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27. Kapitel. Fahrtunterbrechung

Aber sie nahmen ein Ende, wie alles in der Welt. Als Emmi, Nanni und Miezi Abschied genommen hatten und wieder in der Bahn saßen, da erwachte auch die Freude an der Heimat, auf Großmutter, Vater und Geschwister. Lang war die Fahrt, doch sie waren am frühen Morgen abgereist und konnten nachmittags daheim sein.

Bei der Station Beckedorf rief eine bekannte Stimme, nachdem der Schaffner die Tür geöffnet hatte: »Halt, hier wird ausgestiegen!« Philipp stand vor den erstaunten Mädchen und verkündigte ihnen, sie wären alle, außer Vater und Röschen, beim Herrn Pfarrer, die Mädchen sollten auch hinkommen, mit dem Abendzug würde nach Hause gefahren. Eine neue, freudige Überraschung; nur Philipp war wenig freudig überrascht durch die Menge von Handgepäck, das die Schwestern mit sich führten. Da gab es Schachteln und Hüte, Honigbüchsen, Tüten und Schirme. »Beinahe hätten wir noch zwei lebendige weiße Tauben mitgebracht, aber die soll Georg – nein, Herr Koch – mitbringen.«

»Das hätte noch gefehlt«, brummte Philipp, der sich von den Schwestern die Arme vollpacken ließ. »Hört«, sagte er, »wir lassen alles beim Pförtner und gehen anständig durch die Stadt.« »Aber der Honig«, sagte Miezi ängstlich. »Denkst du, daß er die Büchse aufmacht und daran leckt?« Mit diesen Worten verschwand er mit sämtlichem Gepäck und kam frei und ledig wieder. »So, nun kommt, ihr Schwestern, und erzählt.« Dieser letzten Aufforderung kamen sie in reichem Maße nach, Philipp mußte nur immer wieder bitten, daß sie nicht alle drei auf einmal sprechen möchten.

Herr Pfarrer war mit Großmutter und den drei Kleinen im Garten. Das gab ein frohes Wiedersehen, Großmütterchen sagte immer wieder, wie sie sich freue, ihre drei lustigen Mädchen wiederzuhaben. Diese hatten sich gleich der kleinen Schwestern bemächtigt, jede nahm eine derselben auf den Schoß und erzählte ihr, was sie ihr mitgebracht habe, und wie sie morgen beim Auspacken des großen Koffers alle drei helfen sollten. Das interessierte die Kleinen so, daß sie wünschten, sofort nach Hause zu fahren; das Warten bis zum andern Morgen schien ihnen eine Ewigkeit.

»Macht mir die Kleinen nicht abspenstig«, sagte der Pfarrer. »Wir gehen jetzt hinein und sehen uns schöne Bilder an, während Großmutter zu Frau von Wrede geht.«

»Sollen wir dich begleiten, Großmutter?« »Nein, ich gehe allein, ich bringe Martin und Mariechen mit.«

Frau Elsner ging allein, diesmal den wohlbekannten Weg durch die Stadt. Vieles hatte sich verändert, viele neue Häuser waren an die Stelle der alten getreten, aber manches Alte war noch vorhanden. Ob sie wohl noch einige von den Bewohnern des Ortes kennen würde? Langsam wanderte sie die Hauptstraße entlang. Dort war noch das alte Eckhaus mit dem Giebel nach der Straße, wo der Kaufmann Teichen wohnte. Die Firma war noch dieselbe, aber ein neues Schild war da, in vergoldeten Buchstaben prangte das »J. F. Teichert und Sohn«. Es war ein Tuch- und Kurzwarengeschäft; einige Kleinigkeiten mußte Großmutter hier kaufen, schon um der Erinnerung willen. Wie oft war sie vom Mütterchen in diesen Laden geschickt worden, um Zwirn, Wolle, Steck- und Nähnadeln zu kaufen. Gewöhnlich bekam sie vom freundlichen alten Herrn etwas zu: bunte Wolle oder Kattunreste, woraus die schönsten Puppenkleider gefertigt wurden. Der alte Teichert war natürlich längst tot, sein Sohn war ungefähr in ihrem Alter gewesen, der konnte also noch leben, von der jüngeren Generation wußte sie nichts.

Als sie den Laden betrat, stand eine allerliebste junge Frau hinter dem Ladentisch; an der andern Seite, wo die Kleiderstoffe verkauft wurden, stand ein Lehrling; in dem angrenzenden Kontor, dessen Tür offen war, saß der Herr des Geschäftes und schrieb.

Frau Elsner verlangte etwas Strickwolle. Die junge Frau holte das Gewünschte, knüpfte aber, von Neugierde getrieben, sogleich ein Gespräch mit der alten Dame an, die, wie sie genau wußte, nicht im Städtchen wohnte, sondern eine Fremde war.

»Sie sind nicht von hier«, sagte sie, »man hört es gleich an der Sprache.« »Das ist möglich«, sagte Frau Elsner, »ich habe lange im Auslande gelebt. Sagen Sie doch, wer wohnt dort in dem großen, grauen Hause schräg gegenüber? Es macht mit seinen verschlossenen Läden einen toten Eindruck.«

»Das Haus gehört dem reichsten, aber auch dem geizigsten Manne der Stadt, dem Herrn Goldewein.« Sie erzählte nun der Großmutter allerlei, was wir bereits wissen, und fügte hinzu: »Der alte Großvater meines Mannes, der vor etlichen Jahren gestorben ist, wollte wissen, daß der alte Geizhals eine Schwester gehabt habe, die er mit ihrem Verlobten aus dem Hause getrieben, ohne ihr einen Pfennig zur Aussteuer zu geben – aber, ob es wahr ist? Die Leute reden viel, und übertrieben wird auch. Wahr ist aber, daß er seine Tochter, die Frau Hauptmann, schlecht behandelt, ihr und ihren Kindern nichts gönnt. Ja«, fuhr sie fort, »er gönnt sich ja selbst nichts, nicht einmal die frische Luft. Man sieht ihn fast nie auf der Straße, er soll ja aber mitunter in seinem großen Garten herumspazieren –« »Ich denke, er hat das Haus verkauft.« »Behüte, das gehört ihm, er wohnt nur nicht darin, damit die Leute ihn nicht für reich halten sollen und ihn anbetteln.« »Der arme Mann«, sagte die Großmutter. »Ja, wirklich arm, das sage ich auch, was nützt ihm und andern das Geld, wenn er es so festhält.«

Inzwischen war die Wolle eingewickelt und bezahlt. Frau Elsner wollte eben den Laden verlassen, als eine Kuckucksuhr aus dem Kontor die vierte Stunde rief. Da rief Großmutter überwältigt aus: »Was, die alte, gute Uhr lebt auch noch!« Die Frau sah sie verwundert an. »Ja, die Uhr ist sehr alt, noch von unsern Großeltern her; aber woher kennen Sie sie?« »Ich war früher schon einmal in diesem Laden«, war die Antwort. »Zufällig ist jetzt der neue Pfarrer ein Bekannter von mir, darum komme ich öfter hierher.« Das war ein Anhalt. Frau Teichert kannte die alte Frau Meier, die beim Herrn Pfarrer die Aufwartung hatte, von dieser konnte sie leicht erfahren, wer die alte, freundliche Dame sei.

Frau Elsner ging gedankenvoll weiter. Jetzt stand sie dem alten Hause gegenüber. Welche Gedanken erweckte es in ihr! Wie oft hatte sie auf den Stufen vor der Haustür gesessen und ihrem Gegenüber im kleinen Häuschen, »Schuhmachers Kathrine«, gewinkt, daß sie kommen möchte und mit ihr spielen im großen, schönen Garten. Sie sah sich nach dem Häuschen um. Da saß auf der Bank ein Mütterchen mit grauem Haar, das strickte. Unwillkürlich nickte sie ihr zu, so daß diese sagte: »Sie sind wohl müde, Frau, wollen Sie sich ein wenig mit hersetzen?« Sie rückte ein Stück weiter auf der Bank, als ob sie Platz machen wollte, aber Frau Elsner sagte: »Danke schön, Mütterchen, ich muß weitergehen.« Das Mütterchen stutzte, es war ihr, als ob sich beim Klang der Stimme irgend etwas in ihrem Innern rührte, sie wußte aber nicht was.

Großmutter aber wußte jetzt ganz genau, daß sie Katharine vor sich habe; sie hätte am liebsten ihren Namen gerufen, doch es war besser, sie blieb unerkannt und verschollen.

Sie sah wieder nach dem alten Hause hinüber, da bemerkte sie, daß unten im Parterre ein Laden halb geöffnet war und daß jemand am Fenster stand, der sie scharf zu beobachten schien. Sobald sie aber die Person näher ins Auge faßte, wurde der Laden wieder geschlossen. »Das war er!« seufzte sie, sollte sie zu ihm gehen und sich zu erkennen geben? Sie wollte es auf einen Versuch ankommen lassen, erst aber sehen, wie es Frau von Wrede ging. Sie fand diese mit den Kindern im Hof unter einem Walnußbaum sitzend. Das Mariechen strickte, während Martin der Mutter und ihr vorlas. Ein Bild des Friedens, während das düstere, geschlossene Haus und der alte, finstere Mann hinter dem halb geöffneten Laden ihr wie ein Bild des Unfriedens, der Ruhelosigkeit erschien.

»Hier gefällt mir's besser als vorn, meine liebe Frau von Wrede, lassen Sie mich auch ein Weilchen unter dem guten, alten Walnußbaum sitzen. Wie oft! – Nachher wollte ich Sie und die Kinder mit mir in die Pfarre nehmen.« »Sind Sie dort heute zum Besuch?« fragte Frau von Wrede sanft. »Ich bin nicht allein, alle meine Kinder, bis auf Röschen, die beim Vater bleiben mußte, sind dort; es herrscht Leben und Frohsinn bei unserm lieben Bruger, nur Sie und die Kinder fehlen; ich komme, Sie zu holen.« Frau von Wrede schüttelte den Kopf. »Mein Vater würde sehr ungehalten sein, wenn ich fortginge; ich muß hier Aufsicht führen.« »Sie können ja zuschließen, dann kann niemand herein.« Frau von Wrede schüttelte den Kopf. »Lassen Sie mich hier«, bat sie, »nehmen Sie die Kinder mit.« »Wir haben es uns heute einmal in den Kopf gesetzt, daß Sie mit uns ein Stündchen im Pfarrgarten sitzen sollen. Ich will hineingehen und Ihrem Vater sagen, daß er Ihnen Urlaub gibt.« Mit diesen Worten schickte sie sich an, ins Haus zu gehen. Angstvoll folgte Frau von Wrede ihr. »Bitte, tun Sie es nicht, liebe Frau – wie ist doch Ihr werter Name?« »Elsner.« »Bleiben Sie hier, Frau Elsner, er ist heute in sehr übler Laune. Das ist er immer, wenn es ins große Haus hinübergeht.« »Ist denn das kleine mit dem großen verbunden?« fragte Frau Elsner verwundert; sie wollte hinzusetzen: das war früher nicht, besann sich aber rechtzeitig. »Mein Vater hat die Verbindung herstellen lassen durch eine Tapetentür, die er aber nur für sich benutzt. Ich weiß es erst seit kurzer Zeit, da ich zufällig dazu kam, als er dabei war, einen kleinen Schrank, der gewöhnlich davorsteht, beiseite zu schieben.« Die Großmutter schüttelte den Kopf und schwieg. Nach einer Weile sagte sie: »Ich sehe, daß Sie mich nicht gern zu Ihrem Vater lassen, obwohl ich mich nicht vor seinem Zorn fürchte, gehen Sie selbst und sagen Sie ihm: Frau Therese Elsner sei hier und lasse bitten, daß er Sie und die Kinder diesen Nachmittag beurlaube zu einem Besuch in der Pfarre.«

Da Frau von Wrede sah, daß Frau Elsner ihre Begleitung sehr zu wünschen schien, ging sie zögernden Schrittes, in der festen Zuversicht, abschlägige Antwort und eine Portion Schelte zu bekommen. Aber siehe, der Herr Goldewein, der bereits wieder in seinem gewöhnlichen Wohnzimmer saß, rief, als die Tochter die Bestellung ausrichtete: »Ja, ja, geht nur, schließt aber sicher zu und kommt nicht zu spät wieder.« »Wunderbar«, äußerte Frau von Wrede, »daß mein Vater so schnell und willig seine Erlaubnis gab, ich hätte es heute nicht erwartet.«

Die beiden gingen nun miteinander. Die alte Kathrine saß noch vor der Tür und sah ihnen nach. »Wer kann nur die alte Dame sein«, murmelte sie. »Es ist mir, als müßte ich einmal jemand gekannt haben, der ihr ähnlich sah. Nein, nein, ich bring's doch nicht heraus, es ist nichts damit.«

Martin und Mariechen schritten froh hinter den Damen her. »Siehst du, Mariechen, nun kommst du auch einmal in den schönen Pfarrgarten; du hast es dir immer gewünscht«, sagte der Knabe zum Schwesterchen.

Der junge Pfarrer und seine Aufwärterin liefen hin und her; sie konnten sich gar nicht genug tun, um es dem Besuch angenehm zu machen. Emmi, Nanni und Miezi waren heute recht ruhig und gesetzt; es mochte wohl etwas Reisemüdigkeit sein. Und doch war das Interesse groß für Herrn Pfarrers Haus und Garten. Bruger erklärte, diesen Besuch rechne er nur für einen halben; sie müßten bald mit der Großmama wiederkommen.

Als der Tag zur Neige ging und die alte Dame mit allen ihren Küchlein glücklich im Dampfwagen saß, war sie froh; es hatte noch manche Unruhe gegeben, bevor das umfangreiche Handgepäck der drei Reisenden sicher untergebracht war.

Herr Goldewein hatte aufgeatmet, als er die Tür hinter sich schließen hörte. Er war froh, daß das Gesicht, welches ihn seit einiger Zeit verfolgte, glücklich wieder seinen Augen entschwunden war. Es wurde ihm immer mehr zur Gewißheit, daß seine Schwester noch lebte und daß er sie wirklich gesehen hatte. »Frau Therese Elsner« – so hatte seine Tochter gesagt. »Therese« hieß seine Schwester, den Namen des Mannes, der sie damals hatte heiraten wollen, hatte er vergessen. Er öffnete seinen Sekretär und wühlte in einem verborgenen Fach zwischen alten, vergilbten Papieren. Jetzt hatte er etwas, das ihm Aufschluß geben konnte, ihre Verlobungsanzeige. Therese Meder – ihres Vaters Name und Philipp Elsner – Verlobte. Da hatte er es schwarz auf weiß. Also Frau Therese Elsner – es konnte kein Zweifel sein. Sie war alt und grau geworden, aber immer noch eine schlanke, stattliche Erscheinung. Sie mußte ihrem Ansehen nach in ganz guten Verhältnissen leben, er hätte doch wissen mögen, wo und wie? Ob sie sich wohl seiner Tochter zu erkennen gab? Dieser hatte er ja nie von einer Schwester gesagt, ebensowenig wie seiner Frau, mit der er sich bald nach seiner Schwester Fortgang verlobt hatte.

Unruhig ging er in seinem Zimmer auf und ab, ärgerlich stampfte er mit dem Fuß auf. »Dumme Geschichte, das fehlte noch. Sie darf nicht wieder ins Haus kommen. Schickt mir am Ende noch Advokaten und Gerichtspersonen auf den Hals. Das Geld gebe ich nicht heraus.« Dabei griff er in seine Tasche und fühlte, ob der Schlüssel zum Geldschrank auch noch wohlverwahrt darin steckte.

Am Abend fragte er seine Tochter, wer die alte Dame sei, die hier seit einiger Zeit ins Haus komme, ob sie hier wohne und was sie hier wolle. Frau von Wrede berichtete, daß ihr Schwiegersohn Oberpfarrer in der Residenz sei, und sie, da die einzige Tochter gestorben, ihre Enkelkinder erziehe. Weiter wisse sie auch nichts von ihr. Ob sie ihr denn nicht erzählt habe, wo sie her sei, wer ihre Eltern gewesen usw. »Ihre Eltern?« wiederholte Frau von Wrede befremdet. »Danach habe ich sie allerdings noch nicht gefragt; ich weiß nur, daß sie lange in Holland gelebt hat und ihr Mann dort gestorben ist. Sie ist überdies erst heute zum zweitenmal hier gewesen –«

»Und ich wünsche, zum letztenmal«, rief Herr Goldewein, wesentlich beruhigt. »Ich habe dir ein für allemal gesagt, daß ich den vielen Besuch nicht dulde. Du wirst dich hoffentlich meinen Wünschen fügen, da du weißt, daß ich ganz für dich und deine Kinder sorgen muß.«

Frau von Wrede seufzte. Viel kostete es allerdings den Vater nicht, daß er sie da hatte. Hätte er eine fremde Wirtschafterin, welcher er Gehalt zahlen müßte, würde ihn der Haushalt teurer zu stehen kommen. Sie seufzte und schwieg; es war das Beste, was sie tun konnte. Als der Vater sich zurückgezogen hatte, schrieb sie an Meta. Sie erzählte von dem sonnigen Nachmittag im Pfarrgarten, von der liebenswürdigen Frau Elsner und deren Enkeln, von Martins lateinischen Stunden beim Herrn Pfarrer, und unter dem Schreiben vergaß sie das Schwere ihrer Lage und empfand, wieviel Grund sie immer noch hatte, dankbar zu sein für alles Gute, das der Herr ihr gegeben.


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