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XVI

Dr. Renault konzentrierte sich mit aller Gewalt auf seine Arbeit, während eine Ruhepause im Verlauf der Ereignisse an Bord der Arethusa eingetreten war.

Nach dem Erlebten vermochte er sich nur durch starke, moralische Anspannung aufrechtzuerhalten. Alle Kräfte in ihm, die sich dem Leben zugewandt hatten und denen vom Leben ein Riegel vorgeschoben war, wandten sich einer inneren Aufgabe zu: sich durch Arbeit zu befreien.

Es war ihm unmöglich, Anne Kielstra aus seiner Phantasie zu bannen, trotz allem. Seine Gefühle für sie konnten sich nicht plötzlich dadurch verändern, daß sie unerreichbar für ihn wurde und die Umstände sich geändert hatten, sie lagen in ihm selbst, er mußte versuchen, um sie herumzukommen, mußte mit Verstand leben, wenn er noch weiterleben wollte.

Erkenntnis ist ein bewährtes Mittel gegen Abhängigkeit. Mag Wissen auch nur ein Surrogat für Leben sein, so lief man seinem Schicksal wenigstens nicht blind, dagegen sua sponte in die Arme.

Ein mächtiger Trieb hatte sein ganzes Wesen beherrscht, beherrschte es noch, als sei es der Abdruck eines anderen Wesens geworden, mehr Anne Kielstra als er selbst. Ihr Bild war in ihn eingedrungen, so daß er sie, nur sie suchte. Was war es für eine Naturmacht, wie hing das alles zusammen? Mit den abgenutzten, gangbaren Begriffen wie Geschlechtstrieb, Fortpflanzung konnte man die Dinge nicht erklären, man mußte hinter die Begriffe dringen, nachdem man die Worte ausgerottet hatte.

Wie war es mit zwei Organismen beschaffen, der eine weiblich, der andere männlich, die zueinander drängten? Davon sah man ja mehr als genug, so war das Leben nun einmal. Solange Menschen allein waren, liefen sie wie Toren durcheinander, in einem Zustand der Halbheit, und erst wenn zwei sich gefunden hatten, erfüllten sie ihren Zweck. Die Erfüllung weckte das Schönste und zugleich Niedrigste in ihnen. Das war nun einmal die Bestimmung des Menschen. Wer konnte sich davon befreien?

Tief, tief aus der Natur kommt es, ist der Ursprung selbst, alle Geschöpfe sind damit behaftet, sonst wären sie ja nicht geboren. Es ist eine Naturmacht, die den Elementen, Feuer, Luft und Wasser, ebenbürtig ist, sie äußert sich einseitig, sinnlos, aber alles mit sich reißend. Man ist Augenzeuge, schüttelt den Kopf und wird selbst davon ergriffen wie ein Schiff von einer Stromschnelle.

Du siehst einen Mistkäfer, einen Skarabäus, an einer einsamen Stelle in der Wüste, und während du ihn betrachtest, hörst du plötzlich ein zartes Spielwerk in der Luft, siehst einen anderen Skarabäus auf den Sand herabstürzen, seine Flügel einziehen, wie ein Herr sein Taschentuch in den Frackschoß steckt, und im nächsten Augenblick hat er den anderen gefunden und sich auf Menschenart mit ihm vereinigt. Meilenweit haben sie einander gerochen, es soll geschehen, mit Energie gehen sie aufeinander zu, keiner hat es sie gelehrt, aber sie wissen Bescheid. Die alten Ägypter hielten den Skarabäus heilig, er war das Symbol des Lebens, in ihm verehrten sie das ewige Leben, wie sie im Weizenkorn das Symbol der Frau, ihren Schoß, ehrten. Die Kaurimuschel hat der Phantasie der Menschheit auf primitiver Entwicklungsstufe lange Zeit Nahrung gegeben; sonnengebräunte, einfache Völker in Asien und Afrika sahen in ihr dasselbe wie in einer Frau, den Eingang zum Leben, hier wie dort.

Furchtbar ist der Hengst, wenn er aus dem Stall geführt wird, und die Stute im Hof auf ihn wartet. Mit seinen Hufen schlägt er Feuer aus den Pflastersteinen, seine Augen sind wie Monde, Schaum fliegt ihm vom Maul wie Meeresschaum bei Sturm, er richtet sich zu zweifacher Höhe auf, ruft, verkündet mit Trompetenstößen, daß er kommt! Und würdest du mit Kanonen auf ihn schießen, er ließe sich nicht davon abhalten, zu vollbringen, was vollbracht werden soll. Er würde einen Mann fressen, käme er ihm in den Weg.

Scheue, flüchtige Tiere, die sich sonst verborgen halten, dulden Annäherung, würden lieber in den Tod gehen, als voneinander lassen, wenn die Natur über ihnen ist, gehirnloses Getier, das nicht ahnt, was mit ihm geschieht. Die lebenspendende Gebärde aber ist ihnen allen geläufig, bis hinab zum Wurm. Das ist in sie gelegt durch die ganze Schöpfung vom Anbeginn, sonst wäre sie ja nicht da. Wie aber hat es begonnen?

Man weiß, ein Wesen entsteht aus Ei und Sperma, aus zwei verschiedenen Urzellen, eine männlich, eine weiblich, die ursprünglich ein und dieselbe Zelle waren. Die ersten Wesen waren Einzeller, ohne Geschlechtsunterschied, sie vermehrten sich durch Teilung, brachen mitten durch und waren ihrer zwei, die zu vieren wurden, und so weiter in alle Ewigkeit, ein Pilzleben. Die nächste Stufe war die sogenannte Konjugation, jener wichtige Vorgang, bei dem die Teilung der ersten Zellentiere dadurch frische Kräfte bekam, daß zwei Einzelzellen von neuem in einer Einheit aufgingen, wonach die Teilung wieder lebhafter vor sich ging. Dadurch entstand das Geschlecht, das durch Identität und Unterschied bedingt wurde. Damit die Zellteilung fruchtbar erhalten blieb, mußte sie erneuert werden, und das geschah dadurch, daß zwei Zellen, die sich nach verschiedenen Richtungen verändert hatten, wieder in einer Einheit aufgingen. Flucht vom Stamm und Rückkehr zu ihm kennzeichnen die organische Entwicklung. Nachdem mehrzellige Wesen durch Arbeitsteilung und Zusammenschluß zwischen mehreren entstanden waren, konnten sich neue nur durch Wiedervereinigung der beiden Urzellen, die ihnen zugrunde lagen, bilden. Bei der Geschlechtsspaltung verbargen sie sich in verschiedenen Individuen, und die Individuen mußten sich suchen, damit die Urzellen in ihnen sich wiederfanden. Aus dem Teil, der am intensivsten suchte, entwickelte sich das Männchen, aus dem anderen Teil, das sich suchen ließ, das Weibchen. Auch beim Menschen ist es so. Tief im Organismus stecken die Keime, die sich finden müssen, soll neues Leben entstehen. Damit es vollbracht wird, hat der Geschlechtscharakter sich auf seine Weise entwickelt. Der Organismus hat sich geschlossen, bei dem einen Geschlecht aber ist ein Eingang geblieben, wie ein Hafen, zu dem beim anderen die Fähre paßt, damit die Keime sich erreichen können.

Was aber nützte es Dr. Renault, hinter die Dinge zu dringen, um sein Blut zu kühlen, er war ja bis in die innerste Seele getroffen, jede Zelle in ihm schrie nach dem anderen Teil: Anne, Anne!

Das ordinäre Wort und all die Unsauberkeit, die mit dem Geschlechtsleben in Verbindung steht, die Schlüpfrigkeit, Überhitztheit, die versteckte Pöbelhaftigkeit bis zur rohen Gewalt konnte Dr. Renault mit seiner Kultur in der Sprache vermeiden, nicht aber in seiner Phantasie. In welcher Form immer sich das Geschlechtsleben äußerte, es war elementar, souverän, ein Brand im Fleisch, der zum anderen Geschlecht trieb.

Anne Kielstra war ihm ins Blut gedrungen, wenn auch nur durch ferne Ausstrahlung, und bei näherer Bekanntschaft würde zwischen ihnen nur das eine möglich sein, wie immer man es nennen wollte. Sie aber schenkte ihm keinen Gedanken.

Wenn er an den anderen, den Glücklichen, den Tenor, dachte, stiegen Mordgedanken in ihm auf, ganz primitiver Haß. Er wünschte, er hätte ihn zwischen seinen Fäusten, könnte mit ihm abrechnen, einer von ihnen war zu viel auf der Welt!

So tief sitzen die Triebe im Fleisch, so wenig kann der Mensch aus seiner Natur heraus. Die rein physische Seite teilt er mit allen Tieren, sogar mit der Fliege, keiner ist darüber erhaben. Leben wird durch Libido überliefert, eine Vokabel, Teufelslatein, das nicht sehr angesehen ist. Erniedrigung, Unfreiheit des Willens hängt mit diesem Naturfeuer zusammen, das sein Löschmittel selbst verzehrt, ein Dämon, der sogar im heiligsten Augenblick, wo Leben aus Leben entsteht, das Tier nicht verleugnen kann.

Es mußte doch eine Möglichkeit geben, ihren Ursprung als eine Eigenschaft des Gewebes festzustellen, denn sie beherrschte als Erbanlage die Fortpflanzung aller Kreatur, vom Menschen bis hinab zum einzelligen Tier. Das Geheimnis mußte in der Zelle stecken. Diese Spur verfolgte Dr. Renault in dem animalischen Teil seiner Untersuchungen, während er die psychischen aus seinem eigenen Erfahrungskreis schöpfte. Mit seinen Memoiren war er schon ein gutes Stück weitergekommen.

Die Erforschung der Zellen erforderte Laboratoriumsarbeit, Mikroskopie, physikalische und chemische Versuche, die er an Bord nicht vornehmen konnte, die Richtung aber konnte er immerhin angeben. Die Spur war an und für sich naheliegend, verflüchtigte sich aber, sobald man sie zu fassen versuchte. Sie geht aus von einem bekannten, wenig beachteten Gefühl, das man Jucken nennt, dem Kitzel verwandt; hier findet sich höchstwahrscheinlich das Element des akkumulierten Affekts, der zur Fortpflanzung führt und bei allen Geschöpfen, den Menschen inbegriffen, zum Motiv selbst geworden ist.

Dieser ursächliche Zusammenhang ist erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit bekannt, es gibt sogar wilde Völker, die ihn heute noch nicht kennen. Und wie viele von denen, die ihn kennen, nehmen Rücksicht darauf? Technisch spricht man von Orgasmus, eine offizielle Vokabel, die in ihrem Klang etwas Aufreizendes, Blutiges enthält, wie ein heidnisches Opfer, ein Mysterium, rohe Untat und gleichzeitig ein Sakrament, das jeder geheimhält, falls es nicht, wie die Geschichte von Aphrodite und Ares, mit homerischem Gelächter ausposaunt wird.

Die organischen Ströme laufen durch die Nervenbahnen, ihre Natur ist noch nicht endgültig erforscht, wahrscheinlich sind sie mit Elektrizität und ähnlichen Dingen, Ladung und Kraftwirkung verwandt, ein Leitungsnetz mit einer Zentrale, sehr kompliziert, dem aber einfache Gesetze zugrunde liegen. Der anspruchsvolle Begriff Orgasmus ist wahrscheinlich auf einen Vorgang zurückzuführen, bei dem ein Strom, eine Entladung, ein Kurzschluß einen Vorgang im Gewebe bewirkt, das unserem Bewußtsein durch Jucken mitgeteilt wird. Dieser akkumulierende, abschließende Vorgang, verbunden mit Spasmen und einem momentanen Lustgefühl, ist in harmloser Form als Niesen bekannt.

Jucken ist eine Botschaft aus den Zellen, das hier und dort von selbst in den Zellen entsteht, wie Sternschnuppen am Himmel. Oder es wird durch Außenreiz bewirkt, der den Prozeß in Gang setzt, den wir als Jucken empfinden. Wunden, die heilen, jucken heftig, weil dabei eine größere Zellenbildung stattfindet. War das vielleicht ein Fingerzeig? Macht die Tätigkeit des Wachstums, die Zellenbildung, sich innerlich wie eine Süße, wie Feuer im Fleisch, bemerkbar? Ist das Lebensgefühl der Urzelle, während sie wächst und sich teilt, das erste und tiefste Geheimnis des Lebens und Wachstums?

Jucken mag eine chemische Veränderung im Gewebe sein, in Verbindung mit einem Strom, Reaktionen, die vielleicht nachgewiesen werden können. Den Ursprung aber kann man nur erraten. Vielleicht war es ursprünglich eine Einwirkung der Sonne auf das Plasma; eine Ausstrahlung, Sonnenkraft, hatte den Keim getroffen, er hatte begonnen zu schwellen, zu wachsen und mußte sich schließlich teilen. Seitdem war für immer Süße und Feuer im Gewebe geblieben, das bei jeder Vermehrung wiederaufflammt. Ein Funke nur in der Zelle, ein Feuer aber im ganzen Organismus, und eine Entladung aller Zellen in einem zusammengesetzten, hochentwickelten Geschöpf. Hierauf ließ sich, physisch gesehen, die Naturmacht, der alle unterworfen sind, zurückführen.

Die Ursache eines Gefühls läßt sich experimentell nachweisen, nicht aber die innere Wirkung, denn sie kann nur durch Gedanken erfaßt werden. Die seelische Seite eines Erlebnisses äußert sich auf verschiedenen Stufen in verschiedenen Dimensionen. Durch seine Memoiren wollte Dr. Renault beweisen, wie sich das Geschlechtsleben in den verschiedenen Altern eines Individuums äußert, eine Spiegelung gleichzeitig der Entwicklung der ganzen Menschheit.

Darüber war er sich klar, mit dem Grad der Gefühlsfähigkeit zu Anfang und gegen Ende des Lebens verhielt es sich gerade umgekehrt wie man annahm. Die Auffassung war ja allgemein, daß man in der Jugend nur aus Gefühl und Nerv besteht, im Besitz frischer Gewebe, während man im Alter abgestumpft und ausgelöscht ist. Es verhält sich aber gerade umgekehrt. Das Alter ist die letzte Stufe und die höchste Kapazität, sie enthält alles, was die Menschheit in sich aufgespeichert hat, die Jugend aber durchläuft die frühen Stufen, die von der primitiven Entwicklung vergangener Zeiten geprägt sind.

Aber das Leben in seinem vollen Umfang wird ja nicht einem reifen Menschen in die Hand gegeben, der das Leben hinter sich hat, es wird der Jugend überantwortet, die erst am Anfang steht und noch nicht Seele genug besitzt, um es zu erfassen.

In dieser Situation war Dr. Renault. Und nun erst verstand er die Dichtung vom Don Quichotte. Sie handelte vom Alter. Als Cervantes das Buch schrieb, hatte er das Leben hinter sich. Man mußte selbst alt sein, um das Werk ganz zu verstehen. Das alte, ewig junge Buch hatte viele Auslegungen gefunden, die Ironisierung des Helden selbst aber, des Ritters von der traurigen Gestalt, war die Geschichte des alten Mannes, die endliche Bereitwilligkeit und die Absage, die er vom Leben bekommt. In Dulcinea sieht er die Auserwählte seines Herzens, das weibliche Ideal. Für Sancho Pansa ist sie nur ein Bauernmädchen, was sie in Wirklichkeit auch ist. Sancho Pansa ist die Jugend, der es an nichts fehlt, und die Windmühlen, gegen die der Ritter von der traurigen Gestalt vergebens kämpft, sind die Jahre. Ach ja, wenn man sich mit Mühe Erfahrung und Einsicht erworben hat, Voraussetzung für Empfindungsfähigkeit, dann schlägt das Leben einem die Tür vor der Nase zu. Als man jung und plump war, hatte man darauf herumgetrampelt. Zwei Stadien sind im Don Quichotte geschildert.

Das war Dr. Renaults Situation und seine Strafe, daß er das Leben von vorn beginnen wollte, als er am Ende angelangt war, wie der Ritter mit dem langen Gesicht. Das Leben hatte ihn zurückgestoßen und sich an die Jugend verschenkt.

Er war naiv gewesen, hatte geglaubt, wenn man verliebt ist, wäre alles schön und gut. Er hatte sich nicht an dem andern Teil vergriffen, im Gegenteil, sein Instinkt hatte ihm gesagt, was ihm von der andern Seite zukommen sollte, das mußte ihm freiwillig gegeben werden. Er war Spielball einer Illusion gewesen und hatte die Stärke des Eindrucks, den man von einem geliebten Menschen empfängt, mit dem Eindruck verwechselt, den man selbst auf den andern macht.

Die weibliche Anziehungskraft, die von Anne Kielstra ausging, war von unerklärlicher, magischer Macht, für die er in jungen Jahren keinen Sinn gehabt hatte, es war eine Radioaktivität, die von weitem wirkte. Ohne daß sie es selbst wußte, hatte sie Libido in der Haut, in den Händen, in ihrem Lächeln, Süße ging von ihren unbewußten neunzehn Jahren aus. Was konnte durch die Asche in seinen Adern von ihm zu ihr strömen?

Das eine war ihm klar, das Leben konnte nur noch einmal für ihn blühen, falls sie sich aus eigenem Antrieb ihm zuneigte. Darauf wollte er warten. Überlegte er mit kühlem Kopf, dann mußte er sich sagen, daß sie nicht durch den leisesten Zug, nicht durch die geringste Andeutung verraten hatte, daß er in ihren Gedanken lebte. Nun ging sie also den Weg der Jugend, ihrer Gefühllosigkeit und ihren Schrecken entgegen. Wie konnte sie sich nur diesem Serge in die Arme werfen!

Jugend und Alter sind getrennte Welten, sogar innerhalb ein und desselben Individuums! Vielleicht weiß das Alter etwas von der Jugend, die Jugend aber weiß nichts vom Alter, und legte auch keinen Wert darauf, etwas davon zu erfahren.

Indem er die Dinge wieder und wieder durchdachte, versuchte Dr. Renault seine verlorene Gemütsruhe zurückzugewinnen, mußte aber die Zähne aufeinanderbeißen wie ein Pferd, das den Wagen zieht, mit dem Zaum zwischen den Zähnen.


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