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Schließlich aber hatte die Arethusa das Rote Meer hinter sich. Man war im glühendheißen Aden gewesen, hatte die Bab-el-Mandeb-Straße passiert, Kap Guardafui war achtern wie der letzte Umriß von Afrika und dem Festland verschwunden, man befand sich auf hoher See im Arabischen Meer, und für die Gesellschaft war nun die schönste Zeit der Fahrt angebrochen, ohne daß sich jemand Gedanken darüber machte, wie lange sie währen würde, an ihrer eigenen Länge gemessen, wahrscheinlich eine gute Ewigkeit. Näher konnte man der Vorstellung vom Paradies und einem ungestörten Naturdasein nicht kommen.

Die Wärme war nicht mehr lästig wie im Roten Meer, obgleich das Thermometer noch immer etliche Grad höher stand, als man es zur Hochsommerzeit in Nordeuropa gewöhnt war. Die milde Tropentemperatur erhielt Frische durch das kühle Meer und durch den Nordostmonsun, dem man gleich auf hoher See begegnete und der auf der Fahrt nach Ceylon beständig wie ein Ventilator aus derselben Himmelsrichtung wehte.

Ein Tag war wie der Zwillingsbruder des anderen, von Sonne und Feuchtigkeit wechselweise erquickt. Des Nachts regnete es, tropische Regengüsse prasselten wie ein Brausebad auf den Dampfer herab, man konnte es im Schlaf hören, große Wäsche von oben. Der Tag graute erfrischt, und regelmäßig nach Sonnenaufgang wurde der bewölkte Himmel in musselinartige Wattefetzen zerteilt, mit blauen Zwischenräumen, bis er sich oben wie ein Zelt öffnete, das in der Luft zerging. Den übrigen Teil des Tages schien die Sonne. Das Meer lag wie ein Wellenfeld unter der Brise, auf Wanderung von einer Himmelsgegend zur entgegengesetzten, immer unverändert blau und lichtbrechend, mit einem Purpurschimmer darüber. Man befand sich in der Zone, wo die fliegenden Fische auftauchen, sie sprangen vor dem Bug des Dampfers aus dem Wasser und schwebten wie nasse Aeroplane über den Wellenköpfen, mit Sonnenspiegel auf dem Rücken, bis sie wieder herabplumpsten.

Dieser Flug aus dem einen Element ins andere, heraus und hinein, war charakteristisch für die Unveränderlichkeit hier. So war es von jeher gewesen und so würde es bleiben bis in alle Ewigkeit.

Ein Meer und ein Himmel begegneten sich auf dieser Seite der Erdkugel, Sonne und Regengüsse waren ihre Sendboten, und Seelen aus der Tiefe erhoben sich zu einem kurzen Flug im Licht, bis sie, von der Schwerkraft herabgeholt, wieder Fisch wurden.

Die leichte Tropenbekleidung machte den Aufenthalt an Bord angenehm, das kühle Meerwasser war wie eine Liebkosung, obgleich es so salzig war, daß es die Haut rötete. Einige nahmen nachts auf dem obersten Deck ein Regenbad, und wer dann, wenn er den süßen Geschmack aus den Quellen des Regens auf der Zunge spürte, nicht begriff, daß er ein begnadetes Wesen sei, das Himmel und Meer in ihren Freundschaftsbund aufgenommen hatten, der verdiente nicht, gelebt zu haben.

Die Jugend verbrachte die Tage im Badekostüm wie im Mittelländischen Meer. Die Bekleidung war auf ein Minimum beschränkt, an den Damen sah man den nackten Körper zwischen dem oberen Teil des Badeanzuges, der nur ein Brustband war, und dem unteren, der die Hüften notdürftig bedeckte; der nackte, schlanke Leib gemahnte an Hindugöttinnen. Alle waren braungebrannt wie Südländer, nachdem sie die Haut gewechselt hatten, eine Wandlung, die nicht ohne Brandwunden und Jucken vor sich gegangen war. Schließlich aber hing die alte Haut in Fetzen von den Schulterblättern, und die neue war tabakbraun darunter zum Vorschein gekommen. Nun waren alle gegerbt und konnten ohne Gefahr den Tag abwechselnd in Sonne und Wasser verbringen.

Es gab viele Schattierungen in den Farben. Bei einigen hatte die Haut einen dunklen, fast erdfarbigen Ton bekommen – es war, als sei die Haut dunkler Vorfahren wieder zum Durchbruch gekommen. Andere, deren Haut kein Pigment zu bilden vermochte – sie wehrte sich gleichsam durch einen zarten Bluterguß unter der Haut dagegen –, trugen ein mattes Rosa zur Schau. Zu letzteren gehörte Anne Kielstra. Sie war am ganzen Körper gleichmäßig gebräunt, mit einem rosa-goldenen Schimmer, matte Vergoldung von oben bis unten.

Nie und nirgends war man der Vorstellung eines klassischen Meeres, des Meeres selbst, so nah gewesen wie hier. Niemals war die Mythe von Aphrodite, die dem Meer entsteigt, ihrer Verwirklichung so nah gekommen wie in Anne Kielstras neunzehnjähriger Person. Die Sonnenbräune schien ihrem Antlitz ein dauerndes Erröten zu entlocken, als sei sie soeben erst der Kindheit entwachsen und zum Weib gereift, selbst ganz beschämt, bewegt und glücklich über das Ereignis.

Dr. Renaults Augen wichen nicht von ihr, wenn sie sich sehen ließ. Während die paradiesischen Wochen verstrichen, erstand vor ihm ein Bild ihrer Weiblichkeit, wie es sich aus Zügen, die sie an den Tag legte und Gedanken, die in ihm entstanden, formte.

Sie hatte den Gipfelpunkt weiblicher Blüte erreicht, einer physischen Beseeltheit, von der jede Frau beim Übergang von der Kindheit zur vollen weiblichen Reife geprägt ist. Ein Mysterium trägt sie in sich durch ihre Bestimmung als Weib.

Eine Frau in der Entwicklung ist das seltsamste Geschöpf der Welt. Ein kleines Mädchen, ein Schulmädchen, ist mit seinen runden Formen bereits auf dem Weg zum Geschlecht, unbewußt schlummert seine Bestimmung in ihm. Der kleine Brustkasten ist noch ohne Brüste, dennoch ist sie kein Knabe, ist schon eine kleine Mutter in der Knospe, ausgestattet mit einem eigenen Reiz, langhaarig, mit allerliebsten kleinen Händen. Gibt es in der Natur eine seltsamere Schöpfung als diese Wachstumsstufe auf dem Weg zu einer Art? Dann beginnt sie zu schwellen, bekommt Brüste, mammae, ein bezauberndes Wort voller Zärtlichkeit und Natur, das die Antike uns vererbt hat und in der medizinischen Sprache bewahrt ist. Und mit mammae kommt Unruhe über sie, sie macht sich auf und wandert von einer Welt in die andere. Ausgestattet mit der zweigeteilten Wölbung und seiner Verführung, schreitet sie aus ihrer beschützten Welt in eine andere, wo alle Hände nach ihr greifen und jeder Herzschlag sie danach drängt, ergriffen zu werden.

Auch für unansehnliche Frauen gibt es einen Zeitpunkt im Leben, wo die Natur sie zum Strahlen bringt, wie den Sperling, wenn das Geschlecht zum Durchbruch kommt. Bei schönen, fehlerlosen Frauen aber, den wenigen, die Rasse besitzen, steigert sich die Vollendung der einzelnen und die Norm des Geschlechts zu einem Wunder. Besitzt eine von Natur reich ausgestattete Frau außerdem noch Verstand, Menschlichkeit und Einfachheit, dann verfügt sie über einen Reiz mehr. Je mehr sie darüber erhaben ist, sich selbst zur Schau zu stellen, um so stärker werden ihre Vorzüge als spontaner Ausdruck einer überreichen Natur wirken.

Etwas Ähnliches lag über Anne Kielstras Person, die zugleich von Gesundheit strahlte. Sie stand auf dem Höhepunkt ihrer Jugend, Kraft und Grazie, war soeben erst erblüht, hatte sich dem Licht erschlossen, wie die Königin der Nacht, die in einer Morgenstunde ein Wunder entfaltet und den Raum mit dem Duft einer anderen Welt füllt. Sie war natürlich, mit dämmernder Unbewußtheit in der Seele, offen, ruhte in sich selbst und war nie darauf bedacht, sich Geltung zu verschaffen. Sie besaß jene Gelassenheit, die häufig hochgewachsenen Menschen eigen ist, war gemessen, obgleich sie von Leben schwoll. Sie hatte etwas von einem Mädchen aus dem Volk, aber mit schmalen, verfeinerten Zügen, die von innen heraus belebt waren und Licht auszustrahlen schienen. Sie war teilnahmsvoll, dankbar, mit einem liebreizenden Lächeln für alle, die Anteil an ihr nahmen, aber gänzlich unempfindlich gegen Aufmerksamkeiten, die ihr, oft sogar sehr energisch, von allen Seiten zuteil wurden.

Nicht nur als Sportlerin war sie allen anderen Frauen überlegen – was sie ja durch ein Pferdeherz und unüberwindliche Lungen zur Genüge bewiesen hatte –, auch als Vertreterin ihres Geschlechts, als Frau, war sie wundervoll, blieb sie doch trotz ihrer Kräfte immer dasselbe mädchenhafte, errötende Wesen.

Wie die anderen Damen an Bord trug sie entweder den Schwimmanzug oder sehr lange Strandhosen, als ginge sie auf Stelzen, oder Shorts, kurze, luftige Leinenhosen, die den Ansatz des Schenkels betonen, die seltsame weibliche Fülle, die beiden Zwillingszylinder, die sich in der Karo-Aßförmigen Mittelpartie der Frau treffen. Ihre Schenkel waren fast einen Meter lang, mit schlanken Kurven, blendend wie Säulen.

Der Schenkel einer Frau ist das größte Volumen, das man kennt. Vielleicht ist das Urteil des Mannes befangen, aber er sieht nun einmal in ihnen das größte Volumen der Welt. In der Astronomie spricht man von allen möglichen Größen, die sich gegenseitig zermalmen, Weltenteile, die nebeneinander zu Zwergen werden, die Erde ein Senfkorn im Vergleich zu Beteigeuze, und was der Beispiele mehr sind. Relativitäten. Der Schenkel einer Frau aber ist eine absolute, konstante, erstaunliche Dimension, denn er erweitert deine Gedanken!

Anne Kielstras Schultern waren breiter, und ihre Hüften schlanker, als die der meisten Frauen, die ihren Schwerpunkt unter dem Gürtel tragen. Trotzdem war ihre Gestalt vollkommen weiblich und harmonisch wie die antiker Skulpturen. Der hohe Brustkasten hob die zarte Rundung der Brust mit den halbkugelartigen Auswüchsen zu beiden Seiten, junge, spitze, kaum entwickelte mammae, in deren Form sich die Schwere noch nicht geltend machte. Noch einige Jahre, und sie würden wie üppige, schwere Früchte herabhängen. In wessen Hand würden sie fallen?

Die Brüste einer Frau sind das schönste Gewicht in deiner Hand, wahres Gewicht, jedes andere läßt sich durch schwerere Dinge aufwiegen.

Man ist gewohnt, die weibliche Figur traditionell aufzufassen, als Statue oder im Bild, will man ihr aber vollauf gerecht werden, dann muß man sie in Bewegung sehen. Während Dr. Renault Anne Kielstra und die übrigen jungen Frauen an Bord beobachtete, wenn sie gingen oder Tennis spielten, wurde es ihm klar, daß keine Kunst, weder die antike noch die moderne, es vermocht hatte, die weibliche Physiognomie erschöpfend zu analysieren. Gewisse Eigenschaften der weiblichen Anatomie, zum Beispiel der Ansatz des Beines an der Hüfte, der sich durch Bewegung äußert und einer ihrer größten Reize ist, kann man in Badeorten, nicht aber in der Kunst beobachten.

Eine ganz ungewöhnliche Grazie entfaltete Anne Kielstra, wenn sie ging. Die hohe, schlanke Gestalt mit der geschmeidigen, schön geschwungenen Rückenlinie bewegte sich beim Schreiten in gestrecktem Rhythmus von Kopf bis Fuß, es war wie ein auf das feinste reguliertes Schwingen um mehrere Gleichgewichtspunkte, das in den Schultern begann und an den Fußgelenken endete.

Die Bewegung weckte in Dr. Renault ein Staunen, als sähe er den aufrechten menschlichen Gang zum erstenmal. Er bewunderte das angeborene Gleichgewicht eines Organismus und den der Schwere zum Trotz aufrechtstehenden Körper, der ursprünglich an jedem Ende einen Stützpunkt gehabt hatte, nun aber nur noch an dem einen mit der Erde in Verbindung stand. Eine große gesunde Frau vermochte ihr geschmeidiges Gewicht auf einem schmalen Stützpunkt, ihren Füßen, zu balancieren. Beim Schreiten gingen Schwingungen durch Fußgelenk und Knie, Hüfte und Taille. Die Rückenlinie in der beweglichen Mitte bog sich nach rechts und links, während die Arme gingen, ein Überrest noch von der vierbeinigen Bewegung. Das alles war lebendige Plastik, die jede andere Augenweide übertraf. Eine Frau braucht keine Tänzerin zu sein, um ein Publikum zu entzücken.

Die Frau hat denselben aufrechten Gang wie der Vogel Strauß. Gegensätze begegnen sich in der weiblichen Natur. Nicht alle sind Grazien. Es ist sicher kein Zufall, daß Strauße manchmal auf märchenhafte, aber doch greifbare Art verwandelten Frauen gleichen – tief unten in der Jurazeit besteht ein Zusammenhang zwischen den Geschöpfen. Viele Frauen ähneln Federvieh, wenn sie sich entkleiden, mit gerupften, fleischfarbenen Schenkeln, und manche betonen diese Ähnlichkeit noch, indem sie sich mit Federn schmücken. Ältere Damen pflegen Reiherfedern vorzuziehen. Paradiesvögel können sich nur die Reichsten leisten, man kann ihre Kostbarkeit nach dem Nest, das sie auf dem Kopf tragen, beurteilen. Straußfedern: gangbare Sorte! Fasan: prachtvolle Hühner! Von diesen Sorten gab es an Bord der Arethusa große Auswahl, die mondäne Frau, den Typ, den man in allen Großstädten trifft, mit karminroten Lippen und hennafarbenen Krallen, Beinen, die mit einem Huf enden. Alle Schönheitsmittel wurden angewandt, nur nicht die der Natur. Die verheirateten Frauen waren die schlimmsten, hungrige, gefährliche Vögel, aus ihren Gruppen erklangen Schreie wie aus einem Pfauenkäfig. Falls man in der Natur von Unnatur sprechen kann, so hat die Natur es durch die Weltdame zur äußersten Unnatur gebracht.

Um so schöner strahlten an Bord die schlichten, einfachen Frauen, zu denen Anne Kielstra gehörte, in den Augen derjenigen, die die Wirklichkeit der Fabel vorzogen, Frauen, schlecht und recht, die zwanglos in ihrem Geschlecht und ihrer Menschlichkeit ruhten.

Wie unvollständig war doch die Kunst im Vergleich zu dem lebendigen, reinen Menschen. Wenige nur ahnen, welch Wunder in dem bloßen Phänomen: Ein Mensch! enthalten ist.

Ähnliche Selbstgespräche führte Dr. Renault, während er immer mehr zu der Erkenntnis kam, es sei vielleicht alles ganz schön und richtig, er selbst aber war einsam.


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