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XXV

Als Dr. Renault wieder zu sich kam, befand er sich zum zweitenmal im Fegefeuer.

Es gibt bekanntlich Fälle von Doppelleben. Man kann ein Leben im Traum und eines im wachen Zustand führen, die so verschieden voneinander sind, daß man in dem einen Zustand nichts von dem anderen ahnt; eine recht seltene, aber bekannte Psychose. Daran mußte Dr. Renault denken, als er erwachte und sich deutlich daran erinnerte, daß er hier schon früher gewesen sei, eine Erinnerung, von der sein Gehirn im lebendigen Leben nichts gewußt hatte. Und abermals hatte er Gelegenheit, sich über die Relativität einer Überzeugung zu wundern.

Er befand sich in demselben Raum mit der roten Dämmerung, und die Temperatur betrug mindestens vierzig Grad, höchstwahrscheinlich noch mehr.

Wieder öffnete sich die Tür, und aus der roten Glut trat Herr Asbest, ganz wie das erstemal.

Begrüßungsworte, Wiedersehensfreude schienen überflüssig, war es doch, als seien seit ihrer letzten Begegnung nur wenige Augenblicke vergangen.

»Sie kommen früher, als ich erwartete«, sagte Herr Asbest, und durch seine Stimme klang etwas wie Einsamkeit, als sei er viel allein gewesen. »Elf Jahre hatte ich Ihnen gegeben, und Sie haben nicht einmal das eine verbraucht.«

Dr. Renault preßte die Lippen aufeinander und antwortete nur durch einen langen, verlegenen Kehllaut. Was war da zu sagen …?

»Das Leben hat Ihnen also nicht geschmeckt«, fuhr Herr Asbest fort, indem er Dr. Renault einen anerkennenden Blick zuwarf, »und Sie sind wieder zu mir gekommen. Nun ja, ich habe Ihnen verschiedene Versuchungen auf den Hals geschickt, um Sie zu prüfen, zu erschrecken. Sie kennen doch die nordische Sage von Thor, der von Udgaardsloke auf verschiedene Weise verblendet wurde. Ähnliche Rollen haben wir beide gespielt, natürlich ohne daß Sie es wußten. Ich habe Sie nicht so zeitig erwartet, es zeugt von Ihrem guten Geschmack, daß Sie wieder hier sind. Nicht wahr, das Leben hat keinen Wert für Sie? In Zukunft kann ich mich nun an Ihrer Gesellschaft erfreuen, denn Sie erinnern sich doch an unseren Vertrag? Sie wollen zu mir herabsteigen.«

Die Tür zum Feuer stand offen, ein weißglühendes Viereck, und Dr. Renault blickte verstohlen hinein.

»Worin besteht Ihre Hölle?« fragte er, wie ein Mann, der klaren Bescheid haben will.

»Feuer hat konservierende Eigenschaften«, antwortete Herr Asbest. »Wer zu mir kommt, über den verfüge ich, wie es mir gefällt. Ich will Ihnen ein Beispiel geben.«

Damit nahm er eine lange, schwarz emaillierte Forke, stieß sie ins Feuer, stocherte darin herum wie ein Fischer in seinem Fischkasten und zog einen Mann heraus, den Dr. Renault sofort erkannte, die ganze Welt hatte ihn gekannt, einen großen, gefürchteten Finanzmann, und der Mann selbst war von gewaltigem Wuchs, korpulent wie ein Wal, mit großen, schwammigen Zügen. Keiner konnte über seine Identität im Zweifel sein. Er war weißglühend, als er aus dem Feuer gezogen wurde, kühlte aber zu Rotgluthitze ab, während Herr Asbest ihn vor der Ofentür hielt. Dann schob er ihn wieder hinein.

Dr. Renault beugte sich vor und blickte durch die Ofentür hinab. Tief, tief unten, meilenweit, sah er durch die klare Feuerluft eine Großstadt. Auch sie war weißglühend wie ein Rost, mit Häuserblöcken und langen Verkehrsadern, eine unermeßliche Stadt …

»Kannten Sie ihn?« fragte Herr Asbest, als er den Finanzmagnaten wieder ins Feuer gesteckt hatte.

Dr. Renault nickte.

Nun stieß Herr Asbest seine Gabel in eine andere Ecke des Ofens, einige Jahrtausende tief hinunter, und als er sie wieder herauszog, hatte er keinen Geringeren als Alexander den Großen auf der Gabel. Man erkannte ihn sofort nach Porträts, hauptsächlich nach der Londoner Büste. Ein schlanker, muskulöser, schöner Mann, gut erhalten durch das Feuer, mit dem bekannten Löwenausdruck, der göttlichen Blitzkraft im Auge, die Jugend selbst, sprungbereit zu großen Taten. Es war ein ungewöhnliches Erlebnis, Alexander dem Großen Aug in Aug gegenüberzustehen. Herr Asbest aber zeigte ihn nur einen Augenblick, dann senkte er ihn vorsichtig wieder in die Regionen des Feuers.

»Wünschen Sie eine bestimmte Person zu sehen?« fragte Herr Asbest.

Dr. Renault überlegte.

»Kann ich die Aphrodite von Kyrene zu sehen bekommen?«

Herr Asbest suchte nicht lange im Ofen und zog eine Frau aus dem Feuer, ein schlankes, ganz nacktes junges Mädchen. Es war Anne Kielstra. Während sie vor dem Ofen abkühlte, ging die Weißgluthitze in einen rosa Ton über, wie Metall, das sich beschlägt. Sie sah aus, als schliefe sie. Herr Asbest hielt sie nur eine Sekunde, aber lange genug, daß man sie von oben bis unten betrachten konnte, dann senkte er sie schnell wieder ins Feuer.

Als er Dr. Renault anblickte, fand er ihn sehr bewegt. Sie schwiegen beide eine Weile.

»Also,« sagte Herr Asbest wie jemand, der zur Sache kommen will, »das Wesentliche unserer Vereinbarung bestand ja darin, daß wir unsere Persönlichkeiten austauschen wollten, nachdem Sie mir verfallen wären. Eine Laune von mir. Sie übernehmen meine Natur, ich die Ihre. Wir können sogleich beginnen. Wie Sie sehen, habe ich nicht die Absicht, Sie in konserviertem Zustand hier zu behalten, ich schulde Ihnen laut Vertrag noch zehn Jahre auf Erden, da Sie nur das eine verbraucht haben. Wenn Sie wollen, können Sie in meiner Haut nach oben gehen und sie noch zehn Jahre abnutzen.«

»Das konnte ich mir denken«, sagte Dr. Renault kampfbereit und betrachtete den Versucher mit neu erwachter Energie. »Ich weiß nicht, warum Unmenschliches mir fremd sein sollte. Man lebt ja in Stadien. Sie wollten mich wohl von den Arbeitsfeldern des Lebens vertreiben, indem Sie mir einen Eindruck von der Unfeinheit des Daseins gaben? Ich verlange noch ein Leben!«

Herr Asbest verhielt sich still, wie jemand, der hofft, daß man nicht in seinen Zügen liest …

Dr. Renault aber sagte geistesgegenwärtig und entschlossen:

»Auf Grund eines gewissen Paragraphen wird unser Vertrag hinfällig, falls ich mir ein neues Leben wünsche. Gut, ich wünsche es mir mit allen Kräften.«

Da stand Herr Asbest und sah nicht gerade intelligent aus, faßte sich aber schnell und trug seine Niederlage mit Anstand.

»Der hastige Umschwung Ihrer Gemütsstimmung entbindet Sie von der Erfüllung des Vertrages«, sagte er loyal. »Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer neu erwachten Lebenslust. Sie sind frei, können ins Leben zurückkehren und haben noch zehn Jahre vor sich. Reinverdienst für Sie, blauer Dunst für mich …«

Und in verändertem Ton fügte er hinzu, indem er Dr. Renault verhandlungsfreundlich ansah:

»Übrigens möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen. Wenn Sie den Vertrag erneuern wollen, könnte ich Ihnen vorteilhaftere Bedingungen bieten als das vorige Mal. Was würden Sie zum Beispiel dazu sagen, wenn ich Aphrodite von Kyrene zur Erde zurückkehren ließe und ihr ein neues Leben gäbe?«

Dr. Renault atmete heftig durch die Nase und versuchte seine Erregung zu verbergen. Während Herr Asbest auf Antwort wartete, ließ er Anne Kielstra noch einmal aus dem Feuer aufsteigen, in aufrechter Haltung, wie Aphrodite, die soeben dem Meer entstiegen ist, schlafend, in zarten weiß und rosa Tönen, wie aus Rosen geformt. Während er sie zeigte, hielt er seine Augen auf Dr. Renault gerichtet, und ließ sie dann langsam wieder verschwinden.

»Ich bin bereit zu unterschreiben«, sagte Dr. Renault.

Er gab Herrn Asbest die Hand, und die beiden Herren standen einen Augenblick Hand in Hand, als hätten sie sich noch etwas zu sagen.

Dann trennten sie sich, und Dr. Renault begann ein neues Leben.

 


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