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IX

Der Dampfer hatte in Palästina und Ägypten angelegt, man hatte den Suezkanal passiert und befand sich nun im Roten Meer.

Wie der erste Teil der Reise, so wurde auch die Fahrt durch das Rote Meer unerwartet zu einer Strapaze. Im Mittelländischen Meer hatte man gefroren, im Roten Meer war es zu warm. Wären nicht die Kühlanlagen in den Kabinen gewesen, man hätte die Hitze einfach nicht ertragen. Darüber hatte nun freilich nichts im Prospekt gestanden, auch nicht, daß man zur Regenzeit in die Tropen kommen würde! Das aber sollte man erst später erfahren.

Die Passagiere hielten sich in ihren Kabinen oder den gekühlten Salons auf. Sogar unterm Sonnensegel auf Deck war die Hitze unerträglich, und wenn man so leichtsinnig war, sich irgendwo hinzubegeben, wo kein Dach Schutz gewährte und die Sonne senkrecht herabbrannte, fühlte man sein Leben bedroht.

Köche und Bedienung, die vorm Herd standen, wo es besonders heiß war, machten einen völlig aufgelösten Eindruck, wenn man sie in ihrem Bereich sah, und wer unten im Schiff arbeitete, hatte Höllenqualen auszustehen.

Die Heizer hatten sich auf Sizilien poröse Lehmkruken gekauft und hängten sie oben an den Luken in die Zugluft. Nach jeder Wache kamen sie herauf und tranken gierig, der Wasserstrahl aus den Kruken lief ihnen senkrecht durch die Kehle. Sie waren halb verrückt vor Anstrengung, zitternd, verbrüht, das Gesicht verzerrt, als hätten sie sich im letzten Augenblick aus einem brennenden Haus gerettet. Mit Leinenhosen und Leibchen bekleidet, die von Öl und Kohlen über und über beschmutzt waren, mit bloßen tätowierten Armen, auf denen die Adern wie Taue hervortraten, mit verbrannten Handgelenken, brennenden, schmerzenden Augen, das Haar von Kohlenstaub und Öl verklebt, schwankten sie herauf und warfen sich kopfüber in ihre Kojen, während die nächste Schicht das Feuern in der Hölle übernahm.

Der einzige, der aufzuleben schien und die zunehmenden Wärmegrade mit Triumph begrüßte, war der alte anglo-indische Feldmarschall a. D., der sein Leben in Indien verbracht hatte, wo er auf einem noch schlimmeren Rost gebraten war. Für ihn war es, als käme er nach Hause und näherte sich den Schlachtfeldern seines Lebens. Er prahlte und lärmte in der Hitze, als sei er endlich wieder in seinem Element, während alle anderen wie matte Fliegen dalagen.

Auf seinem großen Gesicht lag ständig ein belustigter Ausdruck, auch wenn es nichts zu lachen gab, als habe ein langes Leben im Umgang mit Menschen seinen Zügen ihren Stempel aufgedrückt; er konnte offenbar nicht vergessen, wie lächerlich die Welt im Grunde war. Wann immer man zu seinem Stuhl hinüberblickte, begegnete man den gekräuselten Mundwinkeln und weitaufgerissenen, lachenden Augen, in denen die Torheit der Welt geschrieben stand. Er war unverschämt glücklich, und trotz seiner achtzig Jahre robust, abgesehen von den Beinen, die ihm den Dienst versagten. Ohne sich vorzustellen, sprach er jeden ungeniert an, ganz unenglisch, wahrscheinlich eine Gewohnheit aus jener Zeit, als er nur Farbige um sich hatte. Er rief Leute zu sich heran und machte sich über sie lustig, konnte geradezu grob sein, immer unter dem Deckmantel der Munterkeit. Seine wohlgesetzte Rede, sein Alter, sein hoher Rang und vornehmer Name entwaffneten das Opfer. Dr. Renault wurde von ihm my boy angeredet, was der Doktor mit gemischten Gefühlen aufnahm, er war es nicht gewohnt, junior zu sein, wenn er mit jemandem sprach. In einem Liegestuhl neben dem des furchtlosen, alten Haudegen, in dem immer ein Lachen brodelte, lag seine Frau, ein schneeweißes, ausgelöschtes Wesen, das sich selbst als jungem Mädchen glich, dem überlebten Jungmädchentyp der Achtzigerjahre. Die alte, lautlose Dame mit den zarten, blauen Adern an den Schläfen war wie eine Verkörperung des Begriffes Abstand. Das vornehme Paar genoß höchste Achtung an Bord.

Sehr beliebt war auch der Hund des Generals, der einzige an Bord; Hunde waren wegen der Grenzschwierigkeiten nicht zugelassen. Der General aber hatte seinen Hund mitgebracht, welche Macht hätte den Oberstkommandierenden daran hindern sollen? Der Hund glich einem Gordonsetter mit langen Haaren und buschigem Schwanz, war aber wohl eher ein Spaniel mit seinen kurzen Beinen und langen Fransenohren wie Hängelocken einer Dame aus der Zeit Louis Philippes und erinnerte an Elizabeth Barrett Browning, war aber ein Rüde. Er hieß Spark und war ein großes Licht, ebenso klug wie sein Herr, was der General selbst versicherte. Meistens hielt er sich neben dem Liegestuhl seines Herrn auf, dessen große, leberfleckige Hand auf dem Kopf des Hundes ruhte. Es sah aus, als segne ein sterbender Patriarch seinen Nachkommen. Wegen des fühlbaren Hundemangels an Bord aber machte Spark die Runde bei allen Passagieren und erwedelte sich seinen Zoll in Form von Liebkosungen und törichten Schmeichelnamen. Besonders die Damen trachteten danach, das Tier mit ihren Händen zu berühren. Vielen Menschen ist von ihrem Naturempfinden nicht mehr übriggeblieben als ihre Beziehung zu einem Hund. Spark füllte auf der Arethusa eine empfindliche Lücke aus und schleppte auch an einer Verkrüpplung.

Die Fahrt durch das Rote Meer schien wie eine Strafe ohne Ende. Näherte man sich den Küsten, dann machten sie den Eindruck einer Welt in Ruinen, als sei es die Kehrseite der Erde. Die öden, versengten Felsen, das Wüstengebirge im Hintergrund, die kahlen, schwarzen Schuttfelder, die sich bis an den Strand erstreckten, wirkten wie die Überreste eines ungeheuren Feuers. Es war, als sei man auf den Mond gekommen! Die Passagiere konnten nicht begreifen, warum es das Rote Meer hieß, es war ja gar nicht rot. Die meisten wußten, daß Moses hier durch die Wasser geschritten war und sie geteilt hatte; vielleicht war es damals rot gewesen. Bridge wurde von denen gespielt, die sich noch aufrechthalten konnten, mit feuchten Karten, gottergebener Miene und einem grünlichen Whiskysoda dicht neben sich, in dem ein Eisstück schwamm, das so groß war wie der Cullinandiamant. Kreuzworträtsel wurden mit vereinten Kräften von den verschiedenen Kliquen gelöst, solange man welche auftreiben konnte. Das Badewasser aus dem Meer hatte vierzig bis fünfzig Grad Celsius. An Bord ging eine Sage von dem Paradies der Seligen, dem Kühlraum unten im Dampfer, wo Fische und Schlachtvieh mit fingerdicker Eiskruste hängen sollten! Die Welt der Unvergänglichkeit, zu der keine gewöhnlichen Sterblichen, außer dem Obersteward und seinen Leuten, Zutritt hatten.

Gänzlich unangefochten war die Jugend von der Hitze. Wie das Dasein sich auch gestaltete, sie verstand es, eine positive Quadratwurzel daraus zu ziehen. War das Wasser kalt oder warm, man badete von morgens bis abends, und zwischendurch nahm man Sonnenbäder, ein nasses Tuch wie einen Turban um den Kopf. Mußte man sich zu den Mahlzeiten anziehen, dann war die Bekleidung auf ein Mindestmaß beschränkt. Die Jugend hatte sich auf Deck wie am Strand eingerichtet, man lag umher, sonnte sich oder suchte zur Abwechslung den Schatten auf. Man war vergnügt beisammen, aber ganz unverbindlich, ungezwungen, scheinbar ohne Spannung zwischen den Geschlechtern, kein Flirt, kein mondänes Sich-zur-Schau-stellen, vor allen Dingen keine Eile. Man ließ sich Zeit, ließ die Augen aufeinander verweilen, schien wirklich die Kunst des Vegetierens gelernt zu haben, ließ die Minuten mühelos kommen und gehen.

Auf den ersten Blick konnte man nicht sogleich die jungen Mädchen von den jungen Männern in einer Gruppe unterscheiden. Alle waren gleich schlank, nur ein Pagenhaar verriet hier und dort, daß man ein Mädchen vor sich hatte. Auch ein Blick auf das Handgelenk hob jeden Zweifel auf, die jungen Männer hatten Handgelenke wie Ruderer, breit und behaart. Sie waren alle große gelassene Burschen, sportlich trainiert, überlegen in der Beherrschung ihrer Gliedmaßen, nicht unliebenswürdig. Für Leute außerhalb ihres Kreises aber hatten sie wenig Interesse.

Die junge Gesellschaft schien eine Umgangsform gefunden zu haben, die den Geschlechtsunterschied aufhob, jedenfalls solange ihrer mehrere waren. Erlauschte man etwas von ihren Gesprächen, dann konnte man feststellen, daß sie tatsächlich nicht mehr sagten als Spatzen. Die jungen Mädchen zwitscherten und schüttelten das Pagenhaar, flüchtig, sorglos, und blickten vertrauensvoll vom einen zum andern. Die jungen Leute sprachen mit rauhen Stimmen, waren witzig, sagten aber im Grunde gar nichts. Ein Slang hatte sich entwickelt, mit Schlagworten, die jedesmal jubelndes Gezwitscher auslösten, wenn sie in einem neuen, gelungenen, nur für Eingeweihte verständlichen Zusammenhang angewendet wurden.

Nur wenn die Radiozeitung Neuigkeiten aus der Sportwelt brachte, von der man leider so weit getrennt war, kam Schwung in die Unterhaltung, man wurde sachlich, ein wenig wehmütig, denn es gingen ja Dinge vor, an denen man nur aus der Entfernung teilnehmen konnte. Tennisturniere auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans, wobei es an einem Faden hing, welche Nation den Pokal davontragen würde! Es wurde heftig über Chancen gestritten, über diesen oder jenen Matchball, von dem das Ganze abhing, über technische Feinheiten der Spitzenkräfte.

Man saß in einer geschlossenen Gruppe unter dem Sonnensegel, die Luft brannte draußen wie ein Ofen, aus dem Meer stieg eine Glut wie von geschmolzenem Glas, und man mußte sich mit der Hand gegen die Kamelfliegen wehren, die in ganzen Pestscharen von Land kamen. In der Mitte der Gruppe saß ein junger Mann, der aus der Radiozeitung vorlas, und ein junges Mädchen guckte ihm über die Schulter in die maschinengeschriebenen Seiten. In Amerika hatte ein Baseball-Turnier mit überraschendem Ausgang stattgefunden, und es gab auf der Stelle aufgeregte Auseinandersetzungen, barsche Zurufe der verschiedenen Parteien. Das Resultat eines Fußballkampfes hätte fast Anlaß zu einem scrimmage gegeben. Ein neuer Rekord im Höhensprung versetzte die ganze Gesellschaft in Staunen, man sah sich an, als traue man seinen Ohren nicht; ein neuer Name, den man sich merken mußte. Schwimmrekord von einem Japaner! Bei dieser Mitteilung entstand großer Tumult, was sollte das heißen, man hatte ja den Weltrekord in seiner Mitte! Anne Kielstra streckte aufmerksam den Kopf mit dem kurzgeschnittenen Haar vor. Ach so, es war nicht ihre Distanz. Es war eine Frechheit, die Nachricht zu lancieren, der Rekord sei um einzweidrittel Sekunden geschlagen! Diese kleinen Flöhe drängten sich auf allen Gebieten vor und waren sogar imstande, Rekorde nachzuahmen, denen sie nicht gewachsen waren.

Dr. Renault bewegte sich an der Peripherie des Kreises, jedoch in Hörweite. Auch er war im Badekostüm, eine Art Mimikry, die es ihm ermöglichte, unbemerkt zu bleiben. Übrigens war er nicht der einzige unter den älteren. Herrschaften, die sich den Freuden des Badelebens hingaben. Wie in einem Badeort sah man jedes Alter vertreten, darunter groteske Gestalten, Mehlsäcke, Glatzen hier, Behaartheit dort, Nacktheit, die Schweinen oder gerupften Truthähnen glich. Nicht alle Menschen sind jung und schön, baden aber wollen alle gern. Im übrigen schenkt man ihnen auch nur wenig Beachtung, denn man sieht nur die Jungen und Gutgewachsenen.

Auch Dr. Renault wurde nicht beachtet. Er gehörte zu der Kategorie Gewesener, die von der Jugend unbarmherzig übersehen wird. Seine Gliedmaßen waren das Jugendlichste an ihm, er war lang und sehnig, mit behaarten Armen, wahren Affenarmen, wie man sie auf Karikaturen von Ärzten sieht, wie sie aber wirklich bisweilen vorkommen, und machte ein Gesicht wie ein Polizeibeamter. Die Haut war ihm zu weit geworden, legte sich in Falten um die Gelenke, er hatte Kamelknie wie alte Männer auf Bildern von Ribera.

Neben seinem Alter trug auch eine gewisse Gelassenheit in Wesen und Bewegung dazu bei, daß seine Person in der Nähe der Jugend unbeachtet blieb.

Daß seine Augen beständig, sozusagen von morgens bis abends, auf Anne Kielstra ruhten, hatte niemand bemerkt, am wenigsten Anne Kielstra selbst.


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