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II

Als junger unbemittelter Student war er zufällig nach einer ganz unbekannten kleinen belgischen Stadt gekommen. Er befand sich auf einer Reise nach Paris, dritter Klasse, mit einem genau eingeteilten kleinen Geldbetrag, und auch die Zeit war genau ausgerechnet. Es war einer jener kleinen Abstecher, zu denen ein zielbewußter Mann, der indessen auch Durchgängerinstinkte besitzt, sich die Mittel verschafft, wenn sie auch nicht weiter reichen als für die Flucht. Der Vagabund in ihm machte seine Rechte geltend, blieb aber unter Kontrolle.

Beim Morgengrauen hielt der Zug ganz unvorhergesehen in dem kleinen Bahnhof. Es war jenseits von Charleroi, unweit der französischen Grenze. Die Lokomotive wurde abgekoppelt und fuhr stoßend, in einer Dampfwolke, auf ein Nebengleis zu einem Wasserturm, wo ein Schlauch wie ein langer Elefantenrüssel über den Tender geschwungen wurde. Durch irgendeine Verspätung wurde der Zug längere Zeit aufgehalten. Er stand auf dem Gleis, mit seinen verstaubten Wagen, einer langen Reihe Schlafwagen mit herabgelassenen Jalousien, aus denen kein Lebenszeichen drang. Ein Mann in blauer Bluse mit einer großen Ölkanne in der einen Hand und einem langschaftigen Hammer in der anderen ging von Wagen zu Wagen, schlug mit dem Hammer auf die Räder und befühlte die Naben mit der Hand, ob sie sich auch nicht warm gelaufen hätten. Die Stille im Zug und um ihn herum war geradezu fühlbar.

Eigentlich war es kein Bahnhof, nur ein langer Schuppen neben dem Schienenstrang, ein Glasdach auf eisernen Pfählen über dem Bahnsteig, das war alles. Im Hintergrund sah man verschmutzte Glastüren und Kontorfenster, in denen Licht schimmerte. Die Stille war so tief, daß man deutlich das unregelmäßige, stockende Ticken des Morsetelegraphen hören konnte. Das letzte Ende des Bahnsteigs, wo das Glasdach nicht mehr hinreichte, war mit Reif bedeckt; auch die Dächer der benachbarten Häuser waren bereift, es hatte nachts gefroren. Alles, was man vom Bahnhof und seiner nächsten Umgebung sah, war verstaubt, schmutzig und schlecht erhalten. Die festverschlossenen Luken in der Mauer eines hohen Speichers oder einer Mühle waren häßlich verfärbt. Was dahinter wohl fabriziert wurde? Jenseits der Stadt sah man hinter Fabriken die Umrisse eines Gebirges. Der Bahnhof war wie ausgestorben, nur eine alte Frau, ein dickes Tuch um den Kopf, stand vor der Tür des Warteraumes, einen Stapel Zeitungen im Arm.

Der Reisende der dritten Klasse – er schien der einzige im ganzen Zug zu sein – kletterte auf den Bahnsteig hinunter und kaufte eine Zeitung, ein schlecht gedrucktes Lokalblatt, auf dessen erster Seite mit fetter Schrift der Name Boulanger stand. Der junge Mann steckte die Zeitung ein, um sie später zu lesen. Er trug einen dünnen Gummimantel, der beim Gehen raschelte, in dem er die ganze Nacht in der Ecke seines Abteils gesessen hatte. Die Heizung, meterlange, schmale Becken mit Kohlenglut, die von der Seite unter die Wagen geschoben wurden und wahrscheinlich in einem Rohr unter den Sitzen endeten, war schon lange erkaltet. Gegen Morgen hatte er ein wenig geschlafen und war ganz steif vor Kälte aufgewacht. Als er die Zeitungsfrau bezahlen wollte, versagten die Finger ihm den Dienst.

Er sah, daß im Bahnhofsgebäude Licht brannte und trat durch die Glastür; sie fiel mit einem Knall hinter ihm zu. Im Hintergrund stand ein Büfett, dessen Zinkplatte gerade mit Tüchern abgerieben wurde. Ein kleiner schwarzbärtiger Mann mit einer Schürze ließ sich herab, ihm eine Tasse Kaffee einzuschenken; die Kanne hatte einen Griff, groß wie eine Keule. Der Reisende trank den Kaffee, der merkwürdig hell, aber sehr heiß war. Dann goß er hastig noch zwei Gläser Kognak hinunter, die ihm wie Feuer im Magen brannten; eine Extravaganz, die ein großes Loch in seine Kasse riß, aber es half nichts, ihm war so kalt, daß seine Zähne zusammenschlugen. Nach dem Genuß des Alkohols aber erholte er sich schnell, und es wurde ihm glühend heiß.

Dann suchte er die Toilette auf. Dort schien man so zeitig am Morgen noch keine Besucher zu erwarten, denn ein weibliches Wesen, einen Eimer Seifenwasser neben sich, war im Begriff, das Holzwerk abzuseifen. Mechanisch wollte er sich zurückziehen, als sie sich im selben Augenblick zu ihm umdrehte!

Sie war jung, derb, nicht groß, aber kräftig gebaut, mit langen, blendenden, sahnenfarbenen, bis an die Schultern entblößten Armen. Er umfaßte sie mit einem einzigen Blick, sein Auge nahm alle Einzelheiten auf, eine nach der anderen, schneller, als man sie mit Worten aufzuzählen vermag. Sie hatte reiches, schwarzes Haar mit einem bräunlichen Schimmer, wie gebrannter Kork; es war ungekämmt, nur flüchtig mit einem einzigen Griff aufgesteckt, aber von üppiger, einfacher Wirkung. Das runde Oval des Gesichts war rein in der Linie, die Züge grob, die Nase flach mit runden Nasenlöchern, der Mund groß und malvenfarbig; die Augen waren dunkel, tiefliegend, aber klar, und das Weiße glänzte wie Perlmutter, lebensstarke Augen. Ihre Gesichtsfarbe war von verblüffender Frische, die Haut hatte denselben matten Glanz wie die Arme. Die Tönung der Haut am Haaransatz weckte die Erinnerung an Champignons in dunkler, lockerer Erde.

Sie war ein ausgesprochener Volkstyp. Indem sie sich zu ihm umdrehte, hob sie schnippisch die Nase und betrachtete ihn belustigt. Diesen Gesichtsausdruck, gewappnet und gleichzeitig humorvoll, kann man an Arbeiterfrauen beobachten, die darauf gefaßt sind, sich Männer vom Leibe halten zu müssen. Sie war nur mit einem Hemd und einem Unterrock bekleidet, die bestrumpften Füße staken in schmutzigen Schuhen. Wahrscheinlich war sie gerade aus dem Bett gekommen und hatte für die unsaubere Arbeit, die ihrer wartete, nur die notdürftigste Toilette gemacht. Der enge, zerknitterte Rock hatte vorn und hinten die Form seines Inhaltes angenommen, als hätte ein Bildhauer seine Skulptur in ein Tuch eingeschlagen.

Ohne einen Ausruf der Überraschung, ohne ein Wort der Erklärung standen die beiden, die sich nie im Leben gesehen hatten, einander gegenüber, weder Französisch noch sonst eine Sprache wurde gebraucht, von Anfang bis Ende wurde kein Wort gewechselt, alles, was eine intime Bekanntschaft voraussetzte, war da. Auf der Stelle gerieten sie miteinander in ein neugieriges Handgemenge, das für einen Beobachter wie ein kannibalischer Überfall aussehen mochte. Ein Menschenfresser schien sich an seiner Beute die beste Stelle auszusuchen, kostete die Arme entlang bis an die Achselhöhle, und begrub sein Gesicht in Haar, Nacken und Rock. Das Haar hatte einen brenzligen Geruch wie Wald, Feuer, Sonnenschein und Gewitter, Moor und Gras. Sie strömte einen lebensvollen Duft von Blut und Milch aus, wie junge Kühe, der sich mit dem scharfen Geruch von Seife, Chlorkalk und Ammoniak vermischte. Nie hatte ein Menschenkind süßer gerochen! In weniger als einer Sekunde waren seine Hände über sie hingegangen, ihre Haut war kühl und ein wenig rauh, als striche man über feines Sandpapier. Sie war unfaßbar weiblich! Das Opfer setzte sich zur Wehr, es war ja in einer unvorteilhaften Toilette überrascht worden, welche Schande! Sie war stark, aber ein Nichts in seinen Händen. Sie wehrte sich, wurde aber wieder und wieder überwältigt, es konnte offenbar nicht oft genug geschehen. Mit geschlossenen Augen warf sie sich nach hinten, als könne sie den Anblick seines ruchlosen Benehmens nicht ertragen, im Grunde aber schien es ihr doch zu behagen, denn sie lachte, ein unnatürliches, kampfbereites Lachen, gespielte Empörung, aber kein hartes Gelächter. Eine Katastrophe, Wirbelwind oder Orkan war über sie gekommen, eine Macht, die sie gierig küßte, erst von rechts, dann von links und in den Himmel trug.

Sie wurden sich einig. Erstaunt, glückselig, die nasse, von Seifenwasser geschwollene Mädchenhand in der seinen, folgte sie ihm in eine Toilette, und dort schützten sie sich vor Störung, indem sie den Riegel vorschoben.

Verlassen standen draußen Wassereimer, Scheuertuch und Schrubberbürste, an der Wand lehnte ein Besen, Symbole der Reinlichkeit und Häuslichkeit, zu einem Stilleben vereinigt.

Der Morseapparat hatte inzwischen sein nervöses hinkendes Tippen beendet, der Bericht, von Station zu Station, war fertig, die Lokomotive hatte genügend Wasser geschluckt und war mit einem Stoß, der durch alle Wagen ging, wieder angekoppelt worden, der Stationsvorsteher stand mit der Uhr in der Hand … Abfahrt!

Das Abfahrtszeichen! Der Zug!

Mit langen Sätzen kam der Reisende der dritten Klasse in seinem Gummimantel über den Bahnsteig und sprang in sein Abteil, während der Schaffner mit verdrießlicher Miene den Türdrücker schon in der Hand hielt. Die Tür wurde zugeknallt, und der Zug setzte sich in Bewegung. Er sank in seine Ecke, konnte den Kopf kaum aufrechthalten. Mein Gott, er war ja betrunken, sinnlos betrunken nach ein paar Gläsern Kognak! Der Alkohol, den er vorhin in seiner verkommenen, ausgehungerten Verfassung hinuntergegossen hatte, war ihm zu Kopf gestiegen. Betrunken, übernächtig, mit wackelndem Kopf, in seinem Gummimantel in der Ecke zusammengekauert, setzte er die Reise nach Paris fort.

 

Dies war das Erlebnis, das den alten Arzt in seiner Sterbestunde beschäftigte und alle anderen Erinnerungen verdrängte, nachdem es fast ein ganzes Leben lang verschüttet und vergessen gewesen war; ein Stück elementare Natur, viel zu unbedeutend, um erwähnt zu werden.

Das Leben, das Dr. Renault geführt hatte, war wie das der meisten Menschen verlaufen, positiv und in jeder Beziehung normal und korrekt. Nicht dieses Leben aber drängte sich im letzten Augenblick seiner Erinnerung auf, das war vollbracht, ohne Rest für die Phantasie. Er war verheiratet gewesen und hatte Kinder in die Welt gesetzt, war dem Leben nichts schuldig geblieben. Es gibt aber einen Wertmesser, der ungelebtes Leben mit unerbittlicher und unentrinnbarer Gewalt in den Vordergrund drängt: Scheidewege, an denen man blind vorübergegangen ist, schattenhafte Dinge, die später eine Existenz fordern.

Zwei Seelen hatten in ihm gewohnt, wie in vielen Menschen. Die eine verlangte nach einem geordneten Leben, einer großen Arbeit, die zur Vollendung strebte; die andere verlangte nach einem freien, schrankenlosen Naturdasein, Reisen, Entdeckungen, Meeren, Völkern – Wandertrieb, so alt und unausrottbar wie die Menschheit selbst. Er hatte den ersten Weg gewählt und würde ihn wieder wählen, falls er sein Leben von neuem beginnen könnte. Es war Arbeit gewesen; wenn er zurückblickte, schienen all die vielen Arbeitsjahre zu einem einzigen Arbeitstag zu werden. Er hatte das Leben gut gelebt und brauchte nichts zu bereuen. Als Arzt hatte er jedes Jahr eine Kongreßreise nach einer der verschiedenen Hauptstädte gemacht, wo er andere Ärzte kennen lernte. Zwar war es seine Absicht gewesen – ein stiller Traum, der zum besten Zimmerholz in ihm gehörte –, auf Reisen zu gehen und die Welt zu sehen, wenn er seinen Abschied als Chefarzt genommen hatte. Und nun sollte er darum betrogen werden!

Daß es einem nicht einmal vergönnt war, sich in den fünf Weltteilen des Erdballs, zu dem man gehörte, umzusehen! Karriere! Auch erfolgreiche Arbeit ist nur ein elendes Surrogat, falls sie das kurze Dasein verschlingt, ohne das zu geben, wozu Arbeit da ist: Leben zu vollbringen.

Wie kläglich, daß er damals hinter dem Zug hergelaufen war, nur weil er eine Fahrkarte gelöst hatte! Schon damals hatten Schienen in ihm gelegen! Noch kläglicher aber war die Angst um sein Gepäck, das im Abteil lag. Als ob sein Leben davon abhinge! Ja, ja, Gepäck tritt häufig an Stelle des Menschen. Und was für Gepäck in seinem Fall! Eine Handtasche mit den notdürftigsten Kleidungsstücken, einigen Büchern, einem Rasiermesser und einer Pfeife! Von seiner Pfeife hatte er sich nicht trennen können, das war es, noch heute hing er an ihr. Und seine Papiere! Es wäre ja eine Katastrophe gewesen, wenn er sie verloren hätte! Ach, wäre es doch nur geschehen!

Unterlassungssünden brennen wie Feuer. In dieser Qual befand sich der alte Arzt in seiner letzten Stunde, bis das Bewußtsein ihn schließlich verließ, ein Augenblick, der sich selbst auslöschte.


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