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30. Kapitel. Im alten Haus

Wieder lag Schnee auf Feld und Flur, aber es war ein stiller, schöner Tag, besser als damals, wo Großmutter auf Reisen ging, um für ihre Enkel Weihnachtsgeschenke einzukaufen. Ein leichter Schlitten hielt vor dem Häuschen, in dem Frau von Wrede mit ihren Kindern wohnte. Ein großer Pelz und schöne warme Decken lagen bereit für die Einsteigenden.

»Liebe Tante, bitte, geh du zuerst, du sollst dich in Vaters Pelz hüllen, damit du keine Erkältung davonträgst«, sagte Frau von Wrede, deren ganzes Sein und Wesen elastischer und lebensfroher geworden war. Sie setzte sich neben Frau Elsner, das Mariechen wurde in die Mitte hineingeschoben und Martin saß vorn beim Kutscher. Der knallte mit der Peitsche, die Pferde trabten munter davon durch die Stadt auf die mit Schnee bedeckte Chaussee, welche von Beckedorf in die Residenz führte.

»Gott sei Dank, daß wir so weit sind«, sagte Großmutter. »Der Schlitten bringt uns gleich von hier vor das Haus meines Schwiegersohnes, während der Weg an den Bahnhof mir heute schwer geworden wäre. Die Fahrt wird sehr angenehm sein. Nun sind wir doch mit dem Gericht fertig und wir beide, liebe Wilhelmine, werden uns wohl einigen.« »Das denke ich gewiß, liebe Tante. Wieviel Dank sind wir dem jungen Rechtsanwalt schuldig, der unsere Sache so treu geführt hat.«

»Er ist ein Freund Brugers und interessierte sich für die Angelegenheit; er ist auch ein christlich gesinnter Mann und deshalb dem Pfarrer besonders lieb.«

»Wenn ich nicht irre, liebe Tante, war es heute vor zehn Jahren, wo du mich im Schnee vor dem zerbrochenen Wagen fandest und dich meiner und der Kinder so liebreich annahmst. Wer hätte damals gedacht, daß zwischen uns so nahe Beziehungen beständen, daß wir beide, die wir immer kärglich und bescheiden gelebt haben, uns einmal in ein so großes Erbe teilen würden!«

»Gottes Wege sind wunderbar«, sagte Großmutter, die seit dem Tode ihres Bruders unruhig bewegte Wochen gehabt hatte. Es waren wirklich in dem Schrank Papiere gefunden worden, die auf Frau Elsner Bezug hatten. Das eine, in einem verborgenen Fach versteckt, wies sich als das Testament des verstorbenen Vaters aus. Es diente zum Zeugnis, daß das Erbe der Schwester vorenthalten worden war. Außerdem fand sich ein mit Bleistift geschriebener Zettel vor, augenscheinlich erst in der letzten Zeit dem Testament beigefügt, wie bei näherer Betrachtung Datum und Jahreszahl auswies. Er enthielt folgende Worte: »Wenn die Frau, die sich hier seit einiger Zeit bei meiner Tochter sehen läßt, Therese Elsner, geb. Meder ist, so soll sie als meine Schwester, alles, was ich hinterlasse, mit meiner Tochter erben.« Es gab verschiedene Termine auf dem Amt, zu denen Frau Elsner erscheinen mußte; sie hatte alle nötigen Papiere zu beschaffen, endlich waren die gerichtlichen Sachen beendet; sie war mit Frau von Wrede rechtmäßige Erbin des großen Vermögens, das unter dem Zusammenscharren des geizigen Bruders noch um ein Beträchtliches gestiegen war. Und doch hätte Frau Elsner lieber das Geld, das sie ihr ganzes Leben hindurch hatte entbehren müssen, nicht gehabt, wenn sie hätte sehen dürfen, daß ihr Bruder wirklich Reue über sein Unrecht empfunden hätte, wenn sie hätte merken dürfen, daß er sich zuletzt noch zu Gott gewandt und bei Ihm Vergebung gesucht hätte. Aber der Tod war schneller über ihn gekommen, als er und die Seinigen gedacht hatten. Er fuhr dahin, und sein Geld und Gut blieb zurück, sein Mammon, um deswillen er sich und seine Familie um jede Freude gebracht, um deswillen er sich selbst das Erbe Gottes verscherzt hatte.

Heute war der letzte Termin gewesen, kurz vor Weihnachten. Alle waren besorgt, daß die liebe Großmutter im Winter hinaus mußte, aber was konnte es helfen! »Bringe nur ja Tante Wilhelmine, Martin und Mariechen mit«, riefen die Enkeltöchter ihr nach, des Oberpfarrers Wunsch war es, daß sie alle kommen möchten, auch Meta, um im Pfarrhause Weihnachten zu feiern.

Und nun waren sie da und wurden mit warmer Liebe empfangen. Wie wohl tat es Frau von Wrede, einmal als Gast in einem Hause zu sein, wo man nicht geizte und kargte, wo sich jeder wohl fühlte, nicht eingeengt und bedrückt, wie sie es seit vielen Jahren gewesen war. Wie ganz anders war es jetzt als damals, als sie das erste Mal in diese Familie hineingeschneit kam. Jetzt wußte sie, daß sie zusammengehörten, daß sie fortan Freude und Leid miteinander tragen würden. Wenn doch Dorothea, ihre liebe Cousine, noch gelebt hätte, wie innig hätte sie sich an dieselbe anschließen mögen! Doch es gab viel zu danken. Schon das Gefühl, ihre Kinder glücklich zu sehen, machte sie froh und dankbar, und als nun erst Meta da war, und sie sich alle unter dem Christbaum zusammenfanden, da erschallten die Weihnachtslieder aus dankerfüllten Herzen. Großmutter aber hatte diesmal besonders gut eingekauft und alle ihre Lieben reich beschert.

Es war beschlossen, daß Frau von Wrede den Winter über im Häuschen bleiben sollte. Im Frühling wollte Großmutter wieder herüberkommen, dann sollte die Besichtigung des großen Hauses unter allgemeiner Beteiligung erfolgen. Nur mußte erst Großmütterchen sich von allen gehabten Strapazen erholen und, was sie innerlich durchgemacht hatte, verarbeiten. Meta kehrte zunächst zu ihrer Stelle zurück, an Ostern wünschte die Mutter sie nach Hause zu nehmen.

Und als der Frühling ins Land zog, da ließen die Kinder keine Ruhe. Immer wieder fragten sie: »Großmutter, wann geht es nach Beckedorf, wann sehen wir uns das große, alte Haus an?« Endlich, zwischen Ostern und Pfingsten war's, an einem herrlichen Frühlingstag, da wurde aufgebrochen. Heute wollte keins zu Hause bleiben, sogar der Oberpfarrer versprach nachzukommen; es interessierte ihn auch, das Erbe der Großmutter in Augenschein zu nehmen. »Was geht nur in dem alten, düstern Hause heute vor?« hörte man die Leute auf der Straße fragen. »Sonst waren die Läden sorgfältig geschlossen, heute sind alle Fenster geöffnet und fröhliche Stimmen dringen heraus,« Frau Teichert wußte alles: Sie konnte jedem, der kam, die interessante Geschichte erzählen und tat es so gern; die Kunden gingen ein und aus und ließen sich berichten. Die alte Kathrine saß vor ihrer Tür und schüttelte immer wieder den Kopf. Sie war noch ganz benommen von dem Besuch der Frau Elsner, die mit ihr von der Vergangenheit geplaudert hatte. »Der alte Gott lebt noch«, sagte sie leise vor sich hin, und dann füllten sich die alten Augen mit Tränen, wenn sie sah und hörte, was drüben vorging.

Im alten Hause aber jubelten die Kinder und staunten über die großen, gediegen ausgestatteten Räume, während Großmutter, überwältigt von den Erinnerungen, die auf sie einstürmten, oben in einem Zimmer saß mit Frau von Wrede und dieser erzählte, wie dies ihrer Mutter Lieblingsstube gewesen sei, wie sie hier zu ihren Füßen gesessen und stricken gelernt habe und allerlei schöne Lieder, die die Mutter ihr vorgesagt. Es herrschte natürlich überall dumpfe Luft, obwohl Frau von Wrede dafür gesorgt hatte, daß von Zeit zu Zeit gelüftet worden war. Aber da das Haus in sich trocken war, so waren die Möbel und sonstigen Gerätschaften ziemlich gut erhalten; es sah allerdings nun unwohnlich aus, aber da Kisten und Kasten voll Leinenzeug und schöner Decken und Kissen waren, und die Schränke kostbares Porzellan enthielten, so konnte mit kundiger Hand hier bald alles wohnlich und heimisch eingerichtet werden.

Emmi, Nanni und Miezi durchstöberten natürlich jeden Winkel. Bald kamen sie mit diesem, bald mit jenem angelaufen, um es Großmutter zu zeigen und zu hören, was der Gegenstand für eine Geschichte habe. »Erzählen kann ich euch von allem, was es hier im Hause gibt, etwas, mit Ausnahme der Sachen, welche die Frau meines Bruders mitgebracht hat, die zum größten Teil jedoch ins kleine Haus geschafft worden sind. Erlaßt mir heute das viele Sprechen, Kinder, allmählich sollt ihr alles erfahren.« – Sie waren schon wieder verschwunden, bevor Großmutter ihre Rede vollendet hatte. Nun waren sie in ein Eckzimmer gelangt, in dem ein großer Schrank stand. Der Schlüssel steckte, Großmutter hatte ihn mit Fleiß geöffnet, um den Kindern ein Vergnügen zu machen. O Wunder, was gab es hier! Schöne, alte Bücher und Geschichtenbücher, Spielsachen aller Art, eine Menge Puppen, große und kleine, freilich in altmodischer Kleidung, aber um so interessanter. Sie verkündeten Großmutter unter lautem Jubel die wundervolle Entdeckung dieser Herrlichkeiten und fragten um die Erlaubnis, sie näher in Augenschein nehmen zu dürfen.

»Ich erlaube euch darin herumzukramen, nehmt aber die Kleinen mit.« Das war für die Mädchen ein interessanter Fund, sie waren versorgt, niemand brauchte sich um ihr Vergnügen zu beunruhigen.

Wo war aber Röschen? Für sie gab es im Erdgeschoß noch allerlei zu untersuchen, so daß sie der Gesellschaft nicht nach oben gefolgt war. Besonders war es ein kleines Zimmer, das sie fesselte. Großmutter hatte gesagt, es sei ihr Mädchenstübchen gewesen. Hier hatte sie ihre schönsten Jugendträume geträumt, hier hatte sie in früher Morgenstunde gesessen und sich von den Vögeln ihr Morgenlied singen lassen; hier hatte sie abends gerastet, wenn der Mond durch die hohen Bogenfenster schien. Sie sah in den Garten hinaus. Er mußte sehr hübsch gewesen sein; man sah es an den verschiedenen Baumgruppen, an den Edeltannen und Rotbuchen, wie an den mancherlei Ziersträuchern. Verwildert war alles und von Unkraut überwuchert, aber das würde nun bald anders werden. Röschen wäre gern einmal in dem großen Garten allein umhergewandert, wäre auf Entdeckungsreisen ausgegangen, aber sie mußte den Übrigen folgen, oben gab es auch viel zu sehen, was sie interessierte. Sie wollte das Zimmer verlassen, es war verschlossen! Großmutter hatte, in der Meinung, sie seien alle heraus, den Schlüssel von außen umgedreht. Nun gut, es gab ja hier eine Glastür, die in den Garten führte, da wollte sie nur gleich ihr Gelüste, den Garten zu untersuchen, befriedigen. Wie dumm, auch die Glastür war verschlossen, was nun! Sie öffnete die beiden Flügel des hohen Bogenfensters; warmer Sonnenschein flutete herein, wie wonnig war es da draußen in der grünen Wildnis! Sollte sie gefangen sitzen? Das Fenster war fast wie eine Tür und nach dem Garten zu sehr niedrig gelegen. Wenn sie sich aufs Fensterbrett setzte und drehte sich herum, dann war sie draußen, es war zu verlockend. Der Gedanke ward zur Tat; eh' sie sich's versah, stand sie draußen in dem hohen, grünen Gras. Nun ging sie weiter, um sich das Haus gründlich von der Rückseite anzusehen. Kaum hatte sie einige Schritte gemacht, da sagte eine Stimme: »Hier finde ich endlich jemand, wie kommt man in dies verzauberte Schloß herein, Fräulein Röschen?« Pfarrer Bruger stand lächelnd vor ihr, mit dem Hut in der Hand. Sie errötete, er aber sagte: »Ich wollte durch die Haustür; sie war verschlossen, die Hintertür ebenso. Großmutter hat mir sagen lassen, mich hier heute nachmittag auch einzufinden, vielleicht finde ich durch diese Glastür Eingang.« »Die Glastür ist auch verschlossen«, sagte sie ohne Überlegung. »Wie sind Sie denn aber in den Garten gekommen, Fräulein Röschen?« Er sah die Fensterflügel weit geöffnet und lachte. »So hätt' ich's auch gemacht, Fräulein Röschen, es ist gut, wenn sich der Mensch in schwierigen Lagen zu helfen weiß.« »Es war nur die Not, die mich zwang«, sagte sie, wieder tief errötend. »Ich wollte gern die Erste sein, die den alten Garten untersuchte, da nun die dumme Tür verschlossen war, mußte ich mir auf andere Weise helfen.«

Es war ihr peinlich, drum brach er ab und sagte: »Wir wollen doch zusammen die Entdeckungsreise antreten, was meinen Sie?« Sie war einverstanden. Sie stapften durch das hohe Gras und waren bald hinter den Bäumen verschwunden. Man hörte und sah nichts von ihnen.

Im Hause wurde wieder Leben; man vernahm Philipps Stimme; die drei lustigen Mädchen trabten durch die Stuben, die Kleinen trippelten hinterher, und endlich war alles wieder »im Erdgeschoß versammelt. »Nun geht's in den Garten«, sagte Großmutter, »hier habe ich den Schlüssel zur Glastür, ich wollte gern die erste sein, die euch hineinführt. Wo ist aber unser Röschen?« »Die haben wir lange nicht gesehen«, hieß es von allen Seiten. Und als sie ins Gartenzimmer kamen, rief Großmutter, auf das offene Fenster zeigend: »Hier ist der Vogel entwischt; sie hat's nicht erwarten können.« »Ich suche sie«, rief Philipp, und mit einem Sprung war er auch zum Fenster hinaus. »Ich hab's früher auch mitunter gemacht«, sagte Großmutter und öffnete die Glastür. Nun traten sie alle ins Freie. Emmi, Nanni und Miezi tummelten sich auf dem Rasen mit den Kleinen, während Großmutter jammerte, wie alles verwildert sei, und mit Frau von Wrede beratschlagte, wie sie mit kräftiger Hilfe den Garten in kürzester Frist wieder zu dem machen könnte, was er vorher gewesen war.

Da kam Philipp atemlos gestürzt. »Großmutter, Großmutter, ich hab' sie alle beide.«

»Wo ist denn Röschen?« – »Stille«, flüsterte er geheimnisvoll, »sie werden gleich hier sein!« »Du sprichst immer in der Mehrzahl, ist denn jemand bei Röschen?« »Natürlich«, flüsterte er wieder. »Da kommen sie.«

Ja, da kamen sie, Röschen am Arm des Herrn Pfarrers. Sie näherten sich der Gruppe. Es schien, als wollte Röschen ihren Arm aus dem seinigen lösen, aber er zog ihn fest an sich und sagte: »Nun bist du gefangen, jetzt laß ich dich nicht wieder von mir.«

»Großmütterchen«, rief er schon von weitem, »nun habe ich das Recht, so sagen zu dürfen, heute ist ein doppelter Festtag, Röschen hat mir eben gesagt, daß sie mein sein will, sie will zu mir in die Pfarre ziehen und meine liebe Frau werden, nun hat meine Einsamkeit ein Ende.«

Emmi, Nanni und Miezi standen und sperrten Mund und Augen auf, die Kleinen haschten sich auf dem Rasen, ihnen war es gleich, ob man sich verlobte oder nicht. Großmutter aber und Frau von Wrede freuten sich von Herzen und erstere erhob segnend ihre Hände über sie. »Geht es denn, Großmütterchen?« rief Röschen und fiel der alten Dame um den Hals. »Es geht, mein liebes Kind, ziehe hin in Frieden.« »Was wird nun der Vater sagen, wenn er kommt?« »Der freut sich«, sagte Bruger, »er hat mir schon lange seinen väterlichen Segen gegeben.«

Ja, der Vater freute sich auch, als er kam. Er nahm sein ältestes Töchterchen in seine Arme und sagte: »Gottes Segen mit dir, mein Kind, danke Gott, daß er dir so festen Halt fürs Leben gegeben hat.«

Philipp aber warf seine Mütze in die Luft und rief: »Hurra, nun ist Bruger unser Schwager.« Und Emmi, Nanni und Miezi stimmten ein und riefen in voller Jugendlust: »Hurra, hurra, hurra!«

Bruger lud die ganze Gesellschaft ein, noch ein Stündchen zu ihm ins Pfarrhaus zu kommen, sie wollten miteinander ein Lob- und Danklied singen zu seinem Harmonium.

Es war nun zwar sehr interessant, das alte Haus und den Garten zu besichtigen, das interessanteste aber war und blieb doch Röschens und Brugers Verlobung in demselben Garten, unter denselben Bäumen, wo einst die Großeltern sich Treue gelobt hatten.


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