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I

Dr. Renault lag im Sterben.

Daß es in der Stadt schon durch vorsichtige Zeitungsnotizen bekannt war, wußte er wohl. Er hatte viele sterben sehen, nun war er selbst an der Reihe, er sah es mit dem inneren Blick. Er lag mit geschlossenen Augen, war allein mit sich in der Dunkelheit, wie man es jeden Abend vor dem Einschlafen ist. Für ihn aber würde es kein Morgen mehr geben.

Die Schmerzen und Beschwerden waren überstanden, im Befinden des Patienten war jene Erleichterung eingetreten, die Euphorie, die sich einstellt, wenn der Organismus den Kampf aufgibt. Sterbende glauben, daß es die Wendung zur Genesung ist, er aber wußte es besser. Nun würde der Augenblick kommen, über den er anderen unzählige Male hinweggeholfen hatte. Daß es einmal so weit sein würde, hatte er natürlich gewußt, und nun war es so weit.

Der Arzt, sein langjähriger Freund und Kollege, war auf seinem abendlichen Rundgang schon bei ihm gewesen. Er hatte die Hand des Sterbenden auf der Bettdecke mit einem langen, festen Druck umschlossen, bevor er hinausging. Es war der Abschied. Gesprochen wurde nicht, sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Beide waren alt und schieden von einander wie zwei Knaben, mit einem Lächeln, einem Winken: Der Augenblick der Trennung war gekommen, jeder mußte seinen Weg gehen.

Unmittelbar nachdem der Chefarzt und sein Stab gegangen waren, war der Assistenzarzt hereingekommen und hatte ihm die letzte Spritze gegeben, ein sekundenlanges Unbehagen, als die Nadel unter die Haut drang. Er hatte geistesabwesend geknurrt, sich hinterher geniert und dem jungen Assistenzarzt, einem hübschen jungen Mann mit blühender Gesichtsfarbe, kameradschaftlich zugenickt. Und der junge Arzt hatte gelächelt, schöner als man es mit Worten beschreiben kann, unendlich fürsorglich und ein wenig verlegen. Nachdem er die Bettdecke wieder glatt gestrichen hatte, war er mit seinem weißen, frisch gewaschenen Kittel, der auch Gesundheit zu atmen schien, Dr. Renaults Gesichtskreis entschwunden.

Später war die Krankenschwester hereingekommen, um die abendliche Säuberung vorzunehmen, die den Vorschriften gemäß nicht versäumt werden durfte, wie es auch um den Patienten stand. Während sie ihm Gesicht und Hände mit Schwamm und Seife wusch, waren verschwommene Erinnerungen in ihm aufgetaucht, merkwürdig nah und doch nicht greifbar, Erinnerungen an seine Knabenjahre, als er unsanft von einer Übermacht gewaschen worden war; eine große Hand hatte seinen Kopf wie in einem Schraubstock gehalten, während seine Ohren so gründlich gewaschen wurden, daß es weh tat.

Die Schwester war blutjung, fast ein Kind noch, mit strahlenden Augen. Alle Menschen waren jung, wenn man selbst alt geworden war. Je älter man wurde, desto jünger war die Welt! Das junge Mädchen nahm seine Hand in die ihre und wusch sie, eine intime Berührung der beiden nassen Hände, jenseits der Haut, kühl, dem Leben noch so nah und dennoch für ewig davon getrennt. Nachdem die Schwester gegangen war, spürte er noch lange den frischen Seifengeruch und die Kühle des verdunstenden Wassers.

Er war bei vollem Bewußtsein, übernormal, es war wie ein inneres Hellsehen. Vielleicht hatte er etwas Fieber, oder das Morphium arbeitete schon in seinen Adern und hob das Gefühl des Körperlichen auf. Er dachte mit einer Klarheit und Weisheit wie noch nie. Wenn der gesteigerte Zustand in Schlaf überging, wenn das Bewußtsein schwand – ein Augenblick, den man nicht beobachten kann, der sich aber jeden Abend vor dem Einschlafen wiederholt, ohne daß man den Zeitpunkt festzustellen vermag –, dann würde er nie mehr erwachen und nie etwas darüber erfahren. Es würde sein, als habe er nie gelebt. Den Tod konnte man also nicht erleben, wenn man es nicht in Gedanken konnte, während man lebte.

Was nachher kam, war keiner Überlegung wert. Als Arzt kannte er das ja alles genau. Hatte er aufgehört mit den Sinnen wahrzunehmen, was mit ihm geschah, dann würden andere für ihn handeln. Der Tote würde daliegen mit dem markanten Schädel, bis man das Laken über sein Gesicht zog, jener traurige Anblick, der bestätigte, er habe aufgehört zu atmen. Dann würde man den Wandschirm um das Bett stellen, ein bestimmtes kaltes Zeremoniell, bis die Leiche zur Sektion und späteren Verbrennung abgeholt wurde. Die Nekrologe sah er deutlich vor sich, sie lagen wahrscheinlich schon in den Redaktionen bereit und warteten nur noch auf die letzten Sätze. Es war schon vorgekommen, daß ein Nekrolog aus Versehen zu früh gedruckt und ohne große Überraschung von dem Toten selbst gelesen wurde. Wenn man alt geworden war, erregte das alles nicht mehr, sogar das Grauen schwand. Auslöschung? Mit der Auslöschung wurde ja auch der Begriff nichtig. Einmal mußte man sterben, und nun war es also so weit.

In der Laune eines Augenblicks – es war der Strohhalm, nach dem man trotz allem greift – stellte er sich vor, er sei schon tot, und wie es sein würde, wenn er wieder zum Leben erwachte. Er öffnete die Augen, und ganz richtig, so hatte er sich das Leben vorgestellt, ein Krankenhausbett und geradeaus das hohe, klare Fenster, durch das man über die Straße zu den Häusern auf der anderen Seite hinüberblickte. Über die Dächer ragte ein Fabrikschornstein, ein vertrauter Anblick, der sich während seiner Krankheit wie ein Bild seinem Auge eingeprägt hatte.

Es war ein Riesenschornstein mit einer rußigen Spitze, aus der zu allen Tageszeiten eine Rauchfahne in die Atmosphäre wehte. Ein hoher gelassener Herr war er, mit apartem Wesen. Der schwarze, umwölkte Kopf ragte wie ein Vulkan in die Luftschicht oberhalb der Stadt und verrichtete seine Arbeit, indem er wie ein Luftrohr in den Himmel rauchte. Was waren im Grunde die Türme und Obelisken, mit denen die Vergangenheit in die Höhe gestrebt hatte, im Vergleich zu diesem ganz gewöhnlichen anonymen Schornstein, der eine Aufgabe hatte? Dort würde er morgen noch stehen und rauchen, wenn Dr. Renault tot war. Die Maschinen würden arbeiten, in der Stadt würde wie immer das elektrische Licht brennen, alles würde seinen gewohnten Gang gehen.

Die Häuser lagen bereits im Schatten, nur das obere Ende des Schornsteins wurde noch von der Sonne beschienen. Es war wie ein Alpenglühen, hoch oben, ein sich Recken nach dem Licht, während sich unten zwischen den Häusern schon die Dunkelheit breitete. Vom Fuß des Schornsteins bis zur Spitze lief eine endlose Reihe eingemauerter Eisenstufen, wie eine Himmelsleiter; die letzten waren schwindelnd hoch oben. Dort mußte im Notfall ein Mann hinaufsteigen, aber nur ruhig, an dem Schornstein war alles in Ordnung. Dr. Renault blinzelte zu ihm hinauf: Lebwohl, du! Er schloß die Augen und vergrub sich wieder in Dunkelheit.

Sein Inneres aber konnte nicht zur Ruhe kommen. Selbst wenn ein Mensch in der Philosophie so weit gekommen war wie er, konnte im Unterbewußtsein, im Fleisch, dennoch etwas sein, das sich aufbäumte und gegen das Aufhören sträubte. Seine Gedanken nahmen Gestalt an, es war fast wie eine Halluzination. Erinnerungen, Bruchstücke seines Lebens tauchten mit einer Deutlichkeit auf, wie im Augenblick des Erlebens. Bilder sprangen aus seinem inneren Blick und behaupteten sich, stärker als in der Wirklichkeit vor vielen Jahren, weil er in der Zwischenzeit klüger geworden war und die Bedeutung des Erlebten erfassen konnte.

Menschen, die drauf und dran gewesen waren zu ertrinken, erzählen, daß ihr ganzes Leben im Augenblick, wo sie das Bewußtsein verloren, an ihnen vorbeigezogen sei. Das ist natürlich eine Legende, auch das Gedächtnis ist begrenzt und verlangt Zeit. Man glaubt sich an alles zu erinnern, das aber, woran man sich nicht erinnert, zählt ja nicht mit. Wahrscheinlich drängt sich in solchem Augenblick eine besonders lebendige Erinnerung vor und scheint das ganze Leben auszufüllen, weil der bedrohte Selbsterhaltungstrieb sein ganzes Licht auf dieses Erlebnis wirft.

So erging es dem alten Arzt, der im Sterben lag. Das letzte, woran er dachte, mit einer Leuchtkraft, die alles andere verdrängte, war ein einzelnes isoliertes Erlebnis, das mehr als vierzig Jahre völlig vergessen, unter anderen Erlebnissen begraben gelegen hatte.

In seinem letzten Augenblick erinnerte er sich daran.


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