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X.
Es ereignet sich allerhand.

Cardby erreichte als erster den Fuß der drei Stufen, die zu dem Gang hinaufführten. Nahezu eine volle Minute blieb er allein. Die Gäste in dem großen Saal versuchten noch, sich zu orientieren. Der plötzliche Übergang von Helligkeit zu undurchdringlicher Finsternis hatte sie hilflos gemacht wie kleine Kinder. Vom anderen Ende des Ganges ertönte ein Schluchzen.

»Lassen Sie mich los, verdammt noch einmal!« rief jemand. Im Saal schrie eine Frau hysterisch auf. Das war das Signal für einen allgemeinen nervösen Ausbruch.

»Sie ist ohnmächtig geworden – es soll doch jemand Wasser bringen!« rief ein Mann laut.

Der Optimist konnte aber auch nicht sagen, woher man das Wasser nehmen sollte. Noch kam niemand in die Nähe der Stufen. Dann sprach plötzlich jemand laut und scharf:

»Behalten Sie doch die Fassung – es ist nichts geschehen. Die Hauptsicherung ist durchgebrannt – in einer Minute wird es wieder hell sein.«

Gleich darauf stieß jemand, der die Stufen hinaufgehen wollte, an Mick an. Cardby streckte die Hände aus und fühlte den Rock eines Mannes.

»Bleiben Sie doch einen Augenblick, wo Sie sind«, sagte er freundlich. »Das Licht wird gleich wieder brennen. Am besten ist es, wenn Sie sich nicht bewegen, sonst könnten Sie noch jemand verletzen.«

»Zum Kuckuck, was ist denn hier geschehen?« fragte der andere, der sich aus Micks Griff freimachen wollte.

»Seien Sie doch vernünftig. Geben Sie den Damen ein gutes Beispiel. Sie rennen ja nur andere über den Haufen, wenn Sie im Dunkeln umhertoben.«

»Aber ich brauche Wasser – meine Frau ist ohnmächtig geworden.«

»Dann müssen Sie auf die andere Seite des Saales gehen, dort werden Sie sicher etwas finden. Halten Sie sich in der Nähe der Wand, dann stoßen Sie mit niemand zusammen.«

Kurz darauf stieß jemand Mick in den Rücken, so daß er zu Boden stürzte. Der andere fiel auf ihn.

Cardby richtete sich auf und packte ihn.

»Zum Donnerwetter, was für einen Unsinn machen Sie denn?«

»Wer hat so laut im Gang geschrien?« keuchte der Mann, dem Mick das Knie auf die Brust gesetzt hatte. »Ich hörte, daß da draußen eine Frau schrie.«

»Ich weiß es. Hier drinnen haben sie auch aufgekreischt. Es ist weiter nichts geschehen, als daß die Hauptsicherung durchgebrannt ist. Sie machen die Sache nicht besser, wenn Sie den Kopf verlieren und hier herumgeistern. Gehen Sie in den Saal zurück und sehen Sie zu, daß Sie die Frauen beruhigen. Wenn das so weitergeht, gibt es noch eine Panik. Dann stürzen alle zum Ausgang, und viele werden verletzt werden.«

Cardby ließ den Mann los.

»Mein Halsband ist gestohlen!« schrie Lady Mead.

»Was sagst du da?« brüllte ihr Mann. In diesem Moment vergaß er plötzlich alle Bildung und dachte nur an den ungeheuren Verlust.

Zwei Leute versuchten die Stufen hinaufzueilen, aber Mick hielt sie zurück.

»Warten Sie doch, bis das Licht wieder brennt. Sind Sie denn wirklich so hirnverbrannt? Sehen Sie nicht, daß Sie durch Ihr Verhalten alles nur noch schlimmer machen? Gehen Sie doch und beruhigen Sie die anderen.«

Kaum eine Minute später eilte wieder eine Gestalt an ihm vorüber. Er streckte den Arm aus, um sie zurückzuziehen, und faßte einen nackten Arm. Es war eine Frau!

»Schon gut, Madame«, sagte er leise. »Erschrecken Sie nur nicht.«

»Ich bin nicht aufgeregt, danke. Ich wollte nur einmal sehen, was in dem Gang vor sich geht. Lassen Sie mich bitte los.«

Die Stimme klang ruhig. Cardby war in einer schwierigen Lage. Er konnte nicht behaupten, daß nichts geschehen war, er konnte sie auch nicht mit Gewalt zurückhalten. Ebensowenig hatte es Zweck zu sagen, daß sie sich beruhigen sollte, denn sie war offenbar ganz gefaßt.

Aber das Problem wurde unerwartet für ihn gelöst. Die Lampen flammten wieder auf. Kurze Zeit waren alle geblendet. In dem Augenblick trat Mick von den Treppenstufen zurück. Als er wieder deutlich sehen konnte, wandte er sich nach dem Gang um.

Auf der ersten Stufe stand eine junge Dame von neunzehn oder zwanzig Jahren und sah Mick mit ihren blauen Augen unentwegt an. Er lächelte, aber sie reagierte nicht darauf. Die hübschen Züge des jungen Mädchens blieben hart und energisch. Der kleine Mund hatte einen entschlossenen Ausdruck, der allerdings durch die Grübchen auf beiden Seiten gemildert wurde.

Cardby eilte auf die Stufen zu.

»Entschuldigen Sie«, sagte er zu ihr, als er an ihr vorübereilte. Sie folgte ihm, bis er neben Lord und Lady Mead stand.

»Habe ich recht gehört, daß Sie etwas verloren haben?« fragte er höflich.

»Ja«, erwiderte der Lord. »Das Brillantenhalsband meiner Frau wurde gestohlen.«

»Wie ist denn das geschehen?«

»Ich kann es wirklich nicht sagen. Als das Licht ausging, hat mir jemand von hinten die Hände festgehalten, und im selben Augenblick hat jemand meiner Frau das Schmuckstück vom Hals gerissen.«

Viele Gäste strömten jetzt aus dem Empfangssaal in den Gang. Alle waren aufgeregt. Mick tat einen entscheidenden Schritt. Es beunruhigte ihn, daß die junge Dame ihn dauernd beobachtete.

»Jemand muß durch das Fenster eingestiegen sein«, sagte er plötzlich und zeigte auf die Stelle hinter Lady Mead. Das Fenster stand halb offen, ebenso das hinter dem Gastgeber. »Und dort muß der Mann gestanden haben, der Ihnen die Hände festhielt.«

Die Gäste starrten auf die beiden Fenster, aber das junge Mädchen ließ Mick nicht aus den Augen. Er fühlte, daß bald Fragen an ihn gestellt würden, und wollte dem zuvorkommen.

»So muß das Verbrechen ausgeführt sein«, fuhr er fort. »Es kann niemand von den Gästen gewesen sein, die sich im Empfangssaal aufhielten, darauf kann ich einen Eid leisten. Im selben Augenblick, als ich Ihren Schrei hörte, Lady Mead, und als Sie riefen, daß Ihnen der Schmuck gestohlen worden sei, eilte ich an die Tür zum Gang und ließ niemand hinausgehen, bis das Licht wieder aufflammte. Zwei oder drei versuchten an mir vorbeizukommen. Sie sagten, sie wollten helfen, aber ich habe sie nicht hinausgelassen. Ich hielt es für sicherer, daß die Leute blieben, wo sie waren.«

»Das stimmt«, sagte einer der Herren. »Ich wollte an ihm vorbei, konnte aber nicht mehr in den Gang kommen.«

»Ich bin davon überzeugt, daß Sie Ihr Bestes taten«, entgegnete Lady Mead. »Aber nun müssen wir vor allem die Polizei rufen.«

In diesem Augenblick erschien ein Diener im Gang.

»Mylord«, sagte er, »die Sicherung ist absichtlich herausgenommen worden. Jemand ist unten an der Schalttafel gewesen. Es war kein Kurzschluß durch Zufall.«

Wieder wurden die Gäste unruhig. Niemand schien zu wissen, was er tun sollte. Nur Mick war sich darüber klar, was er vorhatte. Am liebsten wäre er sofort zur Garderobe geeilt, hätte Hut, Mantel und Schal genommen und das Haus verlassen. Aber das war unmöglich. So oft er von Lord und Lady Mead fortsah, begegnete er dem Blick des jungen Mädchens. Sie jedenfalls glaubte ihm kein Wort.

»Entschuldigen Sie«, sagte Cardby, »Ich muß mich jetzt einmal nach meiner Frau umsehen.«

Die Gäste machten ihm Platz, als er zum Empfangssaal zurückging. Viele konnten nicht in den Gang kommen und standen in kleinen Gruppen umher.

Aber Eleanora war verschwunden!

»Zum Donnerwetter«, sagte Mick zu sich selbst, »nun muß ich machen, daß ich fortkomme!«

Er überlegte sich, wie er entwischen könnte, und wandte sich wieder um. Wenn er Mantel und Hut holen wollte, mußte er sich wieder durch die Menge in dem Gang winden und in aller Gegenwart das Haus verlassen. Er schaute auf und sah, daß die junge Dame auf der obersten Stufe stand und ihn genau beobachtete.

»Wenn die auf mich aufpaßt«, dachte er, »komme ich ohne Handschellen nicht aus dem Haus.«

»Haben Sie Ihre Frau gefunden?« fragte sie.

»Nein, im Augenblick kann ich sie nicht sehen. Sie scheint verschwunden zu sein.«

»Sie haben recht«, erwiderte sie und musterte ihn scharf. »Sie ist verschwunden. Als das Licht wieder anging, verschwand sie durch den anderen Ausgang des Saales. Es ist ein eigenartiges Benehmen für einen Gast, das Haus zu verlassen, ohne sich von den Gastgebern zu verabschieden. Ebenso merkwürdig ist es, wenn man sich bei einem Empfang durch die Räume der Dienerschaft entfernt.«

»Meine Frau ist exzentrisch genug, um so etwas zu tun«, erklärte Mick.

»Ist sie in dem Maße exzentrisch, daß sie ihren Mann alleinläßt und fortgeht, ohne ihm ihre Absicht mitzuteilen?«

»Auch das bringt sie fertig.«

»Ich hoffe nur, daß sie nicht mehr mitgenommen hat, als sie bei ihrer Ankunft bei sich hatte«, sagte die junge Dame schneidend.

»Ich bin davon überzeugt, daß sie etwas mitgenommen hat.«

»Dasselbe denke ich auch. Wenigstens sind Sie ehrlich.«

»Warum sollte ich das nicht sein? Natürlich ist meine Frau mit etwas fortgegangen, was sie bei ihrer Ankunft hier noch nicht besaß, nämlich mit der Überzeugung, daß die Gäste heute abend zu uninteressant sind, um sie zu fesseln. Sie hat den Mut, nach ihrer Überzeugung zu handeln, und so tat sie das, was viele andere auch gern getan hätten, aber nicht wagten: sie hat das Haus verlassen.«

»Eine höchst ungewöhnliche Frau. Schätzt sie Diamanten?«

Cardby starrte sie an. Die Linien um ihren Mund verhärteten sich.

»Wenn Sie hier einen Witz machen wollten, dann ist Ihnen das nicht gelungen. Wenn Ihre Worte aber beleidigend sein sollten, so haben Sie Ihre Absicht erreicht. In jedem Fall mag es ratsam für Sie sein, daß Sie sich eins klarmachen: Ich weiß nicht, wer Sie sind, was Sie sind oder woher Sie kommen. Und ich interessiere mich auch nicht im geringsten dafür! Entschuldigen Sie.«

Mick bahnte sich einen Weg und ging auf die Gruppe zu, die sich im Gang gebildet hatte. Die junge Dame folgte ihm auf den Fersen.

»Haben Sie Ihre Frau gefunden?« fragte Lord Mead, dem zum Bewußtsein kam, daß er trotz des Diebstahls eine gewisse Verantwortung seinen Gästen gegenüber hatte.

»Nein«, entgegnete Mick. »Aber sie muß irgendwo sein. Ich war nur einen Augenblick um sie besorgt, weil ich fürchtete, daß die plötzliche Dunkelheit und die Aufregung sie krank gemacht haben.«

»Dann wäre es doch besser, daß ich sofort nach ihr suchen lasse. Summers«, wandte Mead sich an einen Diener, »fragen Sie doch einmal nach – nach – ach, es tut mir so leid, mein Gedächtnis hat in letzter Zeit entsetzlich nachgelassen –«

»Gräfin Galleone Metri«, half ihm Mick.

Danach überstürzten sich die Ereignisse. Als Cardby den Namen nannte, trat ein schlanker, dunkler Herr aus der Menge auf ihn zu. Mick fühlte, daß eine Gefahr unmittelbar bevorstand, und er hatte recht.

»Wollen Sie hier behaupten«, fragte ihn der Mann, »daß Ihre Frau die Gräfin Galleone Metri ist?«

»Natürlich«, entgegnete der junge Mann empört.

»In dem Falle müßten Sie ja mein Vetter sein«, sagte der andere und verzog spöttisch den Mund. »Dann muß ich auch bei Ihrer Hochzeit gewesen sein. Aber wie merkwürdig, daß ich Sie noch nie getroffen habe!«

»Sie scheinen eine blühende Phantasie zu haben!«

Die Gäste sahen betroffen von dem einen zum anderen. Es war so still, daß man die sprichwörtliche Stecknadel hätte zu Boden fallen hören.

»Che la facesse di menzogna rea.«

Cardby wußte, daß er in die Enge getrieben war, und ebenso wußte es der andere.

»Wie seltsam, daß es einen Grafen Galleone Metri geben sollte, der nicht einmal Ariost in der Originalsprache versteht! Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen die Übersetzung sage: ›Es ist offenbar eine Lüge‹. Das Zitat paßt ausgezeichnet hierher.«

Drei Herren traten näher auf Cardby zu. Die letzte Möglichkeit zur Flucht schien ihm genommen zu sein.

»Hören Sie, was der Herr sagt?« fragte Lord Mead streng.

Plötzlich drängte sich ein anderer Gast vor. Er war groß und stattlich, mochte etwa vierzig Jahre alt sein und machte den Eindruck eines Beamten, der sich Geltung zu verschaffen weiß. Er ließ die Gäste zurücktreten und brachte durch eine Handbewegung auch Lord Mead zum Schweigen.

»Sie sind überführt«, sagte er zu Mick. »Ebenso Clare. Kommen Sie also ruhig mit, ohne irgendwelchen Widerstand zu leisten.«

»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Lord Mead, der mit zitternder Hand über die Stirn fuhr.

»Sie brauchen sich weiter keine Sorgen zu machen wegen dieser Sache. Dies hier ist Diamanten-Larking, und die Frau, mit der er heute abend auftrat, war ›Gräfin Polly‹. Die zwei arbeiten bei Diamantendiebstählen immer zusammen. Glücklicherweise haben wir vorher Nachricht erhalten, daß sie heute abend etwas planten. Dieser Mann hat den Schmuck gestohlen, als das Licht ausging, und ihn dann seiner Komplizin gegeben. Die ist durch die Räume der Dienerschaft im hinteren Teil des Hauses entkommen. Diese Fluchtmöglichkeit hatte sie schon seit langem vorbereitet. Aber diesmal hat sie kein Glück gehabt. Zwei Beamte haben vor dem hinteren Ausgang auf sie gewartet, und jetzt befindet sie sich in der Polizeistation in der Vine Street. Auch das gestohlene Halsband ist dort. Wir möchten Sie bitten, so bald wie möglich selbst dorthin zu gehen, Lord Mead. Also, kommen Sie Larking. Vielleicht holt einer der Diener seine Sachen.«

Ein Angestellter folgte der Aufforderung. Es herrschte eisige Stille, und keiner sprach ein Wort, während alle in dem Gang warteten.

Die junge Dame, die während der letzten zehn Minuten Mick überallhin gefolgt war, bahnte sich einen Weg durch die Menge, bis sie neben dem großen Mann stand.

»Entschuldigen Sie«, sprach sie ihn an, »wenn Sie diesen Mann mitnehmen, wäre es doch nur recht, wenn Sie uns sagten, wer Sie sind.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, entgegnete der Mann nachsichtig. »Ich bin Detektivsergeant Gribble von Scotland Yard.«

»In dem Fall wollen wir warten, bis die Polizei kommt und Sie beide verhaftet. Sie sind ebensowenig Detektivsergeant Gribble, wie dieser Mann Graf Metri ist.«

»Aber reden Sie doch nicht solchen Unsinn! Wie kommen Sie denn darauf, so etwas zu sagen?«

»Weil ich zufällig«, erwiderte sie langsam und mit Nachdruck, »die Tochter des Detektivsergeanten Gribble bin. Es müßte doch ein merkwürdiges Kind sein, das nicht einmal seinen eigenen Vater kennte!«


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