresias hinein konnten, erfolgte keine Übergabe. Auch die Preußen vermochten es nicht, Kundschafter in die Stadt zu bringen, um den wahren Zustand der belagerten Armee und der Verteidigungslinien auszuspionieren. Da ließ König Friedrich den durch seine Schlauheit und Waghalsigkeit, Verkleidungen und Streiche geradezu weltberühmten Dieb Christian Andreas Käsebier (einen gebürtigen Hallenser) mittels Eilstafetten in das Lager kommen, damit er sich in die Stadt einschleiche und entweder Nachrichten bringe oder gar durch Bestechung von Wachtposten Prag in die Hände der Brandenburger liefere. Die Eskorte traf am 12. Juni 1757 um neun Uhr dreißig aus dem Stettiner Strafhause im Schloß Stern ein, und der Dieb wurde sofort vom König in einer einstündigen Audienz empfangen.

Schon die ersten Worte, die Friedrich und Käsebier wechselten, verrieten den kommenden Konflikt. Käsebier trug nämlich an den Händen eine große Kette, an der eine eiserne Kugel hing. »Er war die ganze Reise so gefesselt?« fragte der König. – »Nein, Majestät, erst beim Betreten des Lagers hat mir der Transportkommandant die Kette angelegt.« – Der König mit unverhohlener Verachtung: »Es ist nicht vornehm, diese Nachsicht zu verraten.« – »Majestät«, versetzte darauf Käsebier, »ein preußischer Leutnant, der glaubt, der große Käsebier werde flüchten, wenn ihn der König ruft, wäre nicht wert, ferner in den Diensten des Königs zu stehen.« Über diese Antwort soll Friedrich, der durch sie eines voreiligen Urteils überführt wurde, sehr betroffen gewesen sein.

Sein Ärger steigerte sich, als er mit einem, wie er meinte, überraschenden Auftrag herausrücken wollte und Käsebier ihm ins Wort fiel, exakt erklärend, auf welche Weise er sich nach Prag einzuschleichen beabsichtige und durch welche Mittel er für den König die Stadt gleichsam stehlen wolle. Der König hatte zu den Vorschlägen Käsebiers nur hinzuzufügen, daß sie binnen drei oder vier Tagen vollzogen sein müßten. Darauf reagierte Käsebier mit den Worten: »Aha, die Entsatzarmee ist schon so nahe!«

Diese Bemerkung versetzte Friedrich II. und den anwesenden Marschall Keith in die peinlichste Überraschung. Tatsächlich versammelte sich nämlich seit zirka einer Woche unter dem österreichischen Feldmarschall Daun die zum Entsatz von Prag bestimmte Armee bei Kolin, und es mußte binnen vier Tagen zur Entscheidungsschlacht kommen. Friedrich vermutete aber mit Recht, daß die Nachricht vom Herannahen der Entsatzarmee in der so lückenlos abgeschlossenen Stadt Prag nicht bekannt sei. Diese Ahnungslosigkeit der Prager war für Friedrich ungeheuer wichtig, da er drei Viertel der Belagerungsarmee abziehen und gegen Daun werfen wollte. Würde nun die in Prag eingeschlossene Armee von der Nähe eines Entsatzes erfahren, so könnte sie eine allfällige Absicht der Übergabe hinausschieben und sogar gegen die geschwächten Belagerer einen erfolgreichen Ausfall unternehmen. Und nun sollte der König einen Gauner als Spion in die Stadt lassen, der das Vorhandensein der Entsatzarmee erraten hatte!

»Was fällt Ihm ein«, schrie Marschall Keith, »wer spricht von einer Entsatzarmee? Von einer Entsatzarmee ist keine Rede.«

Käsebier ließ sich aber dadurch nicht beirren und verneigte sich nur ironisch: »Wie Herr Marschall befehlen.« Während der ziemlich erregten Audienz zog Marschall Keith den König beiseite und warnte ihn, den Dieb, der ein so gefährliches Kriegsgeheimnis wisse, zum Feind zu lassen. Friedrich II. aber, der nun schon einmal den Kriminalverbrecher aus Stettin herbeigeholt hatte, wollte ihn auch verwenden und erwiderte bloß: »Man wird ihm unten nicht glauben. Er war bereits im Prager Stockhaus eingesperrt und auf dem Pranger gestanden. Der Aussage eines solchen Menschen schenkt man keine Bedeutung.«

Er wandte sich an Käsebier, und um ihn einigermaßen zu versöhnen, forderte er ihn auf, eines seiner berühmten Gaunerstückchen zu erzählen. Dies lehnte der Dieb ab, indem er sagte, er vermöge es nicht, wie ein Schauspieler oder ein Fabeldichter, auf Kommando eine Geschichte vorzubringen, er könne nur im Freundeskreise bei einem Gläschen Bier sehr lustig erzählen. »Ich werde Ihn doch nicht zur Hoftafel einladen!« brauste da der König von neuem auf.

Darauf soll Käsebier wörtlich geantwortet haben: »Spotten Eure Majestät nicht! Wenn ich wiederkehre, kann es leicht geschehen, daß Majestät mich an der Hoftafel sitzen lassen. Im Kriege kann als Verdienst aufgefaßt werden, was unter anderen Umständen als Kriminalverbrechen gilt: wenn jemand den Feind tötet, so ist er kein Mörder, sondern ein Mordskerl, wenn jemand in eine feindliche Stadt einbricht, so ist das kein Einbruchsdiebstahl, sondern ein siegreicher Einbruch. Und wenn da unten in Prag morgen das Kaiserliche Hauptquartier in Flammen aufgehen sollte, so werden Eure Majestät schwerlich sagen, daß der Käsebier ein ›Brandstifter‹ ist, sondern ›ein Feuerkopf‹. Deshalb kann es sehr leicht sein, daß ich nächste Woche an der Hoftafel sitze und Eurer Majestät lustige Kapitel aus dem Kriminalroman ›Leben und Taten des Andreas Christian Käsebier‹ erzähle.«

Bei der Erwähnung der Brandstiftung stampfte der König unwillig auf und rief erbost: »Er wird auch mit anderer Recompense zufrieden sein. Er wird begnadigt werden und Geld erhalten.« Damit war die Audienz zu Ende.

Tatsächlich gelang es Käsebier, durch die Tore zu kommen. In einer Spelunke am Moldauufer, nahe dem Spital der Barmherzigen Brüder, begann er seine Recherchen. Dort wurde er von einer jungen Dirne erkannt. In ihrer Kinderzeit hatte sie ihn am Pranger stehen gesehen. Das Mädchen ließ sich mit Käsebier ein, und als sie Gewißheit hatte, daß er ein preußischer Späher sei, versuchte sie, ihn davon abzubringen, den Preußen Kriegsdienste zu leisten.

Käsebier beharrte darauf, binnen vier Tagen die Entscheidung herbeizuführen und solcherart seine Geschicklichkeit dem König zu beweisen. Daraufhin denunzierte die Dirne ihren neuen Liebhaber mit lauter Stimme bei einem österreichischen Geheimpolizisten, der gleichfalls in der Spelunke zu Gast war. Der Spitzel trat aber auf den Entlarvten zu und – bat Käsebier, ihm bei der preußischen Armee Beschäftigung zu verschaffen. Der erstaunte Käsebier erfuhr, daß die Übergabe der Stadt vom österreichischen Generalstab bereits beschlossen sei und daß der Obristleutnant Laudon um sechs Uhr abends den Preußen die Kapitulation anbieten werde. Zu diesem Schritt habe sich der Generalstab veranlaßt gesehen, weil die Stadt vollkommen ausgehungert und stark zusammengeschossen und die Hoffnung auf Annäherung einer Entsatzarmee geschwunden sei. Daraus erkannte Käsebier, daß er dem König keinerlei Dienste mehr leisten und ihm seinen Wert als genialer Verbrecher nicht mehr beweisen könne. »Wenn ich die Stadt nicht für den König stehlen kann, so will ich sie wenigstens dem König stehlen«, soll er gesagt haben. Er ließ sich durch den Spitzel ins Clementinum führen, wo das österreichische Generalkommando tagte und machte davon Mitteilung, daß die Entsatzarmee Dauns ganz nahe sei. Man benachrichtigte sofort Herzog Franz, die bereits beschlossene Übergabe wurde hinausgeschoben und Käsebier in vorläufige Verwahrung genommen, bis sich die Richtigkeit seiner Angaben herausgestellt hätte.

Vier Tage später fand die Schlacht bei Kolin statt. König Friedrich, der den Kern seiner Armee vor Prag hatte zurücklassen müssen, wurde vernichtend geschlagen. Über Nimburg flüchtete er zu den Truppen vor Prag zurück, wo er die Belagerung abzubrechen befahl. Während des Abzuges erschien ein österreichischer Parlamentär mit einem Transport von einhundertzweiundzwanzig preußischen Offizieren, die, vor Monatsfrist in der Prager Schlacht verwundet, im Lazarett der Barmherzigen Brüder gelegen hatten und nunmehr von den Siegern zu ihrer Armee zurückgeschickt wurden. Der von einem Trompeter mit weißer Fahne begleitete Unterhändler wurde vom König im Schloß Stern empfangen. Bei dem letzten Hofsouper vor Prag, zu dem der österreichische Offizier selbstverständlich zugezogen wurde, erzählte er: die Stadt habe sich vor einer Woche ergeben wollen, doch sei diese Übergabe (die den Krieg zugunsten Preußens entschieden hätte) im letzten Augenblick durch die Mitteilungen eines gewissen Käsebier abgesagt worden. »Hätte ich diesen Schurken hier«, schrie Friedrich, als er das hörte, »ich würde ihn auf der Stelle erschießen lassen.« Da nimmt der österreichische Offizier die Allongeperücke ab und gibt sich als Käsebier zu erkennen, während gleichzeitig der begleitende Trompeter die weiße Fahne über ihm schwingt. »Mich schützt das Völkerrecht!« Der König hebt die Tafel auf, der Parlamentär reitet nach Prag – er hat, Käsebier, doch an der Hoftafel gesessen!

Im Nachwort zu meiner Komödie »Die gestohlene Stadt« ist angegeben, wie der König Friedrich diese Episode unterdrückt hat, wie er eine weitere Befassung mit den volkstümlich gewordenen Streichen Käsebiers verbot, den vorher die Dichter Bürger, Weisse, Seume und Lichtenberg besungen hatten, und wie auch die Autobiographie des Meisterdiebes nicht zur Drucklegung zugelassen wurde. Von Käsebiers ferneren Schicksalen weiß man bloß, daß er in Sachsen ein Gut gekauft, geheiratet hat und dort zwanzig Jahre später friedlich gestorben ist.

 


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