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VIII

Als die Arethusa in den südlichen Teil des Mittelländischen Meeres gelangt war, begann das Wetter milder, sonniger zu werden; man reiste dem Frühling entgegen, während die Radiozeitung von strengem Winter berichtete, von Schneestürmen und Zugstockungen im Norden, aus dem man kam. Man konnte sich die schmutzigen Straßen vorstellen, in denen sich die Kraftwagen drängten, elektrisches Licht mitten am Tag, während man selbst im Schutz der Alpen in einem Lichtmeer jeden Tag weiter nach Süden fuhr. Himmel und Meer schienen sich zu einer einzigen lächelnden blauen Welt zu vereinen; dem Meer entstieg ein träger Lichtregen, der Reflex der hohen Sonne, und leise spinnend bewegte sich der Dampfer vorwärts, die Masten unerschütterlich auf den Himmel gerichtet. Die Luft strich wie mit Hasenpfoten über die Haut und weckte begrabene Erinnerungen an ein früheres Dasein, als man auf einem Arm in den ersten Frühling, den ersten Sonnenschein hinausgetragen wurde, am Morgen der Zeiten. Man fühlte, man befand sich in den Sphären, wo die Jugend der Menschheit, die Antike, ihre Blüte entfaltet hatte; besonders auf hoher See, auf Homers veilchenblauem Meer wurden solche Vorstellungen lebendig; an Land wurde die Zeit wieder zu einer anderen, zur Gegenwart.

Die Schiffsgesellschaft hatte Italien, Griechenland und die Türkei hinter sich und befand sich nun auf dem Weg nach Ägypten. Der Besuch der verschiedenen Hafenstädte und die Landausflüge waren programmäßig verlaufen, denn alles war ja schon vorher auf das beste geordnet. Man wurde von einer langen Reihe Touristenautos empfangen, die nach hinten zu erhöht waren wie der Zuschauerraum im Theater, vorn stand ein Mann mit einem Megaphon, wie in einer Seeschlacht. Wollten die Sehenswürdigkeiten nicht zu den Passagieren kommen, dann kamen sie zu ihnen, das war klar. Alles ging wie am Schnürchen, die Vorstellungen, die man fix und fertig mitgebracht hatte, klappten, nur das Wetter war alles andere als südlich, geradezu hundekalt, so daß man froh war, wenn man sich glücklich wieder in seiner geheizten Kabine befand.

Die Besuche an Land hinterließen Spuren in Form von lokalgeprägten Kleidungsstücken, die später an Bord auftauchten. Die Passagiere erschienen in Nationaltrachten mit phantasievollen Kopfbedeckungen, die kein Eingeborener mehr trug, die aber zum Verkauf ausgeboten wurden. Sie wirkten wie der Chor in einer romantischen Oper und fanden gegenseitig großen Beifall.

Endlich, im Ägäischen Meer, als man Kreta passiert hatte, kam die langersehnte Wärme. Auf den Promenadendecks war ein Gedränge wie im Hyde Park, Tiergarten oder Bois de Boulogne an einem schönen Frühlingstag. Man sah Gesichter, zart, wie neugeboren, die erst jetzt wieder auftauchten, Rekonvaleszenten nach der Seekrankheit.

Nach dem mehrwöchigen Aufenthalt an Bord war man sich natürlich nähergekommen, kannte aber bei weitem noch nicht alle Passagiere. Kliquen, geschlossene Kreise, hatten sich wie überall gebildet, gruppenweise nahm man an den gebotenen Zerstreuungen teil, an Deckspielen, Bridge und musikalischen Veranstaltungen. Nachdem auf dem Vorderdeck ein Schwimmbassin aufgetakelt war, kam auch noch das Baden hinzu, und die Jugend erschien in Bademänteln und Shorts, wie in einem eleganten Strandhotel. Außer Autos und einer Landstraße besaß man nun alles, was das Herz auf dem Meer begehrt.

Vor dem Bug der Arethusa tummelten sich Delphine, Aphroditens Pferde. Sie spannten sich vor das Schiff und machten die Fahrt zu einem Märchen und Fest. Man befand sich zwischen den griechischen Inseln, war selbst wie eine Insel und eilte schnellen Fluges nach Süden der Sonne entgegen. Das Leben an Bord weckte die Vorstellung, man sei auf die Insel der Kythere zurückversetzt.

 

Dr. Renault vergaß kein Gesicht, das er einmal gesehen hatte, und meinte, er habe sich nach der wochenlangen Reise jede Physiognomie an Bord eingeprägt, obgleich er nur wenige Passagiere persönlich kannte und von den übrigen kaum den Namen wußte.

Und dennoch tauchte auf der Fahrt nach Ägypten ein Gesicht auf, das er noch nie gesehen hatte. Indem er feststellte, wo und wann er dieses Gesicht noch nicht gesehen hatte – eine Art negativen Gedankenexperimentes –, kam er zu dem Ergebnis, der neue Passagier könne erst in Athen oder Konstantinopel an Bord gegangen sein. Wahrscheinlich eine levantinische oder armenische Standesperson, meinte man. Und obgleich Dr. Renault keine Bekanntschaften an Bord suchte, sollte er gerade mit diesem Passagier in nähere Berührung kommen.

Als er den Fremden das erstemal bemerkte, ging er über die Promenadendecks. Nicht, um sich umzusehen, im Gegenteil, er nahm nicht die allergeringste Notiz von Menschen und Dingen, schien sich in jener absoluten Abgesondertheit zu befinden, die man bei hochstehenden Personen beobachten kann und die wohl den höchsten Grad von Vornehmheit darstellt. Er bewegte sich unter den übrigen Passagieren, als seien sie überhaupt nicht da, und niemand achtete seiner, denn Menschen pflegen sich erst zu sehen, wenn die Aufmerksamkeit gegenseitig ist. Der Mann wahrte sein Inkognito, indem er seine Umgebung wie Luft behandelte.

Übrigens hatte er auch nichts Auffallendes an sich. Er war mittelgroß, seine Haltung geduckt, als trüge er unter den Kleidern eine Last auf den Schultern. Der Unterkiefer trat im Profil stark hervor und war blaurasiert, die Augen ziemlich groß und wie selbstleuchtend. Auffallend waren nur seine hellen, lavendelblauen Handschuhe.

Dr. Renault pflegte jede neue Physiognomie, der er begegnete, mit einer anderen, die er kannte, zu vergleichen, um von der einen auf die andere zu schließen. Einen Anhalt gab ihm in diesem Fall eine antike Büste, die man in Pompeji gefunden und der man den Namen Jucundus gegeben hatte, und darum taufte er den Unbekannten bis auf weiteres mit diesem Namen. Das zweitemal sah er ihn von weitem auf dem Kapitänsdeck, wo einzelne Kajüten lagen, zu denen, wie er wußte, gewöhnliche Sterbliche keinen Zutritt hatten; er trug wieder lavendelblaue Handschuhe.

Einige Tage darauf machte er Jucundus' Bekanntschaft.

Endlich waren die südlichen Mondnächte gekommen, die der Reiseprospekt versprochen hatte, und abends nach dem Essen war auf Deck Betrieb mit Tanz und Musik, wie auf einem Jahrmarkt. Der Dampfer fuhr mit Geigen- und Flötenspiel durch die ruhige See, ein tönendes Instrument von einem Schiffsende bis zum andern.

Dr. Renault war dem Trubel entflohen und hatte sich auf dem obersten Deck auf eine Bank zwischen den Rettungsbooten gesetzt, wo der Mond seine senkrechten Strahlen herabsandte, die eine Lichtbrücke auf dem Wasser bildeten.

Als die Jazzmusik einen Augenblick schwieg, klang vom Achterdeck Chorgesang herauf. Das Quartett gab eine Nummer zum besten. Die mehrstimmigen Harmonien und getragenen Stimmen, vom tiefsten Baß bis zum hohen Tenor, riefen fast die Wirkung eines Kirchenchores hervor.

Der erste Tenor drang wie ein heller Strahl durch das Ensemble, ein schwindelnd hoher, klarer Ton von ekstatischer Klangfarbe, und Dr. Renault sah in Gedanken den Sänger vor sich, den er mehrfach beobachtet hatte, einen blassen jungen Mann, jenen exaltierten Typ, den man in der Heilsarmee trifft, mit fanatischen Augen und zurückgekämmtem Haar, das er bei den hohen Passagen inspiriert nach hinten warf. Er hieß Serge. Sein Familienname war unaussprechlich, russisch oder slowakisch, darum wurde er auf dem ganzen Dampfer nur beim Vornamen genannt, besonders von den Damen, in deren Mund er klang, als lutschten sie an einem Bonbon. Er galt für eine Schönheit. War er nicht erster Tenor im Quartett, dann bekleidete er die Stellung eines Putzers an Bord. Morgens konnte man ihn auf Deck antreffen, wo er Messingstangen über dem Skylight auf dem obersten Deck oder hier und dort Schlösser putzte. Die Damen suchten ihn ganz ungeniert auf, besonders solche älteren Jahrgangs mit zuckersüßen Augen, beim Anblick des reizenden Menschen miauten sie entzückt. Serge, in Overalls, mit Putzlappen und Grünspan an den Fingern, hängendem Hosenboden, aber ekstatisch erhobenem Kopf, warf allen Passagieren der ersten Klasse, Herren wie Damen, strafende, empörte Blicke zu. Weshalb war der schöne junge Mann so böse?

Serges hohe Stimme mit ihrem mondsüchtigen, lyrischen Klang wurde durch die Mondnacht getragen, hört! Dr. Renault atmete heftig durch die Nase, der Wind pfiff durch seinen Schnurrbart, ss, ss: Schrie der Slowake da unten nicht wie ein Leopard auf einem Baum!

Dr. Renault erinnerte sich nicht, daß schon jemand vor ihm auf der Bank gesessen hätte. Als er sich aber eine Zigarette anzünden wollte und in seiner Tasche nach einem Zündholz suchte, sagte eine Stimme neben ihm: Darf ich Ihnen Feuer geben? Er sah, wie jemand ihm ein Feuerzeug hinhielt und es anknipste. Er zündete seine Zigarette an und sah beim Schein der Flamme, daß die Finger, die das Feuerzeug hielten, in einem lavendelblauen Handschuh steckten, der die kurze, dicke Hand prall umspannte. Es war Jucundus.

Er saß zurückgelehnt auf der Bank, das eine Bein über das andere geschlagen, das Fußgelenk auf dem Knie, eine elegante Stellung, die Dr. Renault nicht lag und die er darum bei andern immer mit etwas Vornehmem verband. Den Hut hatte der Fremde tief in die Stirn gedrückt. In der dämmrigen Beleuchtung wirkte das Profil mit dem stark vortretenden Unterkiefer wie eine Silhouette.

Ganz ungezwungen, zufällig, kamen sie miteinander ins Gespräch. Der Fremde hatte ein angenehmes, tiefes Organ, und obgleich er leise und natürlich sprach, konnte man nicht im Zweifel sein, daß man es mit einem Mann zu tun hatte, der nicht an Widerspruch gewöhnt war. Es war die angeborene Souveränität, der man nicht häufig begegnet. Sie sprachen natürlich von Hellas, man befand sich ja in klassischen Gewässern, und Dr. Renault machte kein Hehl daraus, daß es für ihn ein Erlebnis sei, mit eigenen Augen die Stätten zu sehen, wo Traditionen wurzelten, die seiner eigenen Erziehung zugrunde lagen und seinen Geschmack bestimmt hatten. Er sagte, er betrachte das Leben, das sich an Bord entfaltete, als ein glückliches Omen dafür, daß das freie griechische Menschentum im Begriff sei, zurückzukehren …

»So, meinen Sie?« sagte der Fremde. »Nun ja, die griechische Skulptur, das, was davon übrig geblieben ist, hält ja die Illusion aufrecht, die alten Griechen hätten in einem edlen Zustand der Nacktkultur gelebt, wie die da unten, die im Badeanzug Onestep miteinander tanzen! Guten Appetit! Ich meinerseits glaube, daß nur Hetären und Sklavinnen sich entblößten und wahrscheinlich nur für den Bildhauer, dem sie Modell standen. Das freie Menschentum, von dem Sie sprechen, hat es nur außerhalb der Gesellschaft und Familie gegeben, wie es in China und Japan war und noch heutzutage ist. Glauben Sie, daß die Hausfrau in Athen frei war? Was meinen Sie überhaupt mit freiem Menschentum? Daß die Frauen in Europa sich heutzutage entblößen, ist Modesache, obgleich es sonst Aufgabe der Mode ist, sie anzukleiden. Federvieh rupft sich. Noch hat die Europäerin nicht begriffen, daß sie ihr einziges Kapital, ihre Privatperson fortgibt, wenn sie ihren Anblick, der dem Geliebten vorbehalten bleiben sollte, der Menge preisgibt. Gar nicht davon zu reden, daß viele schlecht damit fahren. Denn hartnäckig den Sack auf dem Leib behalten, hat mancher einen Mann verschafft. Was man sich unter freiem Menschentum im alten Griechenland vorzustellen beliebt, ist im Grunde nur Romantik, die man zweitausend Jahre später erfunden hat.«

Der Fremde schwieg, und Dr. Renault saß ganz betroffen da. Unter Umständen hätte er etwas Ähnliches äußern können, wenn auch von einem andern Gesichtspunkt aus.

»Und die jungen Mädchen in Griechenland, die an den sportlichen Spielen und dem Wettlauf der Männer teilnahmen?« wandte Dr. Renault ein. »Man kennt sie ja durch die Bildhauerkunst, zum Beispiel das junge Mädchen in dem kurzen Chiton, das wir im Vatikan sahen. Glauben Sie nicht, daß die Frau im alten Griechenland eine andere Stellung einnahm, als in anderen Kulturländern?«

»Was man nicht alles in eine überlieferte Bildhauerarbeit hineingeheimnist!« rief der Fremde. »Eine einzelne Figur, die vielleicht nur die Erinnerung an eine einmalige Situation bewahrt! Was könnten uns die vielen Gestalten aus der alten Literatur, die existiert haben, aber verlorengegangen sind, nicht alles erzählen! Traditionen werden nach der Richtung gedreht, die einem gerade paßt. Für einen anderen Geschmack war Hellas etwas ganz anderes als brave Westeuropäer hineingedacht haben, es war Asien. Eine Welt von Böcken mit Satyren, Bacchusfesten und Dionysusaufzügen. Davon aber schweigen die Schafe. Was in dem damaligen Hellas vorgegangen ist, dafür fehlt uns heutzutage jede Vorstellungsmöglichkeit. Das war Hellas.«

Dr. Renault wollte etwas erwidern …

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach ihn der Fremde. »Die Zuflucht, die die europäische gebildete Welt seit der Renaissance bei der Antike gesucht hat, war nur ein Mittel, sich gegen den christlichen Elendskultus zu wehren. Man besaß nicht mehr genug Natur, um sich aus eigener Kraft davon zu befreien. Warum nachahmen, wenn man selbst etwas vorstellt? Was war das Christentum denn im Grunde? Sklaven, die sich zusammenrotteten, eine Unterwelt, die zur Macht gelangte und seit den Tagen der Antike das große Wort geführt hat. Machen Sie sich das klar, bevor Sie Utopien der Vergangenheit ins Treffen führen und sich für das freie Menschentum im alten Hellas begeistern. Haben Sie sich vielleicht persönlich davon überzeugt? Ich sage Ihnen, das freie Menschentum bestand aus einem geordneten Sklavenstand.«

Dr. Renault fühlte einen Stoß in der Brust, wollte etwas erwidern …

»Mißverstehen Sie nicht den Zusammenhang und was die Geschichte uns lehrt«, fuhr der Fremde schärfer fort. »Christentum war das Leben von unten gesehen, darüber waren die Sklaven sich rührend einig. Wollen Sie aber ergründen, was Sie ganz richtig als eine negative Pause seit der Antike erkannt haben, dann dürfen Sie kein freies Menschentum fordern, außer für sich selbst, sondern einen Stall für Ihre Untergebenen, zu dem Sie den Schlüssel in der Tasche tragen.«

»Erlauben Sie mal …«

»Es wäre die natürliche Fortsetzung der Antike als Idee sozusagen, wenn man das gesunde Verhältnis zwischen Führer und Geführten wiederherstellen würde, nachdem es zwei Jahrtausende lang von der Kirche und der Schafsmoral, die man Humanität nennt, unterbrochen war …«

Dr. Renault räusperte sich vernehmlich.

»Als das Christentum in Ihr Heimatland kam, setzte die Bevölkerung die lebensunfähigen Kinder dort noch aus. Was geschah zuerst? Das klerikale Mitleid nahm sie in Schutz. Die Folgen davon sind Ihnen als Arzt nicht unbekannt. Haben Sie je ein anderes Problem unter Händen gehabt?«

Dr. Renault schwieg.

»Das Interregnum seit der Antike war ein Bankrott«, fuhr der Fremde fort. »Man muß auf das zurückgreifen, was die Griechen, die den Begriff Demokratie geschaffen haben, darunter verstanden: Einige kräftige Leute an der Spitze, die die Richtung bestimmen, und der Rest im Heer und an den Arbeitsplätzen verteilt. Man ist übrigens auf dem besten Wege dazu.«

Sie schwiegen beide eine Weile, Dr. Renault mit Absicht. Es waren gefährliche Worte, und er zog es vor, die Meinung des anderen zu hören, ohne sich zu äußern. Die Ansichten waren ihm bekannt, er wußte, woher sie stammten, so offen aber hatte er sie noch von niemand äußern gehört.

»Ja, man ist in Europa endlich auf dem besten Weg«, fuhr der Fremde fort. »Die Völker wünschen es. Die Regierungsformen des neunzehnten Jahrhunderts, von denen man so begeistert war, stürzen in einem Land nach dem anderen zusammen. Konstitutionelle Verfassung, Volksregierung – nichts als Schwindel! Hat ein Volk je anders regiert als durch eine Vertretung, die, kaum daß sie effektiv war, in die Hände eines einzigen tauglichen Mannes geriet? Sagen Sie offen, war die Geschichte der Parlamente nicht von jeher eine Monographie einzelner Männer, die die öffentliche Meinung gelenkt haben, wie man ein Ochsengespann lenkt? Bismarck und Beaconsfield haben sich nicht König, sondern Staatsmann genannt. Cäsar vermied es, sich König nennen zu lassen, sein Name aber wurde für alle Zeiten der Inbegriff der höchsten Macht, in einer einzigen Person vereinigt. Man besucht eine Versammlung, und was geschieht als erstes? Man wählt einen Dirigenten, einen Kutscher. Die öffentliche Meinung will geführt werden. Diktatur nennt man es heutzutage ganz offen. Anfangs hieß es Diktatur des Proletariats, in der Form wagte man es laut zu sagen. Es kommt nur darauf an, daß man den Genetiv richtig deutet. Abhängigkeit ist für die meisten Bedürfnis, das einzige, wonach die Massen streben. Sie werden von dem Verlangen der Massen nach Abhängigkeit getragen. Wer die Massen führt, ist nicht das Entscheidende. Die Opfer der Diktatur bilden sich ein, sie übten die Macht selbst aus. Vermeiden Sie den Ausdruck Sklaverei, und Millionenvölker werden unter der Peitsche Lobgesänge anstimmen. Einem Vorgesetzten auf den Fersen folgen, ist das älteste aller Glücksgefühle. Sie werden sehen, bald kehrt das gesunde Zweiklassensystem der Antike zurück, nur in einer anderen Form, der der Staatssklaverei. Unter Staat aber versteht man einen leistungsfähigen Stand, geführt von einem einzigen Mann am Ruder. Man kann diese Dinge verkleiden, im Grunde aber sind sie immer dieselben geblieben. Wenn Sie der Weltordnung einen Dienst erweisen wollen, dann erfinden Sie ein gefälligeres Wort für Sklaverei, das dem Auge Tränen entlockt, wenn über kurz oder lang der eiserne Vorhang endgültig über der Tragödie der Volksregierung herabgelassen wird. Die ganze Welt seufzt nach Versorgung …«

Sie hörten Schritte zwischen den Rettungsbooten, und ein junges Paar vom Ball unten tauchte auf, um sich zu lüften; es wurde sichtbarlich von den einsamen Winkeln hier oben angezogen. Der junge Mann trug wie alle jungen Leute das Haar glatt zurückgekämmt und war braungebrannt; das junge Mädchen trug blondiertes Pagenhaar und war auch braungebrannt. Als das Paar die beiden Herren auf der Bank entdeckte, entfernte es sich, das junge Mädchen sehr laut redend. Beide waren äußerst leicht bekleidet.

»Und welche Stellung weisen Sie der Frau in Ihrem neuen Idealstaat an?« fragte Dr. Renault, als das Paar sich entfernt hatte.

»Vor allen Dingen würde ich ihr das Unzuchtszeichen vom Gesicht waschen, mit dem sie sich selbst stempelt. Frauen der Gesellschaft, selbst halbe Kinder, wie Sie soeben gesehen haben, malen sich bis in den Mund hinein. Die bemalten Damen wissen nicht einmal, was diese Bemalung bedeutet, sind sie gefühllos am einen Ende, so sind sie es auch am anderen …«

Vom Achterdeck, wo der Ball in vollem Gange war, tönten Saxophone herauf, orgiastisches, langgezogenes Blöken wie von brünstigen Tieren, unverhüllte Sexualität in Tönen, und Dr. Renault mußte dem Fremden recht geben. Solch grobe Mittel waren nötig, um die Lebensgeister der Gesellschaft dort unten aufzupeitschen, die nicht an elementarer Sinnlichkeit, sondern an Abgestumpftheit litt.

»Rückenmarksmenschen!« fuhr der Fremde fort, als sei er Dr. Renaults Gedankengang gefolgt. »Die Forderungen der Frau haben die Welt zu dem gemacht, was sie heutzutage ist. Bald wird es Zeit, von der Emanzipation des Mannes zu reden! Was soll das Geschwätz über die Gleichberechtigung der Frau? Um den Geschlechtsunterschied kommt man nicht herum. Die Natur verlangt den großen physischen Unterschied zwischen den Geschlechtern, je größer die Ähnlichkeit, desto weniger ziehen sie sich an. Das hat der Islam richtig erkannt.«

Dr. Renault atmete heftig durch die Nase. Wohl oder übel mußte er dem Fremden in vielen Dingen recht geben, in diesem Punkt aber konnte er ihm widersprechen.

»In der modernen Türkei …« begann er.

»Das habe ich erwartet«, fiel der Fremde ihm ins Wort. »Die Befreiung der türkischen Frau ist ein Beispiel für den blinden Nachahmungstrieb, von dem das neue Regime dort beherrscht ist. Man hält es offenbar für einen Fortschritt, seine Frauen preiszugeben und sie dafür zu belohnen, daß sie sich europäisieren und als Eigenwesen, als Türkinnen, verschwinden! Man bewundert kritiklos den europäischen Standard, die Gleichartigkeit, die Serienfrau, die Schablone in der ganzen Welt. Überall die hohen Absätze, das aufwärtsgewandte Gesicht, dieselbe Zigarette, dasselbe Geschwätz! Und dann der Alkohol! Haben Sie bemerkt, welche Quanten von Cocktails und Whisky sich die Damen da unten zu Gemüte führen? Auch auf diesem Gebiet wollen sie nicht hinter den Männern zurückbleiben. Es würde der Türkei zur Ehre gereichen, hätte sie ihre Frauen in Gewahrsam behalten …«

Endlich erfährt man die aufrichtige Meinung eines Türken, dachte Dr. Renault. Ob er Pascha oder Scheik ist?

»Der Islam hatte gesunde Grundsätze«, fuhr der Fremde fort. »Als Religion war er gegen das Geschlecht gerichtet. Im Gegensatz zu den christlich-asketischen Verirrungen sorgte er bewußt dafür, die Frau als Frau zu erhalten. Übrigens, da wir gerade vom Islam sprechen: Vergessen Sie nicht, daß es Araber waren, die die intellektuellen Traditionen der Antike in Ehren hielten und später über Spanien dem völlig verdunkelten Europa überlieferten! Die Griechen sind nicht die einzigen, von denen man Menschlichkeit lernen kann. Was aber ihre Politik betrifft, so würde ich doch Bedenken tragen, ihr zu folgen. Ist Ihnen nicht auch aufgefallen, daß die Lage in Griechenland, bevor es seine Unabhängigkeit verlor, auf ein Haar der Lage des heutigen Europa glich? Die verschiedenen Staaten waren neidisch aufeinander und verrieten sich gegenseitig so konsequent, daß jedes Zusammenhalten gegen einen gemeinsamen Feind unmöglich war. Das wurde Hellas' Untergang. Europa ist auf demselben Weg.«

Der Fremde erhob sich.

»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.«

Er wirkte wie eine Silhouette, ein Mann aus Kohle, als er sich entfernte und zwischen den Rettungsbooten verschwand.

Dr. Renault verweilte noch und lauschte dem Geigenklang unten vom Deck. Tief, tief unten im Schiffsraum arbeiteten die Maschinen taktfest wie eine große Uhr. Der nächste Hafen, der angelaufen werden sollte, war Haifa.

 

»Innis soll sich an Bord befinden«, berichtete Meister Franck am nächsten Tag bei Tisch und blickte umher, ob einer der anderen es auch schon gehört habe. Als niemand antwortete, sprach man von anderen Dingen.

Auch Dr. Renault schwieg, obgleich er sich sofort darüber klar war, daß der Unbekannte, mit dem er sich am Abend im Mondschein unterhalten hatte, kein anderer war als der sagenhafte Innis.

Als er ihn das nächstemal traf, fragte er ihn unumwunden.

»Ja, mein Name ist Innis«, antwortete er und verriet zu Dr. Renaults Überraschung eine Art Verlegenheit, wie man sie an Kindern beobachten kann, wenn sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er machte eine knicksende Bewegung mit dem Nacken, was indessen keine Eitelkeit ausdrückte. Der mächtige Mann stand einen Augenblick da, als sei er es, der geblendet war.

»Ja, den Eigentümer des Schiffes vermutet man wohl zuletzt an Bord«, sagte er lachend. »Ich hatte Lust, mich auf See ein wenig zu erholen, und außerdem besitze ich einige Minen in Neu-Guinea, für die ich mich interessiere. Wenn wir nach Singapore kommen, nehme ich, während Sie sich amüsieren, das Flugzeug über Java, Celebes nach Neu-Guinea, nach einer Gegend im Innern des Landes, wohin weder Eisenbahn noch Straße führen, einer Lichtung in den unberührten Tropenwaldungen, wo die Wilden in der Umgebung noch Menschenfresser sind. Der Verkehr findet ausschließlich auf dem Luftweg statt, alle Arbeitsmaschinen sind mit großen Lastflugzeugen dorthin geschafft. Natürlich handelt es sich um edle Metalle, sonst würden die Unkosten sich nicht lohnen. Stellen Sie sich vor, man kommt durch die Luft herunter und landet in einem Minenlager, mitten im dichtesten Urwald, Hunderte von Meilen von der Küste entfernt, und begegnet auf einem Spaziergang im Wald vielleicht einem Papua mit einem Knochen in der Nase! Haben Sie nicht Lust, mitzukommen? Ich kann Ihnen einen Platz im Flugzeug verschaffen, da ich voraussichtlich der einzige Passagier bin. Zivilisation und Urzustand begegnen sich in einer wilden Gegend in Neu-Guinea, die nur von der Luft aus zugänglich ist, sozusagen durch eine Leiter von oben. Das ist doch nicht ganz alltäglich. Während wir unterwegs sind, können die anderen sich an Land in ihren Touristenautos zusammenpferchen …«

Dr. Renault verbeugte sich erfreut. Er nahm die Einladung dankend an und wollte den interessanten Flug gern mitmachen.

»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben«, sagte Innis. »Im allgemeinen verkehre ich mit niemand und lege auch keinen Wert darauf, daß man mich kennt. Darum möchte ich Sie bitten, mit niemandem über meine Anwesenheit an Bord zu sprechen. Tun Sie es dennoch, dann wird einer von uns den Dampfer verlassen müssen.«

Weshalb sollte Dr. Renault das Geheimnis verraten?

Von nun an sahen sie sich fast täglich.


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