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III.
Detektiv Murphy schwitzt

Mit elastischen Schritten ging Mick Cardby die Wigmore Street entlang und pfiff dabei einige Takte aus dem letzten Tanzschlager. Man hätte den jungen Mann in dem gutsitzenden dunkelgrauen Anzug leicht für einen Müßiggänger halten können, aber ein geübter Beobachter hätte doch bemerkt, daß er einen durchtrainierten Sportsmann vor sich hatte. Stattliche Schultern trugen einen starken, muskulösen Hals, die Brust war breit und gleichmäßig gebaut, dagegen waren die Hüften verhältnismäßig schmal.

Unter dem Filzhut schaute hellbraunes Haar hervor. Mick Cardby hatte blaue Augen; seine Nase war früher regelmäßig gewesen, hatte aber unter einem Boxschlag gelitten. Das Kinn war kräftig, und die festen Linien seines Mundes schienen einem humorvollen Lächeln nicht abgeneigt zu sein.

Einen Augenblick blieb Mick vor einem Buchladen stehen und – betrachtete die Auslage, dann ging er weiter. Auf der anderen Straßenseite stand an der Ecke von Cavendish Place ein Mann von mittleren Jahren und lehnte nachlässig an dem Gitter eines Hauses. Mick sah ihn und lächelte. Allem Anschein nach war der Beamte des Überfallkommando so daran gewöhnt, in einem Wagen am Steuer zu sitzen, daß er ganz verlernt hatte, einem anderen unauffällig zu folgen.

Als Mick die Harley Street überquerte, die auf den Platz einmündete, verlor sein Blick den träumerischen Ausdruck, und er schaute lebhaft um sich. Alle Wagen, die an der Bordschwelle geparkt waren, musterte er einzeln. Rechts von ihm befand sich ein Taxistand. Es war natürlich besser, einen Wagen zu wählen, der etwas entfernt auf dem Platz stand. Mick wußte mit Autos Bescheid, und an diesem Morgen kam es ihm besonders darauf an, einen guten Wagen auszusuchen. Wenn Murphy erst einmal auf den Gashebel trat, konnte ein mittelmäßiges Fahrzeug ihm nicht entkommen. Und diesmal mußte es eine möglichst lange und eindrucksvolle Verfolgung werden. Der junge Cardby lächelte, und seine Augen blitzten. Eine tolle Fahrt sollte es werden!

An der Ecke der Chandos Street stand ein langer, niedrig gebauter Zweisitzer mit cremefarbenem Anstrich und schwarz abgesetzten Kotflügeln. Mick rieb sich die Hände, als er darauf zuging. Ob der Besitzer wohl die Tür unverschlossen gelassen hatte? Das war jetzt die einzige Frage. Der junge Mann ging quer über die Straße, so daß sich der Wagen zwischen der Häuserreihe und ihm befand. Schnell faßte er nach dem verchromten Griff – die Tür war auf.

Nun folgten die Ereignisse rasch aufeinander. Mick glitt auf den Führersitz, stellte den Motor an, drückte auf den Anlasser, lockerte die Bremsen und schaltete den ersten Gang ein. All das geschah blitzgeschwind, aber seine Bewegungen waren so ruhig und überlegt, daß sie fast langsam wirkten.

Der Motor ratterte, während Mick die Chandos Street entlangfuhr. Schnell ging er zu höherer Geschwindigkeit über, obwohl er bis zur nächsten Ecke nur eine kurze Entfernung hatte. Die Räder kreischten als er in die Queen Anne Street einbog. Mick stellte einen höheren Gang ein, trat auf den Gashebel und fuhr in die Harley Street ein. Er wollte erst einmal sehen, wieviel der Motor leisten konnte, bevor die Jagd begann.

Hinter ihm eilte der Mann, der ihn von der anderen Straßenseite aus beobachtet hatte, in eine Fernsprechzelle.

Immer schneller ging die Fahrt auf der geraden Strecke, und zwanzig Meter vor der Einmündung der Devonshire Street zeigte der Geschwindigkeitsmesser bereits neunzig Kilometer. Nun hatte Mick den Wagen so weit auf Touren, daß er alles aus dem Motor herausholen konnte. Er drehte das Steuerrad nach links und gab mehr Gas, als er in die Marylebone High Street zu kommen versuchte. Mick hatte diese ganze Gegend vorher genau studiert. Die starken Bremsen setzten plötzlich ein und der Wagen schwankte, als er unvermittelt um die scharfe Ecke in die Beaumont Street einbog. Er fuhr zwischen zwei Wagen durch, um auf die linke Seite der High Street zu kommen. In vier Sekunden hatte er die Straße überquert, bog nach links, dann nach rechts ab und fuhr durch York Gate auf den Äußeren Ring.

Mick erschien fünfzig Meter von der verabredeten Stelle. Als er nun die Geschwindigkeit steigerte und nach rechts fuhr, löste sich ein anderes Auto von der Seite der Straße. Am Steuer saß mit zusammengepreßten Lippen und gefurchter Stirn Detektiv Murphy, der tollkühnste Fahrer des Überfallkommandos.

Nun war die Jagd im Gange!

Als Mick am Eingang von Broad Walk vorüberfuhr, surrte der Motor nur noch leise. Sein regelmäßiges Geräusch bürgte für Stärke und Schnelligkeit. Nach etwa fünfzig Metern warf Murphy einen Blick auf den Geschwindigkeitsmesser und sah, daß die Nadel fast auf hundert zeigte und weiter nach oben ging. Er wußte weiter nichts von der Sache, als daß sie etwas »gesteckt« bekommen hatten. Der Wagen vor ihnen war gestohlen worden, und es war nun Murphys Aufgabe, ihm den Weg abzuschneiden, selbst wenn er seinen eigenen Wagen dabei beschädigte. Neben ihm saß Chefinspektor Hall, den der Gedanke an eine so scharfe Verfolgung in Erregung brachte, obwohl er besorgt war, wie die Sache ausgehen würde.

Ohne die Geschwindigkeit zu verringern, bog Mick nach links. Der breite Radstand gab dem Auto genügend Sicherheit, als er in weitem Bogen um die Ecke sauste. Andere Fahrer waren bereits aufmerksam geworden und gaben mit ihren Hupen Warnsignale. Aber dann verstummten sie. Der verfolgende Wagen hatte die Buchstaben »M. P.« über der Windschutzscheibe und die Signalglocke ertönte ohne Aufhören. Der Führer eines entgegenkommenden Wagens versuchte, mutig bis zur Tollkühnheit, die Straße zu sperren. Mick streifte mit seinem Kotflügel die Ecke, als er scharf an der Bordschwelle vorbeifuhr. Drei Sekunden später fluchte Murphy über den Laien, der ihm in gutem Glauben hatte helfen wollen, und riß das Steuer nach rechts herum. Der Polizeiwagen fuhr auch gegen die Bordschwelle und kam kurze Zeit ins Schleudern, aber es gelang Murphy, ihn wieder in die Gewalt zu bekommen.

Mick machte die Sache ein unheimliches Vergnügen. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, daß Murphy aufholte. Aber die Jagd hatte eben erst begonnen! Mick wollte seinen Verfolgern schon zeigen, was er konnte. An diese Fahrt sollten sie sich erinnern bis an ihre spätesten Tage. Am Chester Gate zitterte der ganze Wagen, als er scharf bremste. Beinahe wäre er wieder ins Schleudern gekommen, als Mick das Steuerrad nach rechts herumriß.

»Der bringt sich noch selbst um – der dumme Kerl!« sagte Murphy. Aber er machte es auch nicht besser, als er im gleichen Tempo um die Ecke bog. Der Polizist, der vor der Station auf Wache stand, hörte die Polizeiklingel und zog den Gummiknüppel, und als der Zweisitzer vorbeifegte, warf er die Waffe nach Mick. Aber er kam zu spät. Der Gummiknüppel traf das Hinterrad, prallte ab und fiel auf die Straße. Ehe der Beamte wußte, was geschah, war der erste Wagen um die Ecke in der William Street verschwunden und das Polizeiauto kam in Sicht. Er zeigte nach der nächsten Ecke. Murphy sah es, trat auf die Fußbremse, drehte das Rad und gab wieder Gas.

Er bog noch gerade zur rechten Zeit in die Straße ein, um zu sehen, wie das cremefarbene Auto mit den schwarzen Kotflügeln in die Stanhope Street hineinjagte. Eine halbe Minute später rasten beide Fahrer mit zusammengebissenen Zähnen in der Hampstead Road an Straßenbahnen, Autos, Autobussen und Radfahrern vorüber. Die Fußgänger blieben stehen, sahen verblüfft auf dieses Schauspiel und warteten darauf, daß diese tolle Jagd mit einem Zusammenstoß enden würde. Zweimal streifte Mick andere Wagen, während er sich seinen Weg durch den dichten Verkehr bahnte.

Ein paar hundert Meter weiter die Straße entlang sprang ein Polizist mitten auf den Fahrdamm und hob beide Hände, um die rasenden Wagen anzuhalten. Zum erstenmal erschrak der junge Cardby. Auf keinen Fall durfte er den Beamten umfahren. Er trat auf die Bremse. Der Polizist hörte das laute Aufkreischen, als der Wagen langsamer fuhr, ließ die Hände sinken und eilte auf den Wagen zu. Er konnte ja nicht wissen, daß Mick ein äußerst schnelles Auto gewählt hatte. Sofort gab der junge Cardby von neuem Gas, und der Polizist erkannte seinen Irrtum, als der andere rechts um eine stehende Straßenbahn bog und die Straße weiter entlangjagte. Aber diese kurze Unterbrechung kam Murphy zugute. Der Detektiv hatte sich dem Verfolgten inzwischen bis auf zwanzig Meter genähert. Der Morning Crescent-Bahnhof blieb rechts von ihnen liegen.

Dann bog Mick links in der Richtung auf Camden Town ab. Hundert Meter bevor er die Hauptstraße erreichte, glaubte er schon, die Jagd habe ihr Ende erreicht. In der Straße staute sich der Verkehr, und nirgends zeigte sich eine Lücke. Es blieb Mick nur übrig, in eine der linken Seitenstraßen einzufahren. In diesem Augenblick hätte er auch das tollkühnste Wagnis unternommen. Glücklicherweise war kein Fußgänger in der Nähe, sonst wäre ihm dieses Manöver nicht geglückt. Die Räder des Autos fuhren über den Gehsteig, um Fingerbreite von der Hausecke entfernt, dann rollte der Wagen wieder auf den Fahrdamm.

Noch einmal bog er in eine linke Seitenstraße ein, so daß er jetzt in genau entgegengesetzter Richtung wie vorher fuhr. Murphy raste hinter ihm durch die enge Straße und setzte alles aufs Spiel. Inspektor Hall saß schweigsam neben ihm. Er verstand jetzt, warum Cardby so zuversichtlich gewesen war. Murphy war nicht der einzige tüchtige Fahrer in London.

Der Detektiv wußte das ebensogut, und deshalb fuhr er so waghalsig wie noch nie zuvor. Er reizte den stolzen Iren, daß ihm ein anderer ebenbürtig sein sollte. Beide Motoren surrten, als die Wagen wieder auf dem Äußeren Ring entlangfuhren. Mick nickte befriedigt, als sie an den großen Toren des Zoologischen Garten vorbeijagten. Er hatte wieder Vorsprung gewonnen. Murphy lag ungefähr vierzig Meter hinter ihm.

Man konnte nicht wissen, wann die Verfolgung enden würde. Aber plötzlich sah Cardby einen Zusammenstoß voraus. Rechts von ihm standen große Häuser, und in ungefähr vierzig Meter Entfernung kam ein Lastauto aus einem Tor herausgefahren. Als Mick noch zwanzig Meter weiter war, sperrte der große Möbelwagen die Durchfahrt vollkommen. Eine Handbreit davor hielt Mick an und sprang aus dem Wagen. Mit vier gewaltigen Sätzen erreichte er das mit Spitzen versehene Eisengitter, das den Regents Park umgab, und im Nu war er hinübergeklettert. Als er auf der anderen Seite auf den Rasen sprang, knirschten die Bremsen des Polizeiwagens, der ebenfalls zum Stehen kam. Drei Beamte stürzten heraus, und Murphy war der erste, der den Zaun erstieg.

In seinen besten Tagen war auch er ein tüchtiger Läufer gewesen und hatte die Viertelmeile in etwas mehr als einundfünfzig Sekunden zurückgelegt, aber unglücklicherweise hatte Mick die gleiche Entfernung häufig in fünfzig Sekunden geschafft. Als Mick zweihundert Meter gelaufen war, lag Murphy daher bereits hundert Meter zurück, und es schien ausgeschlossen zu sein, daß er den jungen Mann einholen konnte. Dann wurden zwei Parkwächter auf die Verfolgung aufmerksam, denn es geschah nicht oft, daß vier Männer hintereinander herjagten. Eilig kamen sie näher, um nachzusehen, was es gäbe, und versuchten, den ersten Läufer abzuschneiden.

Der jüngere der beiden Männer senkte den Kopf und stürmte quer über den Rasen auf Mick zu, aber sein Eifer wurde schlecht belohnt. Mick sprang zur Seite, und durch einen schnellen Handgriff, der ihm beim Fußballspiel schon manches Mal gute Dienste geleistet hatte, brachte er den anderen zu Fall, der zwei Purzelbäume schoß und dann verwundert auf dem Rasen sitzenblieb. Der ältere Parkwächter war vernünftiger. Er blies seine Signalpfeife und eilte nach dem Parktor, dem auch Mick zustrebte.

Weiter hinten keuchte Inspektor Hall, der nur langsam vorwärtskam. Er war schon ganz außer Atem und bezweifelte, ob er sich noch zu einer weiteren Anstrengung zusammenreißen konnte. Murphy, feuerrot im Gesicht, lief, so gut er konnte, aber die Beine wurden ihm auch schwer, und er sah ein, daß stundenlanges Sitzen hinter dem Steuerrad nicht gerade eine gute Trainingsmethode für Laufen war.

Als Mick fünfzig Meter vom Tor entfernt war, erschienen zwei Aufseher auf einem entfernten Weg, und ein Polizist, der auf dem Äußeren Ring patrouillierte, blieb stehen, zog den Gummiknüppel und versperrte den Ausgang. Mick mußte also wieder die Richtung ändern, und diesmal lief er den Rasen entlang nach dem See zu.

Die Verfolgung glich jetzt schon mehr einer Prozession. Drei Kriminalbeamte, drei Parkwächter und ein Polizist! Cardby warf einen Blick nach dem Fahrweg, ob er vielleicht nach dort entwischen könnte, aber zwei Autos fuhren dort entlang und hielten gleiche Geschwindigkeit mit ihm. Die Fahrer warteten nur darauf, daß er einen Durchbruchsversuch nach ihrer Seite machen würde. Vor ihm eilten noch mehr Parkwächter am Seeufer entlang auf ihn zu. Zwei Männer sprangen von einem der Wagen auf die Straße, stiegen über das niedrige Gitter, rannten über das Gras, und als sie den Betonweg erreichten, waren sie nur noch fünf Meter von Mick entfernt. Dieser hielt an, um einen Ausweg zu suchen, aber im selben Augenblick erschienen drei Parkwächter links von ihm. Das zweite Auto hatte den Ausgang nach dem Fahrweg versperrt, und Murphy, Hall und der dritte Kriminalbeamte näherten sich von hinten.

Hilflos ließ Cardby die Hände sinken und gab es auf. Er wollte nicht durch eine allgemeine Schlägerei noch mehr Schaden anrichten. Murphy packte ihn rauh an der Schulter.

Einen Augenblick schauten sich die beiden in die Augen, während sie keuchten und sich bemühten, wieder zu Atem zu kommen.

»An den Fang werden Sie sicher noch lange denken«, sagte Mick.

Inspektor Hall schien zu lächeln – aber das war doch unmöglich!


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