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IV

Der große Luxusdampfer der Innis-Linie, die Arethusa, lag am Kai von Genua zur Abfahrt bereit.

Die Abfahrt eines Dampfers hat etwas elementar Ergreifendes, wie der Aufmarsch von Truppen, eine Kathedrale, ein Gewitter. Der gewaltige Rumpf ragte mit drei Stockwerken über den Kai und war so lang, daß man nicht vom einen zum anderen Ende sehen konnte. Er war der Mittelpunkt in einem Aufbruch, eine ganze Bevölkerung schien auszuwandern. Ein Jahrhundert setzte sich in Bewegung! Wie ein Muttertier seine Jungen auf dem Rücken trägt, so trug der Dampfer seine Rettungsboote auf dem obersten Deck. Die Kommandobrücke war die höchste Stufe auf der Himmelsleiter, und oben zwischen den Masten unter den Wolken schwebte ein Gewebe von Leitungsdrähten und Ringen, das Radio, die Verbindung mit der Atmosphäre. Kellertief unten, zwischen Schiffswand und Kai, sprudelte ein Strahl schmutzigen Wassers aus einem Loch im Rumpf; die Unterwelt des Dampfers spie Spülwasser aus. Achtern auf der Wasserlinie standen römische Zahlen und mystische geometrische Figuren. Die Schraube begann sich in Bewegung zu setzen, machte einige Schläge back, und tief unten aus Wirbeln von grünem Meerwasser tauchten rotierende Schaufeln auf, so groß wie Walfischflossen, mit einem Schimmer von Mennigfarbe. Tonnen von Schaum wurden längs der Schiffswand nach vorn gepeitscht.

Wie auf einer Rolltreppe strömten die Passagiere über das Fallreep, das mit einem Absatz bis zum zweiten Stockwerk reichte. Auf dem Kai hupten Autos und luden immer mehr Passagiere ab, die ganz gebückt gingen unter der Last von Blumen und Paketen. Es wurde umarmt und geweint. Wie immer, wenn Dampfer abfahren, vergossen die Reisenden Ströme von Tränen, man begab sich auf eine Vergnügungsreise und verging vor Schmerz auf dem Fallreep. Schroffe Gegensätze begegnen sich in der menschlichen Brust. Man ging an Bord. Die Art, wie Menschen an Bord gehen, die Gesichter aufwärts und vorwärts gerichtet, ist des Beachtens wert, denn es ist eine alte Wanderhaltung, so hat man von jeher den Hals gestreckt. Welch ein Unterschied zwischen denen, die am Kai zusammengepfercht standen, und den Glücklichen, die an Bord gingen!

Endlich begann sich der Riese in Bewegung zu setzen, anfangs kaum merklich, denn es war ja unglaublich, daß diese Mauer aus Eisen von der Stelle kommen könnte! Zwischen dem steinernen Kai und der hohen, steilen Schiffswand öffnete sich ein Spalt wie eine Bergkluft, Schiff und Kai, die zusammenzugehören schienen, brachen auseinander, die Bullaugen mit ihren Messingrändern in den genieteten Eisenplatten entfernten sich und gähnten über einem schwindelnd tiefen Raum. Ganz unberührt vom Abschiedsfieber guckte ein Koch mit seiner hohen Mütze aus einem Bullauge unten in den Küchenregionen; er war der einzige vernünftige Mensch in weitem Umkreis.

Farbige Papierschlangen wogten zu Tausenden zwischen dem Dampfer und der Menschenmenge auf dem Kai wie zarte Verbindungsnerven. Nun strafften sie sich und zerrissen, der Nerv, der Lebensfaden zwischen dir und mir war durchschnitten! Und nun begann oben auf dem Achterdeck das Schiffsorchester zu spielen, eine leise Hymne, durch die das Waldhorn mit gutturalem Gurren klang – ach, uns bricht das Herz. Es wurde gerufen und gewinkt, Taschentücher wirbelten durch die Luft wie Schneegestöber, und schon waren Dampfer und Abschiednehmende weit getrennt. Es sah aus, als sei ein Volk mitten durchgebrochen; der eine Teil stand dicht gedrängt bis hart an den Rand des Bollwerks, der andere lehnte sich durch drei Stockwerke über die Reling, ebenfalls winkend und Taschentücher schwenkend. Ein junger Mann reckte sich ekstatisch über die Menge, die vor ihm stand, und warf irgend jemand an Land, der zurückgeblieben war, Kußhände zu. Lebewohlrufe und Hurras erklangen von draußen, bereits hinsterbend wie Notrufe auf dem Meer, und junge Mädchen an Land preßten die Taschentücher gegen den Mund, verlassen, mit blanken, weitgeöffneten Augen.

Die Töne des Schiffsorchesters wurden immer schwächer, es war, als gäbe der Dampfer selbst Laute von sich, die immer ferner und hohler wurden, bis sie mit einem letzten Seufzer, den er aus seinem tiefsten Innern holte, vom Wind fortgetragen wurden. Es war vorbei!

Draußen aber nahm der eiserne Koloß die Form eines Schiffes an, werpte mit dem Steven seewärts, bohrte die Schraube achtern in die Wogen und wühlte weißen Schaum auf. Die Arethusa begann Fahrt zu machen.

Aus der Dampfpfeife kam ein langgezogener Ton in abgrundtiefem Dur, mit Vibrationen aus dem Himmelsraum, die den ganzen Hafen und die Reede füllten und von den Häuserfassaden der Stadt zurückgeworfen, kurz darauf aber, schon ferner, von den Höhen hinter der Bucht wiederholt wurden. Der Widerhall lief über das Meer, Wasser, Himmel und Erde gaben sich Antwort. Die riesige Arche draußen verkündete, ihre Zeit sei gekommen, sie wolle schwimmen.

Die Passagiere an Bord sahen die Kolumbus-Statue, die sich im Hafen von Genua von dem Hintergrund der alten steilen Häuser abhob. Dahinter tauchten die Gebirgshöhen auf, immer mehr, je mehr sich der Dampfer entfernte, es war eine schwindende, rotierende Perspektive. Wer beim Anblick des alten Seemannes nachdenklich gestimmt wurde, machte sich Gedanken darüber, was Meer und Zukunft vielleicht auch für ihn in Bereitschaft haben würden.


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