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XXIV

Ein Rettungsboot mit siebzehn Mann, den einzig Überlebenden der Arethusa, landete auf einer Insel in der Südsee. Sie waren ausgehungert und erschöpft, nachdem sie fünf Tage lang auf hoher See getrieben hatten.

Es waren Schiffbrüchige beiderlei Geschlechts, Passagiere und Mannschaft, Leute, die gerade früh aufgestanden waren und das Glück gehabt hatten, in dem einzigen Rettungsboot, das sich bergen konnte, Platz zu bekommen.

Unter diesen befand sich auch der Mann, der nur unter dem Namen Stoker bekannt war und sich in der letzten Zeit großen Einfluß verschafft hatte. Darum ergab es sich ganz von selbst, daß er die Führung der schiffbrüchigen Gesellschaft im Boot übernahm. Die anderen ruderten abwechselnd, er saß achtern und steuerte.

Er schien zu wissen, wo man sich befand, denn er steuerte einen bestimmten Kurs, und richtig, nach Verlauf eines Tages sah man Land. Vier Tage und Nächte aber mußte noch gerudert werden, bevor man es erreichte.

Im Boot hatte man einen Behälter mit Wasser vorgefunden, das ordnungsgemäß in jedem Rettungsboot vorrätig sein soll und in kleinen Teilen rationenweise ausgegeben, konnte es reichen, bis man an Land kam. An Lebensmitteln besaß man nur eine Kiste Keks. Jeder erhielt zwei am Tag; das bedeutete Hungersnot; was sollte geschehen, wenn sie gegessen wären? Das ferne Land, die blaue Linie am Horizont, hielt indessen die Hoffnung aufrecht.

Das Gespenst aber, das sich unter Schiffbrüchigen, die an Hungerdelirien leiden, in einem offenen Boot auf hoher See einzustellen pflegt, blieb auch hier nicht aus. Verstohlene Blicke, auf denen man sich gegenseitig ertappte, wanderten um die ganze Reling. Alle wälzten im geheimen Gedanken an Losen und was dabei herauskommen würde, nur leider war ja die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß das Los einen selbst treffen konnte. Auch durch Abstimmung konnte ein geeignetes Individuum ausgewählt werden, denn in solch ausgesprochen gemeinsamer Notlage würde sich niemand der Entscheidung durch Stimmenmehrheit widersetzen.

Es befanden sich mehr Frauen als Männer im Boot, weil man bei Schiffbruch Frauen den Vortritt läßt. Darum war vorauszusehen, daß bei Stimmabgabe die meisten Stimmen auf einen Mann entfallen würden. Trotzdem suchten die meisten Blicke die Frauen im Boot, wenn das Gespenst seine Gewalt geltend machte. Auch den Koch der Arethusa, der sich einen Platz im Boot ergattert hatte, suchten viele hohle Augen, denn seine Beleibtheit war vielversprechend. Allerdings stand man hier vor der Schwierigkeit, daß man nicht Koch und Zubereitung gleichzeitig haben konnte.

So weit aber kam es glücklicherweise nicht. Man hatte Spark. In dem psychologischen Augenblick hatte er sich an die Gesellschaft, die das Rettungsboot stürmte, um Liebe gewandt, war an Bord gesprungen und trotz Panik und Gefahren von Schoß zu Schoß gegangen. Nun konnte er als guter Hund zum Lebensunterhalt seiner Anbeter beitragen.

Niemand frage, wo er begraben liegt. Ein Nebel senkte sich wie ein Vorhang über einen Vorgang, dem sich der Koch nicht widersetzte, weil er sein eigenes Leben bedroht fühlte. So endete die Geschichte vom Hund des Generals, der den Namen Spark trug. Ehe der Nebel kam, war er noch da, als er sich lichtete, war er verschwunden.

Alle im Boot aber hatten geweint, kein Auge war trocken geblieben.

 

Als das Boot die rettende Insel erreicht hatte, steuerte man um eine Landzunge herum, in der Hoffnung, im Schutz der Bucht landen zu können, denn die Küste war steil, mit wilder Brandung ringsum. Es war eine hohe, kraterförmige Insel, mit Tropenvegetation bis zur höchsten Spitze. Man sah breite Palmenkronen und auf dem Boden Pisang mit großen, leuchtend grünen Blättern. Die ganze Insel war grün wie ein Smaragd, der Gipfel lag in purpurfarbenem Dunst, der Himmel war durchsichtig blau mit mousselinweißen Lämmerwölkchen, und das Meer ringsum flaschengrün, von Sonnenschein durchleuchtet. Aus dem Urwald hörte man die Schreie der Papageien, und das Meer umrauschte die Insel wie mit Harfenklang. Die kleine gezüchtigte Menschenschar im Rettungsboot, die einzig Überlebenden der Arethusa, glaubten, sie näherten sich der Küste des Paradieses.

Kaum war die Landzunge erreicht und der Ausblick auf die Bucht frei, als sie ein Kriegerkanu auf sich zukommen sahen, das sich wie ein Tausendfüßler mit vielen Rudern vorwärtsbewegte. Eine Reihe Männer stand aufrecht in dem schmalen Trog und schaufelte Wasser zu beiden Seiten mit langen Pagais, so daß das Kanu wie eine Stange schäumend vorwärtsschoß. Dahinter tauchte noch ein zweites Boot auf, und am Strand, dort wo die spitzen Giebel der Eingeborenenhütten zwischen hohen Kokospalmen sichtbar wurden, war es schwarz von nackten Wilden. Das ganze Dorf schien in Aufregung zu sein, die Männer waren in voller Ausrüstung, mit Speer und Bogen.

Als die Boote so dicht aneinander herangekommen waren, daß man sich erkennen konnte, zeigte es sich, daß es keine Malaien, sondern Melanesen waren, die mit den Papuas und Australiern verwandt sind. Die Männer in den Kanus waren große, glänzend schwarze, nackte Krieger, nur um den Leib trugen sie ein Band, das so fest geschnürt war, daß es den Körper fast in zwei Teile teilte, den Brustkasten mit den stark hervortretenden Muskeln, den kleinen, harten, runden Leib und dazwischen ein dünner Stengel, eine Ameisenfigur. Quer über das Gesicht hatten sie weiße Kalkstreifen gemalt, im Nasenknorpel trugen sie einen Knochen und eine Kette aus Schweinszähnen um den Hals. Die Ohren waren mit Ringen aus geschnitzten Muschelschalen behängt, so daß das durchlöcherte Ohrläppchen mehrere Zoll lang geworden war; einige hatten sich eine Tonpfeife durchs Ohr gesteckt. Das Haar, das mit Federn und langen Kielen geschmückt war, hing in einer filzigen, geteerten Masse bis auf die Schultern. Es waren magere, sehnige Leute darunter, einige mit einer Art Schwamm an den Beinen, einem Filz von Ausschlag, andere mit Elefantiasis, einem dick geschwollenen Bein, wie nach einem Bienenstich. Breite Münder, die Lippen wulstig, einige schielten stark. Sie waren mit langen Speeren bewaffnet, deren Spitzen gegabelt und mit Widerhaken aus Haifischzähnen versehen waren. Außerdem trugen sie Bogen, dazu Pfeile aus einer harten Holzart, an der Spitze mit einer schwarzen Masse beschmiert.

Wären die Schiffbrüchigen beim Anblick der Wilden nicht wie gelähmt gewesen, dann würde ihnen ein merkwürdiges Benehmen ihres Führers, den sie unter dem Namen Stoker kannten, aufgefallen sein. Als er von weitem sah, daß die Wilden nackt waren, hatte er sich geduckt und schnell seine Kleider abgestreift; er war dunkelhäutig und auf Brust und Schultern stark behaart. Darauf fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare, bis sie ihm wild um den Kopf standen, zog den Hals ein, daß er tief zwischen den Schultern saß, sein Kiefer war von Natur vorspringend, nun schob er die Lippen noch wie eine Schnauze vor und rollte versuchsweise grimmig seine Augen. Dann musterte er die Näherkommenden aufmerksam, ob er noch neue Züge an ihnen entdecken konnte, und als er sah, daß sie ihre Hände anders hielten als die Weißen, verdreht, da hielt er seine Hände auch verdreht …

Im ersten Kanu saß zwischen den Stehenden ein fetter, älterer Mann mit langen, spärlichen Haarsträhnen, riesigem Unterkiefer, kleinen tiefliegenden Augen und einem Kinderknochen in der Nase. Unverkennbar war es der Häuptling, physiognomisch hatte er eine merkwürdige Ähnlichkeit mit einem schwarzen Heinrich VIII. Ihm wandte der Führer seine ganze Aufmerksamkeit zu, zog den Kopf so tief zwischen die Schultern wie der andere, versuchte sich umzublicken, ohne den Kopf zu drehen, ließ nur die Augäpfel umherwandern – ein Zeichen großer Würde – und als die Fahrzeuge sich nah genug gekommen waren, legte er neben dem Kanu bei, richtete seinen Blick aus dem Augenwinkel auf den Häuptling und grunzte zwei Worte, die er auf Neu-Guinea bei den Papuas aufgeschnappt hatte. Alles hing davon ab, daß sie verstanden wurden.

Sie wurden verstanden. Der Häuptling im Kanu öffnete sein breites Maul, zeigte alle seine Zähne in einem holdseligen Grinsen, glücklich, einen Bruder getroffen zu haben. Die beiden Worte bedeuteten: Alter Dickdarm!

Der Häuptling zog eine Zigarette aus seinem durchlöcherten Ohr und bot sie dem sprachgewandten Fremden, ein Freundschaftsbeweis, ein großes persönliches Opfer, er trennte sich ungern von ihr, denn es war eine Innis. Auf diese Weise kam Innis zu Innis.

Die Schiffbrüchigen wurden mit offenen Armen empfangen.

So endete die große Gesellschaftsreise der Arethusa.

 

Der Untergang der Arethusa ist noch in frischer Erinnerung, eine der schwersten Schiffskatastrophen der letzten Jahre.

Die Unglücksfälle auf dem Meer häufen sich im Verhältnis zur Größe der Schiffe und dem zunehmenden Verkehr auf den Ozeanen. Das ist die Kehrseite der Technik, die sich das erstemal mit entsetzlicher Eindringlichkeit beim Untergang der Titanic geltend machte. Man erinnere sich an den Untergang der Ciudad de los Reyes, wobei sechshunderteinunddreißig Menschen ertranken, an den großen Passagierdampfer Cervantes, der unten beim Feuerland strandete, und an die Morro Castle, die auf hoher See in Brand geriet. Im Verein mit den großen Luftschiffkatastrophen bilden sie – soweit man überhaupt die Katastrophen auseinanderzuhalten vermag – ein trauriges Kapitel in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Die Arethusa erlitt Schiffbruch auf hoher See, an einer entlegenen Stelle im Stillen Ozean, und die wenigen Überlebenden retteten sich auf eine ferne Insel, deren Namen man kaum kennt, wahrscheinlich war es eine von den Banksinseln, so daß alles, was in die europäische Öffentlichkeit gelangte, ein Bericht über die Tatsache des Unglücks und einige Zahlen waren, die aber bei der großen Entfernung wenig Eindruck machten. Die Neuigkeit kam nach Europa durch einige spärliche Telegramme, die die Innis-Presse zuerst brachte; die übrige Presse hatte darum nicht mehr viel Interesse für den Stoff.

Obgleich dem Untergang der Arethusa grausame Wirklichkeit zugrundelag, wirkte er trotzdem halb legendär und wurde in unserer schnell lebenden Zeit bald von anderen neueren Katastrophen in den Hintergrund gedrängt.


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