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XVII

Genosse Renault wurde eines Tages in den Mannschaftsverband aufgenommen und konnte wieder frei auf dem Dampfer umhergehen.

Genosse Stoker war als Sekretär des Kommissariats an die Spitze der Diktatur getreten.

Beauftragter für die Maschinen Genosse Franck hatte Dr. Renault über die stürmischen Sitzungen, die zu dieser Verschiebung geführt hatten, auf dem Laufenden gehalten.

»Es war ein Duell zwischen einem Tenor und einem Bariton«, berichtete er mit seinem spitzbübischen Lächeln, das in der letzten Zeit etwas Leidendes bekommen hatte. Er unterdrückte seinen Gram, indem er sich über alles lustig machte.

»Sie hätten dabei sein müssen,« fuhr er in seinem Bericht fort, »es war ein regelrechter Sängerkrieg. Serge ging bis in das Falsett hinauf und riß die Menge mit, Stoker war abgrundtief und vertrauenerweckend, ihm konnte die Menge auch nicht widerstehen. Redete Serge, dann waren alle auf seiner Seite, nahm Stoker das Wort, dann brüllte die Menge ihm Beifall. Es war rührend. Schließlich aber behielt Stoker die Mehrheit. Einer muß bei Versammlungen das Protokoll führen, davor hat man Respekt, Stoker hatte sich gleich anfangs dazu erboten und wurde zum Sekretär ernannt. Ich will nicht behaupten, daß die anderen Analphabeten sind, bei Verhandlungen aber gibt es immer einen Schriftkundigen, der über kurz oder lang die ganze Geschichte in die Hand nimmt. Stoker läßt die Reden stenographieren und hat Ordnung in den Kram gebracht. Und wissen Sie, wer sein Tippfräulein ist? Anne Kielstra, die Meisterschwimmerin! Sie kann noch mehr als schwimmen. Es ist seltsam, nach einer Revolution, wenn das Alte neu geworden und man in den Himmel gekommen ist, dann sitzen auch sogleich die Richtigen zu Allvaters Rechten!«

Dr. Renault vergaß seinen Mund zu schließen, als er Anne Kielstras Namen hörte.

Meister Franck beugte sich vor, hielt seinen Finger vor Dr. Renaults Brust, riß seine Augen auf und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.

»Und wissen Sie, wo Stoker residiert? In der Fürstensuite auf dem obersten Deck. Er wurde einstimmig dazu erwählt, und alle waren selig, daß einer der Ihren so hoch gestiegen war! Ja, ja, nun sitzt er auf dem Kreml!«

Meister Franck lachte lautlos, eine Form der Heiterkeit, die er sich seit der Revolution angeeignet hatte:

»Und dort oben hat er schon früher gesessen, in Gestalt von Innis! Haben Sie je so etwas Schönes gehört! Zuerst besaß er den Dampfer, dann verstaatlichen die ihn, und nun gehört der ganze Kasten wieder ihm!«

Dr. Renault blieb bei dieser Mitteilung der Mund wenn möglich noch einige Zentimeter weiter offen stehen.

Meister Franck schnappte nach Luft und krähte halb erstickt vor unterdrücktem Lachen:

»Weiß Gott, es war kein schlechter Einfall, nach einer alten Arbeitermütze zu greifen, auf Deck zu laufen und sich Stoker zu nennen, als er hörte, daß eine Meuterei ausgebrochen sei. Mit dem gleichen Erfolg hätte er sich Greaser nennen können. Kommunist braucht man nicht aus Überzeugung sein, man braucht sich nur so zu nennen, um mit Kußhand in die Partei aufgenommen zu werden.«

»Wie in meinem Fall«, fügte er sardonisch hinzu.

Dr. Renaults Kopf setzte sich in nickende, wissende Bewegung, wie man es an Pferden sieht, die sich gegen Bremsen wehren; was er hörte, schien ihn rhythmisch zu berühren. Vieles war auf dem Dampfer vorgegangen, wovon er keine Ahnung gehabt hatte.

In Zukunft aber konnte er selbst Beobachtungen anstellen, er war ja in die M. U., Mannschafts-Union, aufgenommen und hatte überall freien Zutritt. Ein Glaubensbekenntnis brauchte er nicht abzulegen, die Heizer hatten sich seiner erinnert und für ihn gestimmt. Er hatte bewiesen, daß er heizen konnte, die Runde Bier hatte man auch nicht vergessen, er war der rechte Mann, herein mit ihm in die Union. Auch Genosse Franck war warm für ihn eingetreten, und als Genosse Stoker seine sonore Stimme für ihn abgegeben hatte, war die Sache entschieden. Von nun an wurde sein Name im Protokoll geführt. Es war wie eine Besieglung, daß die Veränderung an Bord stabil war, die Richtigen waren auf der Sonnenseite, der Rest befand sich im Dunkel.

 

Scheinbar war auf der Arethusa keine große Veränderung eingetreten, nachdem die Erschütterung überstanden und das Gleichgewicht wieder hergestellt war.

Der Dampfer machte seine Knoten wie früher, auf der Kommandobrücke stand der Kapitän mit demselben Honigbart und derselben durch Würde verdeckten Jugendlichkeit. Wer ihn näher kannte und genau hinsah, hätte vielleicht bemerkt, daß er unter den Augen merkwürdig rot war, als weinte er in der Einsamkeit der Nacht. Er führte das Schiff, hatte sich aber in seinen Bart eingeschlossen, kein Wort kam über seine Lippen.

Die Umwälzung zwischen Mannschaft und Passagieren hatte keine tiefgehenden Folgen gehabt. Die Besatzung regierte in den Kabinen, rekelte sich auf den Sofas, während die verwöhnten Passagiere sich so gut es ging, in den Regionen der Besatzung einrichten mußten, in dem Logis der Matrosen vorn und den Kammern und Spelunken in der Tiefe des Dampfers. Einigen fiel die Arbeit sauer, sie ließ sich aber erlernen. Das Servieren kostete anfangs viele Teller, ging aber bald ganz flott vonstatten, die meisten Passagiere kannten ja Restaurationsbetrieb, wenn auch von der anderen Seite des Tisches.

Die harte Arbeit, zum Beispiel das Heizen unter den Kesseln hatte durch die Umwälzung eigentlich gewonnen. Die jungen trainierten Tennisspieler und Schwimmer hatten Arme wie Schmiede, und bald entstanden lebhafte Wettkämpfe, wer das größte Quantum Kohlen in der kürzesten Zeit in den Ofen schaufeln konnte. Der Rekord hing an einem Faden, wurde geschlagen, gewonnen und wieder geschlagen. Im Grunde waren ihre Gesprächsstoffe und Ideale dieselben geblieben. Sie waren so vergnügt wie je, der ganze Heizraum hallte von ihrem Gesang wider, und den Kesseln fehlte es nicht an Hochdruck.

Am härtesten waren die Damen betroffen. Die kleine Klique mittelalterlicher Damen, die jeden Abend ein Vorgebirge des Dampfers bestiegen hatte, um den Sonnenuntergang zu bewundern, bekam nun Gelegenheit, den Sonnenaufgang zu betrachten, sie wurden zeitig am Morgen geweckt und mußten Küchenarbeit verrichten. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, sie griffen zu, ohne zu klagen, mit hektischer Röte auf den Wangen bei der ungewohnten Arbeit, aber willig, nur voller Angst, sie könnten ihre Sache nicht gut genug machen. Für viele war Arbeiten eine ganz neue Entdeckung, ein Amerika, von dem sie nichts gewußt, und im Grunde hatten sie gar nicht so viel dagegen, wie man glauben mochte.

Gewisse Damen, die verheirateten, gemalten, standen nun neuen Herren gegenüber und zogen die Konsequenzen. Hatten sie früher nach der einen Seite geliebäugelt, so liebäugelten sie jetzt nach der anderen.

Unter dem früheren Regime war in aller Stille tüchtig getrunken worden, unter dem neuen nicht weniger, Champagnerpfropfen knallten, wie früher.

Daß auch das gesellschaftliche Niveau nach der Umwälzung nicht gesunken war, dafür war der Hund des Generals der beste Beweis, denn er war noch immer der Mittelpunkt. Er hatte sich nicht auf das Grab seines Herrn zum Sterben niedergelegt, denn das konnte er nicht, statt dessen war er auf dem Schoß eines Büfettmädchens gelandet. Die neue Herrschaft liebte ihn nicht weniger als die alte, miaute ihm wollüstig entgegen, wenn er mit seinen Fransenohren auftauchte. Die Kellner bestellten Hundekost beim Personal, den früheren Passagieren, sehr rasch, Spark sollte nicht warten. Und Spark ging wieder von Liegestuhl zu Liegestuhl, kratzte mit der Pfote, verlangte Liebe und wurde mit lautem, zärtlichem Gekreisch von dem schwachen Geschlecht in die Arme geschlossen. Man riß sich um ihn, denn was war ein einziger Hund für so viele?

 

»Nun sind wir ein entwaffnetes Schiff«, berichtete Meister Franck eines Abends, als er bei Dr. Renault hinter vorsichtig verschlossener Tür saß. »Heute morgen wurde es beschlossen, und der Dampfer ist sofort entmilitarisiert worden. Wir leben nun in einem Friedensstaat. Alles, was es an Bord an Revolvern und Gewehren gibt, wurde in einen Sack getan und ins Meer versenkt. Es gab einen ordentlichen Plumps! Stoker hat es durchgesetzt, nach heftigem Widerstand von Serges Seite, schließlich aber mußte auch er seinen Revolver abliefern und besitzt nun nur noch sein Organ. Was dieser Stoker alles durchsetzen kann! Bei der Verteilung der Frauen hat er Anne Kielstra bekommen, die Meisterschwimmerin, sie wohnt ganz offiziell in der Fürstensuite …«

Dr. Renault zuckte zusammen. Er starrte den andern an, sprachlos, entsetzt, wollte seinen Ohren nicht trauen.

»Und das Witzige ist,« fuhr Meister Franck fort und lächelte schneidend, »er hat sie schon früher dort gehabt. Es ist unglaublich, wie dieser Mensch mit aller Zustimmung Dinge durchsetzen kann, die genau so sind, wie sie früher waren …«

Dr. Renault schüttelte wieder und wieder den Kopf, es war ja nicht möglich …

»Ich habe gewußt, daß sie ihn besucht hat, seit er an Bord ist«, fuhr Meister Franck fort und betrachtete Dr. Renault mit hartem Blick. »Zwar ist mein Platz an der Maschine, aber man hat ja Augen im Kopf und kann sich dies und das zusammenreimen. Ich wußte nicht, daß die Besuche Innis galten, wußte aber, wer spät abends die Treppe hinaufstieg …«

Dr. Renault saß wie versteinert. Nur mit äußerster Anstrengung vermochte er zu verbergen, was in ihm vorging. Plötzlich sah er Anne Kielstra wieder vor sich, wie sie in jener Nacht im Indischen Ozean, als er Innis besucht hatte, die Treppe im Abendmantel hinaufstieg. Da war sie also zu ihm gegangen! Und Serge?

Alles drehte sich in Dr. Renaults Kopf. Und er hatte sich eingebildet, er sei Menschenkenner, nichts könne seiner Beobachtung entgehen! Man sieht nur, was innerhalb der eigenen Interessensphäre vorgeht, außerhalb derselben ist man so blind wie ein Maulwurf!

Dr. Renault war ein unaufmerksamer Zuhörer geworden. Meister Franck zerdrückte seinen Zigarettenstummel im Aschenbecher, nickte und verabschiedete sich. Dr. Renault erhob sich, krumm und steif in den Knien. Dann richtete er sich auf und begleitete Meister Franck zur Tür.

Als er allein geblieben war, stand er eine Weile und stützte sich mit beiden Händen gegen den Tisch. Wie hing das alles zusammen? Geschah denn immer das Unerwartete und Sinnlose?


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