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XXII.
Mick trifft Maddick.

Nach der Dunkelheit im Hause konnte Mick im Freien Dinge erkennen, die ihm unter gewöhnlichen Umständen unsichtbar geblieben wären. Es regnete, und er hörte, wie das Wasser vom Dach durch die Abfallröhre herunterströmte. Welchen Weg mochte Maddick eingeschlagen haben? Das war die Frage.

Mick lief durch den Garten und über die verschiedenen sich kreuzenden Wege; er suchte hinter Büschen und in den verlassenen Sommerlauben, konnte aber keine Spur von Maddick finden. Als eine Uhr in der Nähe acht schlug, stand er vor der Umzäunung, die den Garten von der Pferdekoppel trennte. Zum Teufel, was hatte sich in der letzten halben Stunde alles ereignet!

Er kletterte über den Zaun und lief in die Pferdekoppel, aber dann sah er, daß hohe Bäume vor ihm auftauchten, und erinnerte sich daran, daß die Beamten von Scotland Yard dort Wache halten würden. Um diesen Teil brauchte er sich nicht zu kümmern, denn dort konnte Maddick nicht entkommen. Auch die Vorderseite des Hauses war gut bewacht. Aber irgendwo zwischen dem Haus und den Bäumen mußte Maddick sich versteckt haben. Und Mick wollte ihn finden! Er drehte sofort um und eilte nach dem Garten zurück.

Währenddessen überlegte er schnell. In der kurzen Zeit konnte Maddick das Gehölz nicht erreicht haben, und auf keinen Fall würde er versuchen, auf der Vorderseite des Hauses zu fliehen, denn er mußte wissen, daß es dort gefährlich für ihn war. Nur eine Möglichkeit blieb übrig. Er mußte in einem der Nebengebäude sich aufhalten oder im Garten sich versteckt haben.

Mick sagte sich, daß er jetzt keine Gefahr mehr scheuen durfte. Er knipste also die Lampe an und leuchtete vor sich her. Vom Eingang her hörte er Motorengeräusch. Die Beamten von Scotland Yard waren gekommen!

Mick durchsuchte die Nebengebäude sorgfältig, fand aber alle vier leer. Enttäuscht ging er auf einem Seitenweg wieder auf die Pferdekoppel zu. Aber plötzlich blieb er stehen.

In der Ecke des Gartens tauchte ein kleines, zweistöckiges Haus vor ihm auf, in dem allem Anschein nach der Gärtner gewohnt hatte. An und für sich war nichts Besonderes daran.

Aber Mick hatte für den Bruchteil einer Sekunde in einem der unteren Fenster einen Lichtschimmer gesehen. Zuerst glaubte er, es wäre der Widerschein seiner Taschenlampe gewesen, aber es war nur das Fenster selbst erleuchtet, die Mauer dagegen nicht von dem Licht getroffen worden. Das konnte nur eins bedeuten: Das Licht war im Innern des Hauses aufgeblitzt.

Cardby drehte die Taschenlampe aus und steckte sie ein. Dann untersuchte er seine eigene Pistole und vergewisserte sich, daß sie in Ordnung war. Er verließ den Weg und ging auf einem langen Blumenbeet entlang. Alle paar Schritte mußte er einem Busch ausweichen, aber unentwegt beobachtete er die Fenster. Er sah jedoch keinen weiteren Lichtschein. Trotzdem konnte das kurze Aufleuchten keine Einbildung gewesen sein.

Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen. Der Mond trat hinter einer dunklen Wolke hervor und übergoß den Garten mit seinem Silberlicht. Nun konnte Mick das kleine Haus deutlich sehen. Seit Jahren war es nicht benützt worden – das zeigte sich auf den ersten Blick. In keinem Fenster waren die Scheiben ganz. Moos überzog den Putz an den Mauern, und einige Dachziegel fehlten. Selbst die Haustür hing wie betrunken nur noch an einer Angel. Hinter dem Gebäude erhob sich eine Baumgruppe, die sich scharf von dem schwarzblauen Himmel abzeichnete.

Mick blieb stehen und betrachtete das Haus einige Zeit, bevor er näher heranging. Sonderbarerweise dachte er nicht daran zu warten, bis Hilfe kam. Seitdem er den Keller verlassen hatte, beherrschte ihn nur der eine Gedanke, Maddick zu finden. Es schien sich jetzt nur noch um eine persönliche Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Verbrecher zu handeln.

In kurzer Entfernung von dem Hause trat er wieder auf den Weg. Hinter sich hörte er Rufe und Stimmen, aber im Innern des kleinen Gebäudes war alles ruhig.

Er trat vor und drückte mit der Hand gegen die Tür. Sie bewegte sich nach innen. Da die untere Angel durch Rost zerstört war, schloß sie sich wieder. Als er zum zweitenmal dagegen drückte, drängte er sich in den Flur. Dabei stolperte er über einen Gegenstand, der am Boden lag, und stürzte nieder.

Die Pistole glitt aus seiner Hand; er hörte, wie sie über den Fußboden hinrutschte. Er stützte sich mit den Händen auf die Steinplatten und hob den Kopf. In dem Augenblick hörte er ein Geräusch hinter sich und rollte zur Seite, aber es war zu spät.

Er spürte einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf. Sterne tanzten und sprühten vor seinen Augen, dann hatte er das Gefühl, zu fallen, immer tiefer zu fallen …

Ein roter Schleier bewegte sich vor seinen Augen. Langsam hob Mick den Kopf, empfand aber einen stechenden Schmerz und hatte die Vorstellung, daß sein Kopf zu schwer war, als daß die Halsmuskeln ihn aufrichten konnten. Auch mit Brechreiz hatte er zu kämpfen. Er drehte sich auf die Seite und versuchte, die Arme zu bewegen, aber das gelang ihm nicht. Allem Anschein nach waren sie gebrochen. Er bewegte die Handgelenke – nein, er hatte nicht recht. Seine Arme waren festgebunden. Nur ganz langsam und allmählich konnte er wieder zusammenhängend denken. Da sein rechtes Bein schmerzte, wollte, er es in eine bessere Lage bringen. Aber nun merkte er, daß auch seine Beine gefesselt waren. Die geringste Anstrengung trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er bemühte sich, nachzudenken. Was war nur geschehen? Was hatte er getan? Hatte Delaney ihn niedergeschlagen? Was war im Keller vorgegangen?

Plötzlich kehrte die Erinnerung zurück. Es fiel ihm ein, daß er in das Gärtnerhaus gegangen und dort gestürzt war. Maddick hatte ihm dann von hinten einen Schlag versetzt. Wo mochte der Mann jetzt sein?

Mick wollte die Augen erst öffnen, wenn er noch etwas mehr nachgedacht hatte. Es war besser, noch eine Weile so zu tun, als ob er bewußtlos wäre. Sicher würde sein Vater bald auftauchen. Die Gärtnerwohnung lag nicht mehr als fünfzig Meter von dem Haupthaus entfernt, und jede Minute mußten die Beamten kommen, die nach ihm suchten. Es hämmerte in seinem Schädel.

Plötzlich hörte er dicht neben sich eine Bewegung und fühlte einen heftigen Schmerz im Bein. Er blinzelte.

»Machen Sie ruhig die Augen auf«, sagte jemand. »Verstellen Sie sich nicht – Sie sind bei Bewußtsein.«

Mick sah ein, daß weitere Täuschung keinen Zweck hatte. Nur mit Mühe konnte er die Lider öffnen.

Vor ihm stand Mr. Conway Addison, der Anwalt!

»Gestatten Sie«, sagte er und verneigte sich, »daß ich Ihnen Maddick vorstelle.«

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, erwiderte Mick. Wenn das Ende gekommen war, hatte es keinen Sinn zu jammern.

»Sie sind ein etwas ungestümer junger Mann.« Maddick sprach so gleichgültig, als ob es sich darum handelte, einen kleinen Jungen zu tadeln.

»Und Sie sind ein törichter alter Mann, wenn Sie glauben, Ihr falsches Spiel für immer fortzusetzen können.«

Als Addison nicht antwortete, sah Mick sich um und staunte. Der Raum maß ungefähr vier Meter im Quadrat. Seidene Draperien hingen an den Wänden, und das Licht der elektrischen Lampe, die von der Decke herunterhing, wurde durch eine Alabasterschale gedämpft. In einer Ecke glühte ein elektrischer Ofen, in einer anderen stand eine mit Plüsch bezogene Couch, und ein dicker chinesischer Teppich bedeckte den Boden. Vor dem Kamin stand ein Armsessel, und Mick bemerkte auch zwei Bücherschränke.

Maddick sah die Überraschung seines Gefangenen und lächelte nachsichtig.

»Strengen Sie sich nicht zu sehr mit Nachdenken an. Ich werde Ihnen sagen, wo Sie sind. Dieser Raum liegt unter dem Gärtnerhaus. Ich habe ihn mir vor mehreren Wochen einrichten lassen. Ganz gemütlich – meinen Sie nicht auch?«

»Ja, sehr. Wie lange wollen Sie sich denn hier aufhalten?«

»Nur ein paar Tage, bis es wieder sicher ist. Sie verstehen natürlich, daß Sie zurückbleiben müssen, wenn ich von hier fortgehe?«

»Selbstverständlich. Mir wäre der Gedanke auch wirklich unangenehm, wenn Sie sich die Mühe machen wollten, mich als Extragepäck mitzunehmen.«

»Ganz meine Ansicht. Ich sehe, daß wir uns durchaus nicht feindlich gesinnt sind, und so kann ich Ihnen ja jetzt auch ein Geheimnis anvertrauen. Sehen Sie den Zylinder, der dort auf dem Bücherschrank steht? Der ist mit Kohlendioxyd gefüllt. Bevor ich von hier fortgehe, öffne ich den Hahn. Der Raum hier ist nahezu luftdicht und auch schallsicher.«

»Warum machen Sie nicht jetzt gleich Schluß mit mir?«

»Aus zwei Gründen. Erstens möchte ich jemand haben, mit dem ich sprechen kann, zweitens wäre es mir nicht lieb, einen Toten im Zimmer liegen zu haben, solange ich mich hier aufhalte. Ich habe durchaus nicht viel für Sie übrig, ich unterlasse es nur meinetwegen.«

Eine Zeitlang schwiegen beide. Addison steckte sich eine Zigarette an und setze sich auf eine Sessellehne. Er hatte sich umgezogen und trug jetzt einen gutgeschnittenen Smoking. In dieser Umgebung und in dem anderen Anzug sah er jünger aus.

»Sie sind ein einzigartiger Optimist«, sagte Mick. »Wie wollen Sie denn aus dem Lande kommen?«

»Warum sollte ich denn außer Landes gehen?«

»Weil ich nicht der einzige bin, der weiß, wer Maddick ist.«

»Sie lügen. Wer sollte es denn sonst noch wissen?«

»Ich möchte Sie nicht mit einer ganzen Reihe von Namen langweilen. Auf jeden Fall Polizeidirektor Croß, Chefinspektor Cardby, Chefinspektor Hall und noch mehrere Beamte von Scotland Yard.«

»Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Ist auch nicht nötig. Noch eine andere unangenehme Erfahrung werden Sie machen: Sie haben keinen Vorteil von dem Raub, den Sie heute morgen ausführen ließen, denn die Polizei hat die Juwelen bereits in dem Lagerhaus gefunden. Ist das nicht schade?«

Addison rauchte ruhig weiter und beobachtete, wie die feinen Wolken zur Decke aufstiegen.

»Sie waren viel zu jung für die Durchführung der Aufgabe, die man Ihnen zugedacht hatte – viel zu jung. Das war geradeso, als ob man einen dreijährigen Jungen zu einem Stierkampf in die Arena geschickt hätte. Die anderen hätten doch wissen sollen, daß Sie nicht die geringste Aussicht auf Erfolg hatten.«

»Warum sagen Sie das? Sie haben doch noch lange nicht gewonnen, weil Sie leben und ich sterben werde? Ihre Bande ist aufgeflogen, Sie haben kein Geld, Sie können weder in Ihre Wohnung noch in Ihr Büro zurückkehren, und bis jetzt hat die Polizei Clason, Delaney, Clancy, Mariel, Andy, Tommy Kane, Ihre Leute in dem Lagerhaus, Taxi Long und mehrere andere Ihrer Helfershelfer verhaftet. Wenn Sie mit dem Leben davonkommen, was ich stark bezweifle, müssen Sie sich bis zu Ihrem Tode dauernd vor der Polizei verstecken. Überlegen Sie sich das einmal, Addison.«

»Das habe ich mir längst alles überlegt. Sie haben mich in viele Unannehmlichkeiten gebracht. Da wir uns jetzt so friedfertig und freundlich miteinander unterhalten, könnten Sie mir übrigens auch Ihren Namen nennen.«

»Gewiß – ich bin Michael Cardby, der Sohn des Chefinspektors.«

»Sehen Sie einmal an! Deshalb glaubte also Collier, daß er Sie kennte? Wirklich traurig, daß Sie sterben müssen! Aus Ihnen wäre ein guter Polizeibeamter geworden.«

»Und mir kam gerade der Gedanke, daß Sie einst ein tüchtiger Rechtsanwalt waren. Was hat Sie denn zum Verbrecher gemacht?«

»Das ist eine lange Geschichte, mein Junge, die Sie wahrscheinlich ermüden würde.«

»Das glaube ich nicht. Auf jeden Fall müssen wir uns doch irgendwie die Zeit vertreiben. Aber bevor Sie anfangen, tun Sie mir doch den Gefallen und stecken Sie eins von den Kissen auf der Couch unter meinen Kopf. Die Beule schmerzt.«

»Gerne. Der Schlag, den ich Ihnen versetzte, war ziemlich heftig. Im ersten Augenblick dachte ich schon, Sie wären tot. Sie sind ordentlich hingestürzt, als Sie über den Holzklotz an der Tür stolperten. Heben Sie den Kopf etwas – ist es so gut?«

»Ja, danke. Nun können Sie mit Ihrer Geschichte beginnen. Wir haben ja genug Zeit. Würden Sie mir vielleicht auch noch eine Zigarette geben?«

»Gewiß.«

Die beiden behandelten einander mit ironischer Höflichkeit.

»Wenn ich zu weit abschweifen sollte, müssen Sie mich darauf aufmerksam machen. Ich kann Ihnen ruhig alles sagen. Aber wieder tue ich das nur zu meiner eigenen Genugtuung und Befriedigung, nicht Ihretwegen. Noch nie habe ich einem Menschen meine Lebensgeschichte erzählt, und es ist mir jetzt gerade angenehm, wenn ich ein wenig reden kann. Außerdem macht es mir Vergnügen, Ihnen alles mitzuteilen, was Sie erfahren wollten, denn ich weiß, daß Sie bei jedem Satz, den ich spreche, unendlich bedauern werden, daß Sie die Geschichte nicht weitererzählen können. Das ist auch eine Art Rache. Also, machen Sie es sich bequem.«

»Danke. Ich fühle mich so weit ganz wohl.«


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