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17. Kapitel. Der Besuch in Beckedorf

Philipp war versetzt und hatte ein sehr gutes Zeugnis nach Hause gebracht. Das ganze Haus nahm daran freudigen Anteil. Er stolzierte aufgerichteten Hauptes zwischen dem Schwesternchor herum, es war, als ob ein Bann von ihm genommen sei. Nun fühlte er sich innerlich gehoben und befriedigt; die Lust zur Arbeit war nicht nur geweckt, nein, nun trieb und drängte es ihn, vorwärts zu kommen, ja etwas Vorzügliches zu leisten. Er wollte von nun an auf eigenen Füßen stehen und selbständig arbeiten. Er konnte es, denn Gott der Herr hatte ihm Gaben verliehen, die er bisher nutzlos hatte liegenlassen.

»Aber Großmutter«, drängte er, »nun muß ich mein Versprechen einlösen und die Dame besuchen, die sich meiner so freundlich angenommen hat, als ich verirrt und verblendet einherlief, nicht wahr? Wir fahren alle an einem schönen Frühlingstag nach Beckedorf, es ist dort wunderhübsch, sage ich dir. Ich empfand es schon mit meinem bösen Gewissen, nun möchte ich den Ort mit gutem Gewissen sehen und genießen. Vor allen Dingen möchte ich aber der Dame danken für die Wohltat, die sie mir erwiesen. Nicht wahr, Größi, du kommst mit und Röschen auch –«

»Ich könnte meine Freundin Meta besuchen, die auch aus Beckedorf ist und gerade jetzt zu Hause weilt.«

»Aber meiner unbekannten Dame muß ich dich vorstellen, auf jeden Fall«, beharrte Philipp. »Nun meinetwegen, es läßt sich ja alles vereinigen«, war Röschens Antwort, während die Großmutter dachte: »Metas Mutter und die Unbekannte werden wohl ein und dieselbe Person sein.« Sie schlug den beiden Geschwistern vor, den Besuch allein auszuführen, sie daheim zu lassen, aber davon wollte Philipp nichts wissen. »Gerade du mußt meine Wohltäterin kennenlernen, und sie dich, bitte, liebe Großmutter, erfülle mir diese Bitte.«

Die Großmutter gab nach, aber niemand ahnte, wie schwer ihr nach einer langen Reihe von Jahren ein Besuch in ihrem Heimatort wurde, gerade unter den obwaltenden Verhältnissen. Und doch war etwas in ihrem Innern, das sie trieb, die Stätte, wo sie ihre Jugendzeit verlebt hatte, wiederzusehen. Sie hatte ja Röschen von ihren Erlebnissen mitgeteilt, aber vermieden, ihr den Ort zu nennen, wo sich solches zugetragen hatte, weil sie annehmen mußte, daß der Bruder noch lebte.

An einem schönen Frühlingstag in den Osterferien beschloß man, eine Fahrt nach Beckedorf zu unternehmen. Die drei größeren Mädchen sollten daheim bleiben und einmal zeigen, daß sie ohne Großmutter und Röschen fertig werden konnten. Sie rühmten sich dessen sehr, behaupteten, sie könnten den Vater versorgen, die drei Kleinen hüten, Besuche empfangen, auch noch im Garten arbeiten und noch vieles mehr. Großmutter, die den Kleinen auch ein Vergnügen gönnte, bestimmte schließlich, daß Eva und Lieschen mitgenommen werden sollten, Trudchen aber zu Hause bleiben, da sie mit ihren Füßchen nicht so schnell fortkonnte. Sie legte die Kleine den größeren Schwestern sehr ans Herz, bat auch ihren Schwiegersohn, der tief in der Arbeit steckte, sich im Laufe des Nachmittags nach dem jungen Volk umzusehen. Und nun ging's fort, dem nahen Beckedorf zu. Es war das erste Mal, daß Frau Elsner von der Hauptstadt dorthin mit der Eisenbahn fuhr. In einer halben Stunde war es erreicht, während man in früherer Zeit zwei Stunden mit der Post gebrauchte.

Als sie ausstiegen und ins Freie getreten waren, sah Philipp sich unschlüssig um und sagte verlegen: »Ja, nun weiß ich wirklich nicht wohin.« »Du bist mir der Rechte«, meinte Großmutter lächelnd, »erst quälst du mich, ich soll mit dir kommen, und nun muß Großmutter wohl gar den Führer machen.«

»Von hinten müssen wir jedenfalls kommen, dann finde ich es am besten. Wenn wir nur einen Weg entdecken könnten, der zum Bach hinunterführt, dann wäre uns geholfen«, erwiderte Philipp. Die Großmutter sah sich in der Gegend um. Etwa eine Viertelstunde vom Bahnhof entfernt lag das Städtchen mit dem wohlbekannten, spitzen Kirchturm. Dort hinter der Kirche ragte ein hohes Haus besonders hervor; wenn, wie Philipp erzählt hatte, die Dame in der Nähe dieses Hauses wohnte, dann hatten sie noch ein gutes Stück zu wandern. Sie kannte dieses Haus wohl aus der Kinderzeit; wie oft hatte sie es bei weiten Spaziergängen vor allen andern Häusern herausgefunden, das Haus mit dem hohen Ziegeldach und den stattlichen Schornsteinen. Sie konnte den Kindern nicht sagen, wie wohl und wehe ihr ums Herz war beim Anblick der alten geliebten Heimat.

»Großmütterchen, du bist so in Gedanken versunken«, sagte Röschen, während Philipp, der ein Stück gelaufen war, um die Gegend zu erkunden, triumphierend zurückkam, mit dem Bescheid, dort führe ein Weg gerade zum Bach hinunter, sie wollten ihn doch gehen, es sei so schön dort. So gingen sie miteinander; die beiden Kleinen trabten munter voran; Philipp, welcher der Großmutter ritterlich den Arm geboten, folgte mit ihr und der Schwester. Bald waren sie unten am Bach, wie wonnig, wie schön war es hier; die Sonne schien warm und freundlich und lockte die kleinen Frühlingsblumen heraus. »Veilchen«, jubelte Röschen, »Großmutter, hier gibt's Veilchen.« Sie bückte sich im Weitergehen mit den Schwesterchen, um für die Großmutter ein Sträußchen zu pflücken. Die Vöglein sangen und flogen munter von Ast zu Ast, an den Erlen und Birken hingen schon hübsche grüne und braune Kätzchen malerisch herunter. Frühlingsluft und Frühlingsduft erfüllte die Welt. Das Bächlein floß plätschernd über Steine dahin, und Großmütterchen wischte sich heimlich eine Träne aus dem Auge. So war es gerade in ihrer Jugendzeit auch gewesen, wenn sie mit ihren Freundinnen hier gespielt und Frühlingsblumen gepflückt hatte. Sie näherten sich immer mehr dem Städtchen; nun waren sie den Häusern gegenüber, die aber von ihnen durch die Gärten, welche sich bis an den Bach hinunterzogen, getrennt waren. Immer weiter wanderten sie und immer mehr klopfte der Großmutter das Herz. Dort war die hohe graue Mauer, die ihren Garten begrenzte, darüber ragten die großen Bäume, in deren Schatten sie gewandert, die ihre Lust und ihr Leid gehört, die ernst ihre Häupter geschüttelt hatten, als sie den letzten Abend vor ihrem Abschied ihren Tränen hier freien Lauf gelassen hatte. Doch hinweg mit den trüben Erinnerungen, eben beugt sich Philipp über sie und sagt: »Großmutter, du bist so traurig, gewiß über mich. Du denkst daran, wie ich hier mit dem bösen Gewissen als Ausreißer in triefendem Regen gewandert bin, aber es ist ja nun anders geworden. Sieh, Großmütterchen, nun sind wir gleich da, hier muß ich aber deinen Arm freigeben, an der Mauer ist der Weg so schmal, wir müssen hintereinander gehen. Die Kleinen sind so fix, sieh nur, die laufen schon dahin, als kennten sie den Weg lange.«

»Fremde Kinder«, flüsterte eine Knabenstimme in dem kleinen, uns schon bekannten Gärtchen, das an den großen Garten grenzte. »Sieh nur, Mariechen, zwei kleine niedliche Mädchen.« Mariechen sah sie und lächelte den Bruder an. »Ob sie wohl zu uns kommen?« Eva und Lieschen blieben verlegen stehen und sahen sich nach den übrigen um. »Seid ihr allein hier?« fragte Martin. »Großmutter kommt auch«, sagte Eva ganz dreist, während das schüchterne Lieschen sich hinter ihrer älteren Schwester versteckte. Nun kam Röschen zum Vorschein; sie nickte den Kindern freundlich zu und sagte: »Ihr bringt wohl eure Beete schon in Ordnung?« Dann sich nach Philipp umsehend, rief sie: »Ist es hier?« worauf dieser nickte, der Großmutter die Hand reichte, weil es einen kleinen Graben zu überspringen gab, und zu den Kindern sagte: »Kennt ihr mich noch?« Die Kleinen stutzten einen Augenblick, dann nickte der Knabe verständnisvoll. Sie erkannten Philipp wieder als den jungen Mann, der an jenem Sonntagmorgen mit ihnen in der Laube Kaffee getrunken hatte.

»Können wir eure Mutter sprechen?« fragte Philipp. Kaum war die Frage ausgesprochen, so flog Martin wie ein Pfeil davon. Es währte nicht lange, da kam er in Begleitung seiner Mutter zurück. Philipp ging der Dame bis auf den Hof entgegen und sagte mit höflicher Verneigung: »Ich komme, meiner Wohltäterin noch einmal zu danken. Sie haben mir an jenem Herbstabend Schutz und Obdach gewährt, mir aber auch, was noch viel mehr wert war, wieder zurechtgeholfen, ich kann es Ihnen nie genug danken.«

Frau von Wrede streckte, als sie Philipp erkannte, ihm gleich die Hand entgegen und schüttelte die seine herzlich. Sie freute sich aufrichtig, daß es ihm Ernst gewesen mit seinem Versprechen, daß er Lust und Freude am Lernen gewonnen. Als sie den kleinen Garten betraten, stellte er Großmutter und Schwester, die sich einstweilen mit den Kindern unterhalten hatten, vor.

Kaum hatten sich die Damen prüfend angesehen, als Frau von Wrede der Großmutter die Hand reichte, mit den Worten: »Ich glaube, in Ihnen die Dame zu erkennen, die mich vor etwa neun Jahren im Schnee fand und mir ein so freundliches Unterkommen gewährte.«

»Ich komme, Ihnen zu danken, liebe Frau –« »Von Wrede ist mein Name«, – »liebe Frau von Wrede, für das, was Sie an meinem Enkel getan haben.« »Wir sind quitt«, sagte Frau von Wrede lächelnd, »die Wohltat, die Sie mir und meinen Kindern erwiesen, war größer als die, welche ich dem jungen Mann angedeihen ließ. »Liebe um Liebe«, meinte Frau Elsner freundlich. »Wir wollen die einander erwiesenen Guttaten nicht abwägen und messen, sondern wollen uns untereinander liebhaben, das ist das Beste.«

Es gab ein großes Staunen und Wundern unter den Kindern, als sie sich gegenseitig erkannten. Martin konnte sich nur ganz dunkel entsinnen, einmal im Schnee umgeworfen zu sein, Röschen aber und Philipp wußten es noch genau, wie die fremde Dame mit den beiden kleinen Kindern im Winter mit der Großmutter angekommen war. Sie hatten noch oft davon gesprochen.

Nun wäre es natürlich gewesen, daß Frau von Wrede die alte Dame ins Haus genötigt hätte, um sich nach dem Wege auszuruhen. Sie zögerte jedoch, wurde verlegen und meinte, ob es wohl in der Laube zum Sitzen möglich sei. Großmutter erwiderte, daß sie gern im Freien säße, sie sei jedoch etwas warm vom Gehen und würde dankbar sein, sich im Zimmer auszuruhen. Die Kinder könnten jedoch im Garten bleiben und Röschen und Philipp – »Meine älteste Tochter ist auch zu Hause, ich vermute, Sie kennen sich« – »Ist es Meta? Ja natürlich, es kann nicht anders sein. Als ich Ihren Namen hörte, Frau von Wrede, glaubte ich schon, daß Sie Metas Mutter seien. Wo ist sie?« »Sie ist drinnen«, antwortete Frau von Wrede, wieder errötend und ging mit dem Besuch ins Haus. Röschen und Philipp folgten mit einer gewissen Neugierde. Dies war also Metas Heim. Dann mußte ja auch der alte Großvater, vor dem die Familie in beständiger Furcht schwebte, zu sehen sein. Die Großmutter betrat unter leisem Kopfschütteln das kleine Haus, immer Seitenblicke nach dem düstern, grauen Hause werfend. Dies Häuschen war zu ihren Zeiten die Gärtnerwohnung gewesen; die vorderen Zimmer hatten zur Aufbewahrung des Obstes gedient, in den hinteren hatte der Gärtner Wilken mit seiner Frau gewohnt. Wie oft war sie als Kind zu dieser Tür hineingeschlüpft und hatte die gute Frau Wilken besucht, die stets schöne Früchte oder Blumen für sie bereit gehabt hatte. Und nun dienten diese kleinen Räume zur Behausung ihres Bruders und seiner Familie. Wohin der Geiz den Menschen führt!

Frau von Wrede öffnete die Tür ihres kleinen Wohnzimmers und lud Frau Elsner ein, näher zu treten, doch war eine gewisse Ängstlichkeit in ihrem Benehmen nicht zu verkennen. Am Fenster saß ein junges Mädchen, welches über und über erglühend sich erhob und überrascht ausrief: »Oh, Frau Elsner, Sie besuchen uns! Und auch du, Röschen! « Großmutter und Enkelin begrüßten Meta auf das herzlichste, und erstere sagte lächelnd: »Siehst du, Röschen, nun brauchst du deine Freundin nicht aufzusuchen, jetzt bleiben wir alle zusammen.« Die Frauen nahmen auf dem Sofa Platz, während die jungen Mädchen sich ans Fenster setzten. Die Großmutter hatte eine laute, kräftige Stimme, Frau von Wrede antwortete im Flüsterton, auch Meta sprach gedämpft und wurde ein über das andere Mal rot. Frau Elsner, der das Flüstern auffiel, sagte eben: »Sie sprechen so leise, liebe Frau von Wrede, schläft hier jemand?« als die Tür, die ins vordere Zimmer führte, heftig aufgerissen und der Name »Wilhelmine« herrisch gerufen wurde. Frau von Wrede stand erschrocken auf und ging zu ihrem Vater. Kaum war sie dort, so hörte man eine laut scheltende, männliche Stimme. Man vernahm deutlich die Worte: »Sofort läßt du die fremden Leute gehen, ich will keinen Besuch, wie oft soll ich dir das sagen. Ist es nicht genug, daß ich dich und die ganze Familie durchfüttere? Wenn du meinen Wünschen nicht nachkommst, kannst du mit deinen Kindern gehen, wo du hergekommen bist.«

Ein lauter Knall erfolgte, als ob eine Tür zugeschlagen wurde. Dann erschien Frau von Wrede blaß und aufgeregt; sie wußte, ihr Besuch hatte alles gehört. Frau Elsner stand auch schon wie zum Gehen bereit, anstatt sich aber nach der Ausgangstür zu bewegen, schritt sie furchtlos, aufgerichteten Hauptes auf die Mitteltür zu. Frau von Wrede rief erschrocken: »Sie wollen doch nicht – um Gottes willen, bleiben Sie hier! Sie wissen nicht – Sie kennen ihn nicht« –!

Frau Elsner schob Frau von Wrede sanft beiseite und betrat furchtlos das vordere Zimmer, in demselben Augenblick, als der Bruder seine Schlafstubentür zuwarf und wieder das Wohnzimmer betrat. Sie blieb erhobenen Hauptes an der Tür stehen, sah den alten Herrn scharf an und sagte: »Konrad«, sie nannte ihn absichtlich bei seinem Vornamen, »die fremden Leute haben ein Recht, hier zu sein, man verlangt von dem Herrn des Hauses anständige Behandlung, man verlangt, daß derselbe sich ruhig verhält und gegen seine Tochter kein unschönes Wort verliert.«

Er starrte sie an, als ob er eine Erscheinung aus der Geisterwelt vor sich habe. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, blieb aber stumm und griff nach einem Stuhl. Als er wieder aufsah, war sie verschwunden.

»So, meine Liebe«, sagte sie äußerlich ruhig, »nun wollen wir uns setzen, wir werden durch Ihren Vater nicht mehr beunruhigt werden. Sie haben die Absicht, uns eine Tasse Kaffee anzubieten; ich nehme eine Erquickung mit Dank an, denn ich bin etwas erschöpft.« Sie lehnte sich einen Augenblick ins Sofa zurück, überwältigt von den gehabten Eindrücken, aber sie war eine starke Natur und verstand es, sich zu beherrschen.

Frau von Wrede sah noch immer mißtrauisch nach der Tür, als müßte sie sich jeden Augenblick wieder öffnen, aber es blieb alles still, kein Laut war hörbar. So gewann sie wieder Mut und setzte sich zu ihrem Besuch, während Röschen und Meta Kaffee einschenkten und dann zu den Kindern in den Garten gingen. »Woher nahmen Sie den Mut, meinem Vater entgegenzutreten, liebe Frau Elsner?« »Fragen Sie mich nicht, liebe Freundin, es kam über mich, ich konnte nicht anders. Doch nun erzählen Sie mir von Ihrem Leben, von Ihrer Mutter, Ihren Geschwistern.«

»Geschwister hatte ich keine«, antwortete Frau von Wrede, die immer wieder einen Blick nach der Tür warf, »ich war einziges Kind meiner Eltern und hatte, solange meine Mutter lebte, eine glückliche Jugend.« »Hatte – hatte die Mutter sehr zu leiden unter den Sonderbarkeiten, oder wollen wir es bei dem rechten Namen nennen, unter dem Geiz des Vaters?« »Ich glaube wohl, doch hat sie nie geklagt. Sie hatte selbst Vermögen und tat viel Gutes, besonders wenn mein Vater verreist war. Da wurde Brot gebacken für die Armen und Essen verteilt unter die Kranken des Ortes. Leider starb meine Mutter schon, als ich siebzehn Jahre alt war, und der Vater war darauf bedacht, mich sobald wie möglich an einen begüterten Mann zu verheiraten. Leider täuschte er sich, denn der Mann, den er für mich ausersehen hatte, war nichts weniger als wohlhabend. Hauptmann von Wrede war ein Spieler« –

»Sie arme Frau, wieviel Schweres haben Sie erlebt.«

Frau von Wrede nickte und Tränen rannen über ihre Wangen. »Glücklich war ich nur in meiner Jugend, bei Lebzeiten meiner Mutter. Doch nein, bei allem Schweren, das mich trifft, genieße ich das Glück, gute Kinder zu haben. Wollte nur Gott, ich könnte für meinen Martin etwas tun; er ist ein so lieber, fleißiger Junge, von großer Begabung, sein höchster Wunsch ist, ein Gymnasium zu besuchen. Ich habe nicht die Mittel und sein Großvater – nun Sie wissen ja, daß er kaum das gibt, was unumgänglich nötig ist.«

»Hatte – hatte dieser Großvater Geschwister?«

»Soviel wie ich weiß, nicht. Die Leute wollen wissen, er habe eine Schwester gehabt, doch weiß ich nie, daß meine Mutter eine solche erwähnt hat. Vielleicht ist sie jung gestorben, jedenfalls existiert jetzt keine.« Es zuckte eigentümlich um die Mundwinkel der Großmutter. Aber sie schwieg. Sollte sie sich entdecken und damit der Tochter bloßlegen, wie schlecht der Vater an ihr gehandelt hatte? Nein, sie wollte schweigen und die Sache Gott befehlen.

Jetzt kamen kleine Füßchen. Frau von Wredes Gesicht nahm wieder einen ängstlichen Ausdruck an, als Eva und Lieschen ins Zimmer kamen und laut jubelten: »Größi, sieh nur die hübschen Blumen. Martin und Mariechen haben uns pflücken helfen, wir wollen sie morgen auf Muttis Grab legen. Es ist wunderschön hier, Größi, wir möchten wohl immer hier bleiben.« Martin und Mariechen blieben zaghaft an der Tür stehen; auch ihre Blicke richteten sich, gleich denen der Mutter, nach der Tür des Großvaters, aber keine Szene erfolgte, es blieb alles still. Und Großmütterchen fürchtete sich nicht; sie blieb ruhig in der Sofaecke sitzen, sprach mit den Kindern, rief Martin und Mariechen zu sich und redete lieb und freundlich mit ihnen, was ihr die Herzen schnell gewann. Dann aber mahnte sie zum Aufbruch, »denn« – sagte sie »wir müssen den jungen Pfarrer Bruger noch besuchen, er würde es uns ja nie verzeihen, wenn wir hier in Beckedorf gewesen und an der Pfarre vorübergegangen wären. Wo sind die jungen Mädchen und Philipp?«

»Sie sind im Garten, sollen wir sie rufen?« fragten die Kinder. »Wir gehen mit«, war der Großmutter Antwort. Und alle verließen das Zimmer.

Als sie über den Hof schritten, sah eine lange, hagere Gestalt ihnen nach. Herr Goldewein hatte gehört, daß man aus dem Zimmer ging; er kam sofort herein und stellte sich ans Fenster hinter die Gardine. »Ich muß heraus haben, wer diese Alte war, die mich so erschreckt hat. Die Augen waren dieselben wie damals; sie sahen mich gerade so an, und die Stimme war auch dieselbe, aber das Alter hat das Gesicht verändert. Ist sie gekommen, um ihr Erbe zu holen? Ja, diese Haltung hatte sie, immer stolz und hochaufgerichtet. Wie kann sie mich so erschrecken! Ist sie es oder ist sie es nicht? Ich denke, sie ist lange tot, habe in vierzig Jahren nichts von ihr gehört. Nun ist sie auf einmal da und macht sich hier breit.« Sein Gesicht nahm einen angstvollen Ausdruck an. Er sah ihr nach, so lange sie zu sehen war, und als sie im Gärtchen verschwanden, humpelte er zurück in sein Zimmer, tastete an den Schränken, ob alles wohl verwahrt sei, und schlürfte dann weiter ins andere Zimmer, wo er noch mehr Schätze verborgen zu haben schien.

Gegen seine Tochter aber äußerte er nichts über den heutigen Besuch, worüber diese ebenso erstaunt war wie über der Großmutter mutiges Vordringen.


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