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XVIII

Zehn Tage war die Arethusa nach Süden gesteuert und zum zweitenmal in die Tropen gekommen. Niemand wußte, wo man sich befand. Tag für Tag war man auf hoher See, unendliches, unverändertes Meer nach allen Seiten, Sonne, kein Seegang, nur leichte Dünungen, linde Brise, oben und unten alles gleichmäßig blau. Schließlich schien es, als sei die Welt nichts anderes und nie etwas anderes gewesen als Himmelsraum und Meer.

Hin und wieder sah man Wale, Scharen, die nach Norden zogen, riesige Buckel rollten im Meer und verschwanden wieder, indem sie Dampfwolken hinterließen, wenn sie Luft ausbliesen. Die Einsamkeit auf dem Ozean wurde dadurch noch größer. Wolken ballten sich am Himmel und verschwanden wieder. Schiffe bekam man nie zu Gesicht, obgleich das Meer voller Schiffe ist. Tauchte ein seltenes Mal eine Rauchwolke am Horizont auf, dann verschwand sie wieder, denn die Arethusa hatte sofort eine andere Richtung eingeschlagen.

Eines Tages sah man Land, ein fernes, blaues Gebirgsprofil, von dem man sich aber wieder entfernte. Es waren einige Südseeinseln, welche, wußte niemand. Im Laufe des Tages schwand das Land wieder achteraus, und manches Auge blickte ihm sehnsüchtig nach. Tags darauf kam wieder Land in Sicht, mehrere Inseln, und an Bord begann sich eine leise Unruhe bemerkbar zu machen.

 

Dr. Renault erhielt Bescheid aus dem Hauptquartier, er möchte zu Genosse Stoker kommen.

Es war derselbe Steward von damals, mit dem eiförmigen Schädel, dem vorspringenden Unterkiefer und dem Benehmen eines Taubstummen; nur die Livree war eine andere, eine rote Wolljacke, wie sie in der Heilsarmee getragen wird, mit den Buchstaben M. U. vorn auf der Brust.

Der Salon war unverändert, das Tigerfell lag auf dem Fußboden, der kostbare Micoque hing an der Wand, da war das Bücherbord, ein in Fächer eingeteilter Koffer mit einer Auswahl Bücher, deren Titel Dr. Renault gelegentlich gelesen hatte: Proust, Joyce, Lawrence, Dostojewski, Freuds Traumbuch, eine wundervolle alte Originalausgabe von Tausendundeiner Nacht auf arabisch, der Koran u. a.

Stoker, alias Innis, saß am Schreibtisch. Er trug eine rotgefütterte Lederjacke, alt und verschlissen, wie sie von Hausknechten und Bierkutschern getragen wird. Er drehte sich halb um, stand aber nicht auf und betrachtete Dr. Renault, ohne zu grüßen. Er war unrasiert, die acht Tage alten, kokosfarbenen Borsten standen wie Nägel in seiner Haut. Die Augen unter den schweren Lidern schielten, er sah zerstreut und überarbeitet aus. Seine Stimme hatte einen anderen, müden Klang bekommen, über dem ganzen Mann lag etwas Freudloses.

»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte er. »Es ist lange her, seit wir uns sahen. An Bord haben inzwischen bedauerliche Tumulte stattgefunden, ich hoffe, daß Sie persönlich nicht belästigt worden sind. Ich habe es nicht verhindern können. Seit ich der Mannschaft alle Waffen abgenommen habe, ist die Ordnung glücklich wiederhergestellt. Ich kann Ihnen die beruhigende Mitteilung machen, daß sich an Bord der Arethusa keine einzige Waffe mehr befindet – außer dieser hier.«

Damit schloß er die Schreibtischschublade auf und entnahm ihr einen schweren Browning, hielt ihn einen Augenblick hoch und legte ihn wieder an seinen Platz.

Die beiden Männer betrachteten den Browning, betrachteten sich gegenseitig.

»Es steht nun in meiner Macht, die früheren Zustände an Bord wiederherzustellen«, fuhr Innis fort. »Vorläufig aber, solange wir uns auf hoher See befinden, ist ja alles ganz schön so wie es ist. Die große Frage ist nur, wie und wo sollen wir landen …«

Er blickte Dr. Renault erwartungsvoll an, und Dr. Renault begriff, daß er sich zu der Frage äußern sollte, wartete aber, bis er gefragt wurde.

»Natürlich könnte man einen Hafen anlaufen und den Dampfer mitsamt den Meuterern an die Behörden ausliefern«, fuhr Innis mit verdrießlichen Brauen fort. »Nach bürgerlichen und juristischen Begriffen sind achtzehn überlegte Morde keine Kleinigkeit. Es wäre aber eine Art von Reklame, auf die ich keinen Wert lege. Sie wissen wohl, die Besatzung hat die Absicht, eine unbewohnte Insel in der Südsee aufzusuchen und dort eine Republik zu gründen, ein phantastischer Gedanke, dem ich indessen zugestimmt habe, denn vielleicht kann man die Sache an einem einsamen Ort, ohne Dazwischenkunft der Behörden abwickeln. Mir wäre es lieb. Wir befinden uns hier an Bord eines Schiffes, und ich sehe nicht den Grund ein, warum man sich der Gerichtsbarkeit irgendeines Landes unterwerfen soll, wenn man seine eigene errichten kann. Auf einem Schiff ist man ein Staat, und ein Staat geht von selbst wie ein Motor. Unruhe entsteht nur durch Eingriffe von außen. Sich selbst überlassen, wird ein Staat sich von selbst ordnen.«

Innis warf Dr. Renault einen schielenden, phosphoreszierenden Blick zu.

»Wir sind unsere eigene Instanz und legen keinen Wert auf die Einmischung der Gerechtigkeit. Ich habe mit dem Kapitän gesprochen, es soll hier unter den flachen oder gefährlichen Inseln einige unbewohnte geben, wo man sich verstecken kann. Auf solche steuern wir also vorläufig zu. Übrigens wird es amüsant sein, zu beobachten, wie die Kräfte hier an Bord sich selbst ordnen werden, ein interessantes Experiment, finden Sie nicht auch? Wollen wir unsere Ferien dazu benutzen? Augenblicklich sind die Klassen auf den Kopf gestellt, ist das aber im Grunde so schlimm? Sagen Sie aufrichtig, Doktor, ist Ihnen die neue Oberklasse weniger lieb als die alte?«

»In sozialen Fragen fühle ich mich nicht zum Richter berufen«, erwiderte Dr. Renault ausweichend.

»Die Schiffsgesellschaft war reif für eine Ablösung,« meinte Innis geringschätzig, »eine Mustersammlung der Bourgeoisie, der ihr eigenes Luxusdasein zum Hals heraushing. Wußten Sie, daß unter dem Deck, wo Nacht für Nacht getanzt wurde, die Kammern der Besatzung lagen? Man tanzte ihr sozusagen auf dem Kopf herum. Auf dem meterlangen Menü war den Passagieren kein Gericht recht …«

»Soviel ich sehe, ist die Mannschaft auf dem besten Weg, die Sünden zu erlernen, über die sie sich bei der degenerierten Bourgeoisie ärgerte«, bemerkte Dr. Renault. »Aus den Salons dringt derselbe Becherklang wie früher …«

»Mag sein,« meinte Innis, »nun sind die anderen dran.«

»Meinetwegen. Wozu dann aber der Ärger?«

»Die menschliche Gesellschaft muß sich von unten erneuern,« sagte Innis, »das hat sie von jeher getan. Die Germanen lösten das römische Reich ab …«

»Damals kamen Bauern an Stelle der Stadtbevölkerung, die sich selbst aufgefressen hatte«, sagte Dr. Renault. »Nun kommt die vermeintliche Reserve wieder aus den Städten.«

Innis: »Es ist die Diktatur des Proletariats! Sie können nicht bestreiten, daß das Proletariat die Mehrheit besitzt …«

Dr. Renault: »Wer in der Politik obenauf ist und mit welchem Recht, möchte ich dahingestellt sein lassen.«

Innis: »Heutzutage geht die Bourgeoisie und auch das Proletariat aus den Städten hervor. Das Ganze ist eine Klassenfrage. Bisher hat die Bourgeoisie auf dem Arbeiter gesessen, nun wollen die Arbeiter auch mal auf der Bourgeoisie sitzen.«

Dr. Renault: »Das sind leere Schlagworte. Alle Welt wird im Namen eines ganz unbestimmten Begriffes gezwungen, für oder gegen Rücksichtslosigkeit und Neid Partei zu ergreifen.«

Innis: »Es schadet gar nichts, daß die, die eine Zeitlang alle Vorteile besaßen, Verzicht lernen und frischen, unverbrauchten Kräften Platz machen.«

Dr. Renault: »Sind Sie sicher, daß diese Kräfte wirklich frisch sind? Ich bin davon nicht so überzeugt, wie viele andere, daß Gesundheit und Ursprünglichkeit bei den unteren Klassen zu finden sind, die für die übelbeleumundete Oberklasse eintreten sollen. Der unmittelbare Eindruck, den man von der körperlichen Beschaffenheit der beiden Parteien erhält, erzählt etwas ganz anderes. In den oberen Klassen findet man die normalen, gut gewachsenen Individuen mit gesunden Zähnen, beim Proletariat, das näher der Natur sein soll, findet man schlechte Zähne, Verkrüppelungen, Abnormitäten …«

Innis: »Sklaverei, ungerechter Mißbrauch der Macht von oben …«

Dr. Renault: »Unsinn, durch Arbeit wird niemand degradiert, der es nicht vorher war. Der wirkliche Zusammenhang ist ein ganz anderer. Die dienende Klasse der menschlichen Gesellschaft befindet sich unten, weil sie nicht genug Verstand besitzt, um sich heraufzuarbeiten. Die Verteilung in einem Staat hat ihren Ursprung jenseits aller Klassen.«

Innis hörte aufmerksam zu.

»Läßt sich aber andererseits«, schloß Dr. Renault, »die Bourgeoisie wie eine Schafherde aus dem Felde jagen, wie wir es soeben erlebt haben, dann ist sie auch nichts Besseres wert. Glückliche Reise der hinausgeworfenen Klasse! Es ist ganz gesund, daß die menschliche Gesellschaft gelegentlich von unten nach oben gekehrt wird, und die verschiedenen Klassen gegenseitig ihre Lebensbedingungen kennenlernen.«

Dr. Renault verstummte. Er ärgerte sich, daß er sich hatte hinreißen lassen, seine Meinung zu äußern.

»Tja, was fangen wir nun aber mit unserer Fracht Europäer an, die wir an Bord haben?« meinte Innis nachdenklich. »Wie haben Ihnen übrigens die Japaner gefallen?«

Dr. Renault: »Gut.«

Innis: »Glauben Sie, daß sie an der Reihe sind?«

Dr. Renault: »Lassen Sie uns erst mal die Amerikaner betrachten, wenn wir nach Amerika kommen, vorausgesetzt, daß wir überhaupt dorthin kommen. Ich glaube an die Japaner, weil sie jünger sind, sie sind ein Volk von Kindern. Die ganze Menschheit ist einmal Kind gewesen, und die Japaner sind die Menschheit am Anfang. Andere primitive und halbprimitive Völker, wie zum Beispiel die Neger, werden sich auf einer Seitenlinie entwickeln, falls sie sich überhaupt entwickeln. Das Entwicklungsstadium, in dem sich die Japaner augenblicklich befinden, haben wir auch einmal durchlaufen. Japaner haben Eskimoblut in ihren Adern, Blut des hochbegabtesten Urvolks, das es heutzutage noch gibt. Ein Grönländer wird sich ohne Schwierigkeit in Japan zurechtfinden und umgekehrt. Außer dem Eskimoblut besitzen sie Malaienblut und ein wenig Aino, das man auch in Rußland findet. Die Malaien sind eine vornehme, streitbare Rasse, von ihnen haben die Japaner das Kriegerische. Der Ursprung der Japaner begegnet sich mit dem der Europäer irgendwann in der Nacheiszeit, auf der Stufe, die wir durch die Höhlenfunde in Frankreich kennen. Sie werden vollenden, was wir begonnen haben. Die Entwicklung erneuert sich von unten, wie Sie vorhin richtig bemerkten, hat sich aber ein Volk von unten herauf verbraucht, dann kommt die Erneuerung von außen. Die Natur ist eine harte Mutter. Setzen Sie Ihre Mustersammlung Europäer auf einer öden Insel ab, und sie wird sich auch dort zerfleischen.«

Innis seufzte, wandte sich dem Schreibtisch zu und legte wie in Gedanken einen Briefbeschwerer, einen Würfel aus Onyx, auf ein Buch und darauf eine Zündholzschachtel. Dann richtete er seinen Blick voll auf Dr. Renault und sagte atemlos, in ganz echter Verlegenheit:

»Ich habe Sie rufen lassen, Herr Doktor, um Sie in Ihrer Eigenschaft als Arzt um eine persönliche Gefälligkeit zu bitten. Sie kennen doch Anne Kielstra …«

Dr. Renault nickte und versuchte sich zu fassen.

»Sie behauptet in andern Umständen zu sein«, sagte Innis und sah übernächtig aus. »Es könnte stimmen. Wollen Sie uns behilflich sein?«

Dr. Renault schwieg.

»Wir haben Pech gehabt, eine Niete in der Lotterie. Sie ist verzweifelt, und ich möchte ihr aus der Verlegenheit helfen, zu der ich mein Teil beigetragen habe. Wollen Sie sie untersuchen?«

Dr. Renault schwieg und atmete heftig durch die Nase.

»Der Schiffsarzt, Dr. Dunkirk, ist ja da,« fuhr Innis fort, »aber aus Gründen, die ich Ihnen wohl nicht näher zu erklären brauche, würde ich vorziehen, daß Sie den Eingriff vornehmen.«

Dr. Renault schwieg noch immer.

»Es gefällt Ihnen nicht. Ich sehe Ihnen an, es gefällt Ihnen nicht, daß Anne Kielstra hier an Bord in Schwierigkeiten geraten ist. Nun, ich bin Ihnen keine Erklärung schuldig. Junge Mädchen nehmen heutzutage ihr Schicksal selbst in die Hand. Was kann auch geschehen? Tatsächlich kann jungen Menschen gar nichts geschehen, sie sind viel zu unreif, als daß irgend etwas Eindruck auf sie machen könnte. Vielleicht macht es vierzig Jahre später Eindruck auf sie. Junge Menschen sind wie Spatzen …«

Innis schielender Blick streifte Dr. Renault.

»Ja, junge Menschen sind wie Spatzen. Und geht die Geschichte schief, dann ist es im Grunde nur ein Problem, ob man Bevölkerungszuwachs wünscht oder nicht. Im vorliegenden Fall wird es nicht gewünscht. Sie ist außer sich. Für einen Arzt ist es ja eine Kleinigkeit …«

»Ich kann nicht tun, was Sie von mir verlangen«, sagte Dr. Renault und erhob sich.

»Von Ihnen verlangen –, ich habe Sie um einen Freundschaftsdienst gebeten«, sagte Innis und sein Gesicht verdüsterte sich. »Sie nehmen eine Ausnahmestellung hier an Bord ein, und ich glaubte, man könne sich auf Sie verlassen. Ich darf Sie wohl daran erinnern, daß die Passagiere in einem andern Verhältnis zur Schiffsordnung stehen als früher. Und ich könnte wirklich von Ihnen verlangen, daß Sie sich als Arzt dem Gemeinwohl an Bord zur Verfügung stellen …«

Er zog die Oberlippe hoch, als sei er des Widerstands müde:

»Sie können die Reise nicht untätig mitmachen …«

»Ich habe meine Schiffskarte bezahlt«, erwiderte Dr. Renault kurz. »Wünschen Sie, daß ich das junge Mädchen als Patientin in Behandlung nehme, dann schicken Sie sie mir bitte zur Untersuchung.«

»Soll geschehen.«

Dr. Renault ging.


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