Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

6. Kapitel. Heimkehr

Röschen beschleunigte ihre Schritte, eiligen Fußes sprang sie die zur Haustür führenden Stufen hinauf, die Tür wurde geöffnet und sie lag in den Armen ihres guten Vaters, des würdigen Oberpfarrers, der diesmal der Erste war, der das Töchterchen erspäht hatte und schnell mit seiner Pfeife aus dem Studierzimmer gekommen war. Doch da kam auch schon das Mütterlein, gefolgt von einem halben Dutzend großer und kleiner Mädchen, Emmi, Nanni und Miezi, dreizehn-, zwölf- und elfjährig und drei kleine Nachkömmlinge, Eva fünf, Lieschen vier und Trudchen zweijährig. Während die Mutter ihr ältestes Kind umschlungen hielt, krabbelte es um sie herum, eins zupfte sie am Ärmel, eins am Rock, eins wollte ihr die Jacke ausziehen, das andere den Hut abnehmen – Röschen küßte sie alle der Reihe nach und sagte dann: »Nun laßt mich aber weitergehen, daß ich zur Großmutter komme.«

Die Großmutter kam schon zu ihr. Da stand sie in der Tür mit ihrem lieben, freundlichen Gesicht und dem bekannten, weißen Häubchen. Sie breitete ihre Arme aus und drückte ihren Liebling, der so lange fern gewesen war, innig ans Herz. Wie hatte sich das Röschen herausgemacht, wie stattlich und groß war sie geworden! Ganz der Mutter Ebenbild, nur daß Röschens Wangen die blühende Farbe der Gesundheit trugen, während der Mutter Gesicht blaß und schmal geworden war. Aber die klugen grauen Augen, das starke, etwas rötlichblonde Haar, das Stumpfnäschen, alles hatte sie mit der Mutter gemein.

Groß und Klein war nun im großen Wohnzimmer vereinigt. Als das Geschwirre der kleinen Schwestern überhand nahm, und die jüngsten neugierig Röschens Tasche untersuchten, ob sie wohl etwas mitgebracht habe, klopfte der Vater auf den Tisch und gebot Ruhe. »Oh, da kommt Fräulein Linchen«, rief er erfreut, »nehmen Sie einmal die ganze Gesellschaft mit hinaus bis zum Abendbrot.«

Fräulein Linchen war wirklich noch immer Stütze des Hauses. Sie hatte sich von Jahr zu Jahr vervollkommnet und war immer mehr verwachsen mit der Familie, deren Sorgen und Freuden sie schon seit mehr denn zehn Jahren mitgetragen hatte. Einmal wäre sie beinahe untreu geworden; ein junger Maler hatte sie zu ehelichen begehrt. Sie schwankte lange hin und her, endlich meinte sie: die Nase wäre ihr etwas zu groß und der Geruch der Farbentöpfe sei ihr unerträglich, zudem sei sie noch jung, es könne ihr ja auch noch eine bessere Gelegenheit geboten werden. Sie habe es gut im Pfarrhause und wolle bleiben. Frau Pfarrer, die ihrem Glück nicht im Wege hatte sein wollen, war innerlich froh, daß Linchen blieb – und die Sache war abgetan.

Fräulein Linchen war in einem Verwundern und Staunen, wie Röschen sich herausgemacht habe, und meinte, nun würde sie recht im Hause helfen können, Arbeit gebe es für sie alle. Dann aber, des Pfarrers Wink gewärtig, sammelte sie ihre Küchlein und ging mit ihnen ins Nebenzimmer. Die drei älteren Mädchen sahen es als selbstverständlich an, daß sie Fräulein Linchen nicht folgten, sie glaubten alles Recht zu haben, jetzt bei ihrer großen Schwester zu bleiben. Emmi holte ihren Strickstrumpf, während Nanni und Miezi Garn wickelten. »Wie tugendhaft«, rief Röschen, »das habe ich in eurem Alter noch nicht getan.« »Wir werden immer fleißiger«, antwortete Großmutter, »je mehr Füßchen es gibt, desto mehr Strümpfe werden gebraucht.«

Als der Vater sich eine Weile an der großen Tochter erfreut hatte, klopfte er ihr auf die Schulter und sagte freundlich: »Gut, mein Töchterchen, daß wir dich wiederhaben.« Dann ging er hinüber in sein Zimmer und vertiefte sich in die Wissenschaften, froh, wenn ihn nichts von außen störte. Er hätte sich etwas mehr um die Kinder, besonders um den Gymnasiasten kümmern sollen. Aber das besorgten ja Mutter und Großmutter alles viel besser als er, meinte er. Er schrieb lieber Aufsätze und Kritiken in theologische Blätter, als daß er mit dem Jungen Cäsar übersetzte und sich über seine vielen Fehler ärgerte. Das konnte Herr Bruger, sein Vikar, tun, dem er, außer seinen anderen Pflichten, auch die übertragen hatte, sich täglich um seines Sohnes Arbeiten zu kümmern. Das übte den jungen Mann, und ihm ersparte es manchen Ärger.

Die Mutter sorgte in umfassender Weise für das Ganze, aufs beste unterstützt von der klugen, praktischen Großmutter. Ja, man hätte fast sagen können, der schwerere Teil fiel der Großmutter zu; sie hatte eine größere Umsicht, einen weiteren Blick, eine festere Gesundheit. Es wurde von Frau Oberpfarrer allerdings viel verlangt, der große Kinderkreis, das Hauswesen mit Hof und Garten und dann der Beruf als Pfarrfrau einer großen Gemeinde erforderte körperliche und geistige Kräfte. Sie tat, was sie konnte, war unablässig tätig von früh bis spät, aber ohne die Großmutter hätte sie es doch nicht fertig gebracht, daß die Kinder aufs Wort gehorchten, und daß die Armen und Kranken in der Gemeinde nicht vergessen wurden.

Emmi, Nanni und Miezi schienen zu denken, daß sie im Stricken und Garnwickeln auch des Guten zu viel tun könnten. Sie sahen sich verständnisvoll an, eins, zwei, drei, war die Arbeit aufgerollt, die Stühle beiseite gesetzt und hui! wie der Wind waren alle drei zur Tür hinaus. »Wir können sie ja noch alle Tage sehen«, hatte Emmi den andern zugeflüstert. »Und Philipp hat schon zweimal ans Fenster geklopft!« Das war bestimmend gewesen. Nun waren Mutter und Großmutter allein mit der heimgekehrten Tochter und hielten ein trauliches Dämmerstündchen mit ihr.

»Weißt du«, sagte die Mutter, »daß ich dir oben ein kleines Zimmer eingerichtet habe, ich denke, es wird dir lieb sein, wenn du dich mitunter aus dem Gewirre hier unten in dein kleines Reich flüchten kannst; es ist für erwachsene Töchter so hübsch, ein eigenes Zimmer zu haben.« Röschen dankte der Mutter stürmisch für den neuen Beweis der Liebe, und als diese später mit ihr nach oben ging und nach links die zweite Tür öffnete, ertönte von ihren Lippen der freudige Ausruf: »Das blaue Zimmer soll meins sein, das hübscheste im ganzen Hause! Du gute Mutter!« Ja, es war ein hübsches, kleines Zimmer, hell und freundlich. Die lichtblauen Tapeten, die weißen Vorhänge, das Sofa mit dem hellen Überzug, der alte Schreibtisch von den Großeltern, am Fenster ein Vogelbauer mit einem laut zwitschernden Vöglein, alle Bilder bekränzt, die Tür mit einer Girlande versehen, das alles entzückte Röschen. Die Fenster waren im Sommer weinumrankt, sie gewährten Aussicht auf einen schöngepflegten Blumengarten, darüber hinaus sah man auf Felder und Wiesen und auf den hellschimmernden Strom. Röschen dankte immer wieder der Mutter mit bewegten Worten und rief aus: »Wie gut hab' ich's, daß liebe Eltern treu für mich sorgen.« Die Mutter streichelte ihr Töchterchen und sah sie liebevoll an. Dann gingen sie hinunter, wo das fleißige Fräulein Linchen schon den Tisch gedeckt hatte. Philipp neckte sich mit den Schwestern, als der Vater erschien, ward alles still. Gleichzeitig mit ihm betrat ein noch nicht sichtbar gewesener Hausgenosse das Zimmer. Es war der schon vorhin erwähnte Gehilfe des Herrn Oberpfarrers, der Vikar Bruger, der schon längere Zeit im Hause weilte und vollständig als Familienglied angesehen wurde. Er war ins Haus gekommen, als Röschen fünfzehn Jahre zählte. Er hatte den frischen Backfisch gern und war dem Vorhaben, sie ins Pensionat zu schicken, sehr abhold gewesen. Seiner Meinung nach war es Unsinn, die Mädchen mit Gelehrsamkeit zu füttern, aber er wurde nicht um Rat gefragt und mußte schweigen.

Die Begrüßung zwischen ihm und Röschen war also keine formelle, sondern vielmehr eine unbefangene, harmlose, er hatte sich auf Röschens Wiederkommen gefreut, obwohl er ihr nicht sehr sympathisch war.

Die Großmutter, so war es von jeher eingeführt, saß obenan. Zur Rechten hatte sie den Herrn Schwiegersohn, zur Linken Herrn Bruger. Die Kinder waren je nach dem Alter verteilt; die Mutter saß unten zwischen den Kleinen, Röschen ihr zur Seite, zwischen Nanni und Miezi war Fräulein Linchens Platz.

Herr Bruger schien ein besonderer Freund der Großmutter zu sein, sie wandte sich oft an ihn. Es war möglich, daß seine Art zu reden ihr mehr zusagte, als das oft zerstreute Wesen ihres Schwiegersohnes. Letzterer konnte, wenn er nicht in ein gelehrtes Gespräch mit Herrn Bruger verwickelt war, sein Abendbrot einnehmen, ohne ein Wort zu sprechen, er vergaß seine Umgebung vollständig. Auch heute schien er noch mit seinen Gedanken in der Studierstube zu sein, als Großmutter ihn plötzlich aufrüttelte mit den Worten: »Nun, lieber Schwiegersohn, freust du dich nicht über die erwachsene Tochter?« »Ja so«, meinte der würdige Herr und sah sich suchend um, »das hatte ich ganz vergessen.« Alle lachten, sie kannten den Vater. Herr Bruger benutzte den Augenblick allgemeiner Heiterkeit, einen forschenden Blick auf das aus der Pension entlassene Fräulein zu werfen. Sie half der Mutter Butterbrote zu streichen für die Kleinen und steckte es ihnen in die ausgestreckten Händchen. Herr Bruger fühlte sich veranlaßt, irgend etwas zu sagen, er räusperte sich schon ein paarmal, nun kam es heraus: »Fräulein Röschen, es ist sehr gut, daß Sie nun daheim sind, Sie können der Mutter eine treue Stütze im Haushalt sein.«

Fräulein Linchen warf Herrn Bruger einen erzürnten Blick zu, bis jetzt war sie noch Stütze des Hauses, ganz beiseiteschieben ließ sie sich doch noch nicht. Röschen, die diesen Blick aufgefangen hatte, erwiderte frank und frei: »Eine bessere Stütze als Fräulein Linchen kann Mutter an mir nicht finden, ich habe übrigens die Absicht, Lehrerin zu werden.« Es war, als ob eine Bombe geplatzt wäre, so unerwartet kam allen dieses Wort. Sogar der Vater schien es gehört zu haben, denn er ließ seine Semmel auf's Tischtuch fallen und sagte: »Was, der Tausend, das ist ja etwas ganz Neues!« Philipp und die Schwestern kicherten, die Mutter in ihrer sanften Weise meinte, das solle sie sich erst einmal nach allen Seiten hin überlegen. Die Großmutter aber klagte: »Früher war das anders. Wenn eine Tochter erwachsen war, mußte sie in die Küche, ins Waschhaus, in den Garten. Jetzt muß jedes Mädchen sich seinen eigenen Beruf wählen, und für die Familie ist sie verloren. Kind, Kind, wer hat dich auf diese unglückliche Idee gebracht?« »Ich bin selbst darauf verfallen.« Fräulein Linchen schaute auf einmal wieder freier und heiterer um sich, ihre ihr seit Jahren liebgewordene Stellung schien ihr auf's neue geschenkt. Während Linchen beglückt aussah, konnte man an Herrn Bruger das Gegenteil wahrnehmen. Er machte eine süßsaure Miene zu Röschens Antwort und sagte erzwungen: »Wie wird es dann mit dem Herumschweifen im Freien, mit den Waldspaziergängen und mit all dem Schönen, woran Sie früher Gefallen fanden?« »Es wird alles aufgesteckt; ich vergrabe mich hinter einem Wall von Büchern und lerne und studiere, bis ich das Examen glänzend bestanden habe.« »Und dann, und dann?« fuhr Herr Bruger erregt fort. »Dann gründe ich eine Schule«, erwiderte Röschen übermütig, »dann lehre ich meinen Schülerinnen alles Gute, was ich eingeheimst habe.« »Und wenn im Sommer die Fenster des Schulzimmers geöffnet sind und die Blumen duften, die Bienlein summen, dann sagt Fräulein Röschen zu ihrer Klasse: ›Es ist herrliches Wetter, wir wollen ein wenig ins Freie gehen‹, und Lehrerin sowie Schülerinnen wählen dazu den kürzesten Weg, der durch die Fenster in den Garten führt.«

»Wie kommen Sie darauf?« fragte Röschen betroffen, während eine rote Glut Gesicht, Nacken und Hals bedeckte. »Sie pflegten es früher oft so zu machen«, sagte Herr Bruger mit etwas spöttischem Ton, worauf die Großmutter ihn vorwurfsvoll ansah, ihre Hand auf seinen Arm legte und schmollend sagte: »Deshalb ist ja Röschen in die vorzügliche Pension gekommen, damit sie sich solche Unschicklichkeiten abgewöhnen sollte, von solchen Dingen weiß sie jetzt nichts mehr.« Herr Bruger bereute, das letzte gesagt zu haben, er war zu ärgerlich, darum war es ihm herausgefahren; er hatte nicht bedacht, daß er nicht mehr den Backfisch von früher, sondern eine erwachsene junge Dame vor sich hatte. Röschen senkte den Blick und war froh, daß sie niemand weiter beachtete. Innerlich aber war sie so böse auf Herrn Bruger, ihre Sympathie hatte er ganz verscherzt. Der Vikar war ein abgesagter Feind aller Frauengelehrsamkeit. Das fröhliche Naturkind Röschen hatte ihm prächtig gefallen, so wie es war. Nun sollte sie auch vollgepropft werden mit allem gelehrten Krimskrams; ihre einfache Denkweise, ihr originelles Wesen sollte eingezwängt werden in den Schraubstock der Gelehrsamkeit: er mußte unwillkürlich seufzen, als er sich dies alles so überdachte. Die Großmutter sah ihn an und sagte beschwichtigend: »Nun, Herr Vikar, fassen Sie die Sache nicht zu tragisch auf, wir sind noch lange nicht so weit.«

Es erfolgte zwischen Frau Elsner und Herrn Bruger nun ein Gespräch über Frauenberuf und Frauenemanzipation. Die beiden wurden sehr eifrig im Verurteilen der Frauen, die es den Männern gleichtun, sich auf dieselbe Stufe der Bildung und Gelehrsamkeit mit ihnen stellen wollten. Herr Bruger erging sich darin, das Weib der Zukunft schonungslos zu schildern, während der Oberpfarrer ruhig seinen Tee trank und das ihm von seiner Frau bereitete Schinkenbrötchen mit sichtlichem Behagen dazu verzehrte. »Nun lieber Schwiegersohn«, redete Großmutter Se. Hochehrwürden an, »was sagst du zu dem allem?« »Ich finde den Schinken ausgezeichnet«, war die Antwort, worauf allgemeine Heiterkeit erfolgte, was dem Papa zeigte, daß er wieder einmal abwesend mit seinen Gedanken war. »Ja, allerdings war ich drüben bei meinen Schreibereien; ich habe eine Kritik, die mir viel Kopfzerbrechen macht, ihr müßt mich heute entschuldigen. Es ist ja schön, liebe Mutter, daß du dich so lebhaft mit Herrn Bruger unterhältst.« Als er nun vernahm, wovon die Rede gewesen, sagte er gutmütig lächelnd: »Wollen uns nicht zu sehr ereifern über die Frau der Zukunft. Es geht alles eine Zeitlang so fort, die Bewegung wird noch mächtiger werden, die Frauen werden sich immer mehr den Männern gleichberechtigt fühlen, je mehr sie zum Studium zugelassen und ihnen alle Wege geöffnet werden. Aber es wird, das ist meine feste Überzeugung, eine Rückbewegung eintreten, die Frauen werden wieder zurückkehren in ihre Sphäre, es wird allmählich wieder Mann und Frau sein, die Mannfrau aber verschwinden.« Herr Bruger wollte das nicht gelten lassen, er sah sehr schwarz in dieser Sache. Endlich, nachdem das Thema noch eine Zeitlang behandelt war, rief der Oberpfarrer: »Nun, ich bin froh, daß ich ein Weib habe, das den Namen verdient in des Wortes schönster Bedeutung.« Dabei warf er seiner Frau einen zärtlichen Blick zu, und indem er auch Röschen, die sich eifrig mit Philipp unterhielt und gar nicht auf das Gespräch da oben geachtet hatte, freundlich zunickte, fügte er hinzu: »Ich hoffe auch, daß meine liebe älteste Tochter, wenn sie wirklich darauf besteht, Lehrerin zu werden, sich allezeit echte Weiblichkeit bewahren wird.« Röschen errötete, Herr Bruger murmelte etwas in seinen Bart, was Röschen leider nicht verstand. Nach Tisch erfolgte ein buntes Durcheinander, als jeder dem andern »Gesegnete Mahlzeit« wünschte. Herr Bruger gab Röschen nicht, wie er sonst zu tun pflegte, die Hand, sondern machte ihr eine Verbeugung. Er sah verstimmt aus und verließ das Zimmer. Beim Hinausgehen suchte er an Philipp heranzukommen, kniff ihn empfindlich ins Ohr und sagte nur das eine Wort: »Schlingel!«

»Was hast du denn wieder verbrochen?« fragte Röschen leise. »Ich wollte mein Tintenfaß reinigen, spülte es am Fenster um, glaubte nicht, daß unten jemand vorüberging. Da hat er etwas aufs Haupt bekommen.« »Pfui Philipp!« »Er quält mich immer so entsetzlich mit dem Latein.« »Du bist also seit Weihnachten nicht wieder heruntergekommen, Philipp?« »Gewiß nicht«, beteuerte dieser. Nanni, die das letzte gehört hatte, kam heran und sagte: »Er kann ja gar nicht herunterkommen, er ist schon der unterste in der Klasse!« »Aber, Philipp«, rief Röschen entsetzt, »das ist ja schrecklich.« Philipp, der es für geraten hielt, dies Thema nicht weiter zu spinnen, zuckte mit den Achseln und verschwand.

Das war ein wunder Fleck in dem sonst schönen Familienleben. Die Mutter, die kaum allen ihren Pflichten genügen konnte, sah es als selbstverständlich an, daß der Sohn beim Lernen unter Vaters Aufsicht stehen müsse. Philipp saß wohl auch in seinem Zimmer, wurde aber nicht genügend beaufsichtigt, die Amtsgeschäfte und Privatstudien nahmen den Vater so ein, daß er für seinen Sohn keine Zeit hatte. Der Vater konnte böse, ja heftig werden, wenn Philipp am Schluß des Semesters mit schlechten Zensuren und Anmerkungen nach Hause kam. Aber dem abhelfen, sich eingehend und väterlich um die Arbeiten des Sohnes kümmern, lag nicht in seiner Art. Herr Bruger, sonst ein vortrefflicher Mensch, hatte auch nicht die rechte Weise. Er wollte es durch Strenge erzielen, handhabte zu viel mit Ohrenkneipen und bösen Worten, so daß Philipp immer mehr Abscheu gegen das Lernen bekam.

Über dies alles dachte Röschen nach, als sie am Abend zuerst in ihrem reizenden Stübchen allein war. Wie viel hatte sie in den paar Stunden im Elternhause erlebt. Auf einmal stand Fräulein Hochberg vor ihrer Seele und alles, was sie beim Abgang gesagt. »Sucht euren Beruf in dem, was euch am nächsten liegt.« Würde Röschen wohl einen Beruf im Elternhause finden? Bei den jüngeren Kindern? Wohl vorderhand nicht. Eltern und Großmutter waren ja da, und Fräulein Linchen, dazu ein kräftiges Dienstmädchen. Sie mußte sich gänzlich den Büchern widmen, sollte anders eine gute Lehrerin aus ihr werden.

Aber welch schöner Gedanke, wieder daheim zu sein und im Daheim ein so schönes Nestchen gefunden zu haben, wie ihr blaues Stübchen es war. Hier konnte sie lernen und Briefe schreiben an ihre Freundinnen; hier konnte sie singen und dichten und was es alles gab in ihrem Sinn. Mit dankbaren Gefühlen gegen Gott und die Eltern legte sie sich den ersten Abend nach ihrer Heimkehr schlafen und spann goldene Zukunftsträume.


 << zurück weiter >>