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XIX

Eine Stunde später wurde an Dr. Renaults Kajütentür geklopft, leise, wie mit einem Kinderfinger.

Er öffnete, vor der Tür stand Anne Kielstra in einem langen, purpurblau schillernden Regenmantel aus einem Stoff, der durchsichtig war, wie eine Fischblase. Sie neigte den Kopf und trat ein. Dr. Renault zeigte auf einen Stuhl, und sie nahm Platz, vornübergebeugt, die Knie zur Seite gedreht, die Füße unterm Stuhl gekreuzt. Sie sah Dr. Renault mit großen, bangen, klaren Augen an und beantwortete seine Fragen flüsternd.

Das Verhör dauerte nicht lange. Aus den Antworten, die er erhielt, konnte er schließen, daß sie im dritten oder vierten Monat war. Ihrer Figur konnte man nichts ansehen, auch nicht ihrem Teint, sie machte aber einen aufgeregten, neurasthenischen Eindruck. Als sie begriff, daß jeder Zweifel ausgeschlossen sei, errötete sie, griff mit beiden Händen an den Kopf. Ihre Gesichtszüge wurden hart. So saß sie lange, von einem Gedanken überwältigt. Ihr Blick wanderte durch den Raum, ohne etwas zu sehen. Sie antwortete trocken, als Dr. Renault noch einige Fragen stellte, die nicht durch die Diagnose bedingt waren, die er aber in Anbetracht dessen, was von ihm verlangt wurde, für berechtigt hielt.

»Weshalb wünschen Sie das Kind nicht?«

Sie schüttelte nur entsetzt den Kopf. Unmöglich.

»Es ist meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Mutterschaft eine Verantwortung in sich trägt«, sagte Dr. Renault. »Ein Arzt kann eine Frau nur von ihrer Leibesfrucht befreien, wenn ihr eigenes Leben bedroht ist, oder ganz ungewöhnliche Verhältnisse vorliegen, wie zum Beispiel Schwängerung gegen ihren Willen oder abnorme seelische Zustände. Darf ich Ihnen in diesem Sinn einige Fragen stellen?«

Sie nickte, bereitete sich wie ein Schulmädchen mit großen Augen auf das Examen vor.

»Hat Innis Ihnen die Ehe versprochen?«

Sie schüttelte kurz den Kopf.

»Sie können aber doch darauf rechnen, daß er für Sie und das Kind sorgen wird. Wünscht er das Kind auch nicht?«

Sie blickte ihn nur an, ohne zu antworten. Deshalb hatte er sie ja zu ihm geschickt.

»Beide Eltern legen also keinen Wert auf das Erscheinen des Kindes!« Dr. Renault zog die Brauen hoch. »Aber das ist nicht das Ausschlaggebende. Ich muß mehr erfahren, ehe ich eine Entscheidung treffen kann.«

Und dann begann er sie auszufragen, so schonend wie möglich, erhielt nicht immer eine Antwort, konnte aber auch durch ihr Schweigen manches erraten, und schließlich kannte er ihre Geschichte. Es war die gewöhnliche, wenig erbauliche, ein reicher Mann benutzte seine Macht dazu, ein junges Kind zu blenden, das mit offenen Augen ins Netz ging. Es sollte ihr nichts geschehen, und niemand würde etwas davon erfahren, und dann war es doch geschehen. Wie es begonnen hatte, konnte man sich denken, Innis hatte ihren Namen und ihr Bild in der Zeitung gesehen, sich an sie herangemacht und ihr die Reise geschenkt, war in jeder Beziehung großzügig gewesen. Eine Freigebigkeit, die verpflichtete, obgleich sie im Grunde nur seinem eigenen Vorteil diente, denn die junge Meisterschwimmerin war eine erwünschte Anziehungskraft für die Bordgesellschaft. Keine sehr appetitliche Sache. Ganz ohne Schuld war sie nicht, man wußte ja, wie so etwas zustandekam, der eine kaum merkliche Schritt folgte dem anderen. Sie hatte gemeint, er sei freigebig, im Grunde aber war sie die Gebende. Und nun hatte sie die Folgen zu tragen.

»Hat er Sie betrunken gemacht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Waren Sie in ihn verliebt?«

Keine Antwort. Sie schlug die Augen nieder, etwas schien sich in ihr emporarbeiten zu wollen, das er sich auch ohne Erklärung zu deuten vermochte.

»Ein Liebesverhältnis war es also nicht«, entschied Dr. Renault kurz. »Ich will nur feststellen, ob es ein Kind der Liebe ist oder nicht. Könnte man die Gedanken eines ungeborenen Kindes lesen, dann würde das drei Monate alte, das Sie unterm Herzen tragen, sich wahrscheinlich für solche Eltern bedanken.«

Sie blickte furchtsam zu ihm auf.

»Ich stehe auf dem Standpunkt,« fuhr Dr. Renault fort, »daß jede Frau unbeschränktes Bestimmungsrecht über ihren Körper besitzt. Ein Arzt aber kann sie nur von ihrer Leibesfrucht befreien, falls er sich davon überzeugt hat, daß man ihrer Selbstbestimmung auf irgendeine Weise zu nahegetreten ist. Außerdem muß er im Interesse des Staates die Nachkommenschaft beurteilen, indem er beide Eltern untersucht, vorausgesetzt, daß der Vater bekannt ist.«

Sie blickte gehorsam zu ihm auf, schlug die Augen aber wieder nieder, weil er sie so strafend anblickte.

»Daß Sie sehr glücklich sein werden, wenn das Kind da ist, wissen Sie wohl«, fuhr Dr. Renault fort. »Aber das ist ein Instinkt, an den ich nicht appellieren will. So sind die Mütter nun einmal, ihre mißratenen Kinder lieben sie am meisten.«

Dr. Renault atmete so heftig, daß es durch seinen Schnurrbart pfiff.

»Zum Schluß möchte ich Ihnen noch eine Gewissensfrage stellen, die Sie indessen nicht zu beantworten brauchen. Steht Ihr Zustand einer anderen Zukunftsmöglichkeit im Weg? Sind Sie in einen anderen verliebt?«

Sie blickte wie elektrisiert auf, mit großen, leuchtenden Augen, und nickte.

»In Serge?«

»Ja.«

Sie sank zusammen und begann zu zittern. Tränen stürzten aus ihren Augen.

Frauenherzen! dachte Dr. Renault. Ihre Wahl war ihm unverständlich.

»Haben Sie auch mit ihm ein Verhältnis?« fragte er grob.

Sie blickte entsetzt auf, mit verweinten Augen, und schüttelte heftig den Kopf.

Ihn also liebte sie, und mit dem anderen lebte sie! Und er, Dr. Renault, liebte sie! Ein schönes Viereck! Ja, ja, die Geschlechter machten sich gegenseitig das Leben schwer.

»Wollen Sie mir helfen?« sagte sie schluchzend, von tiefen Atemzügen unterbrochen. Tränenbäche stürzten ihr aus den Augen. Gut, daß sie einen Regenmantel anhatte.

Dr. Renault saß unbeweglich wie eine Mauer. Auch er hatte die Grenzen dessen erreicht, was ein Mensch tragen kann.

Mit einer wilden Gebärde erhob sie sich, etwas Stürmisches kam über sie, eine Energie, die ihr ganzes Wesen durchdrang. Sie glühte wie eine Rose, eine nasse Rose, ihre ganze Weiblichkeit konzentrierte sich um eine Krise, eine Arbeit, als sollte sie gebären, nur daß sie gerade das nicht wollte!

Auch Dr. Renault erhob sich. Die Unterredung war beendet.

Als sie begriff, daß er ihr nicht helfen wollte, schrie sie auf in ihrem Elend, warf sich ihm an die Brust, schlang die Arme um seinen Hals und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht an ihn. Sie weinte, weinte, Krämpfe durchzuckten sie, die sie ihrer Kraft beraubten, die Knie versagten ihr den Dienst, er mußte sie stützen, tragen, damit sie nicht umfiel.

Und da stand er und hielt sie, steif wie ein Stock, mit erloschenen Zügen, bis der Weinkrampf endlich überstanden war. Behutsam löste er ihre Arme von seinem Hals und führte sie zu ihrem Stuhl. Sie aber blieb stehen, die Hände gegen die Augen gepreßt, stand da wie eine Blindekuh, gebunden, geschlagen. Schließlich wandte sie sich zum Gehen.

Dr. Renault begleitete sie zur Tür, hielt sie für sie offen, bis sie hinausgegangen war, wie ein Arzt nach einer Konsultation.


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