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13. Kapitel. Umkehr

Es war Sonntagnacht, kurz vor zwölf Uhr. Eine tiefe Stille herrschte im Pfarrhause. Nach der großen Aufregung war Erschöpfung eingetreten. Die Natur forderte ihre Rechte. Der Oberpfarrer fühlte nach den äußeren und inneren Anstrengungen das Bedürfnis nach Ruhe. Er hatte selbst nicht geglaubt, daß er schlafen werde, aber er schlief tief und fest. Ebenso erging es dem Vikar. Großmutter hatte zwar ihr Licht ausgelöscht, aber sie lag mit wachen Augen und mit gefalteten Händen, und flehte zu Gott, daß Er sich des armen, irregeleiteten Knaben erbarmen und sein Herz lenken wolle, daß er sich wieder zur Heimat kehren möchte.

Nur bei Röschen brannte noch die Lampe. Sie konnte sich nicht entschließen, zu Bett zu gehen. Je länger Philipp ausblieb, um so banger wurde ihr. Wo konnte er nur sein? Es war doch undenkbar, daß er sich sollte ein Leid angetan haben? Sie schauderte. Da knisterte etwas leise gegen das Fenster. Es waren wohl die Zweige des wilden Weines, die sich bei jedem Luftzug bemerkbar machten. Warum erschrak sie heute darüber? Da – wieder! Ein deutliches Knistern, nur stärker als das erstemal, es war, als ob jemand Sand oder Kies ans Fenster würfe. Nun wurde sie aufmerksam. Das war kein Wind, kein Luftzug, es wurde deutlich ein Steinchen ans Fenster geworfen. Sie stand ein Weilchen beklommen, ängstlich da – dann kam ihr ein Gedanke – entschlossen ging sie ans Fenster, öffnete und lauschte hinaus. Dort unten regte sich etwas und verschwand im Busch, das war sicher. Sie rief in den Garten hinunter: »Ist jemand da?« Da raschelte es in den Büschen, eine dunkle Gestalt kam hervor und »Röschen, bist du's?« kam es von zagenden Lippen. »Er ist es«, jubelte es in ihr, »er ist es, o mein Gott, ich danke dir.« »Philipp, bist du's?« rief sie hinunter. »Ich bin es, Röschen, kannst du mich einlassen?« »Verhalte dich ganz ruhig, ich komme, komme gleich.«

Leise, auf weichen Schuhen, ging sie die Treppe hinunter ins Haus, von da in die Gartenstube. Der Schlüssel zur Verandatür war abgezogen; der Vater pflegte ihn mit in sein Schlafzimmer zu nehmen. Sie öffnete leise das Fenster der Gartenstube; Philipp stand schon davor. »Hier hinein, mein Junge, du kannst gut klettern.« Sie brauchte es nicht erst zu sagen, eins, zwei, drei, da war er schon. Sie konnte nichts sagen als »Philipp!«, dann kamen Tränen. Aber in aller Bewegung behielt sie doch den Kopf oben.

»Ziehe deine Stiefel aus und komme in mein Zimmer, damit uns niemand hört.« Leise, wie sie gekommen, huschten die beiden hinauf, sie voran mit der Lampe, Philipp mit den Stiefeln in der Hand, demütig hinterher. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, fand sie die Worte. Sie leuchtete ihm mit der Lampe ins Gesicht und flüsterte: »Philipp, mein Junge, wie siehst du aus, du bist ja ganz verändert. Wie konntest du das tun, du hast deinen Vater bald an den Rand des Grabes gebracht.«

Philipp warf sich auf einen Stuhl und legte beide Hände vors Gesicht. »Röschen, sag mir nicht so etwas, du bringst mich in Verzweiflung. Es war schon eine Tat der Verzweiflung, daß ich floh. Meine Umkehr ist mir blutsauer geworden, ich hatte es der Dame mit der Hand versprochen.«

»Welcher Dame?« »Wie sie heißt und wer sie ist, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß sie mich mit sicherer Hand auf den Weg der Pflicht zurückgeführt hat, daß sie mein guter Engel in diesen bösen Tagen gewesen ist.« »Sage mir, Philipp, wo hast du dich versteckt; wir haben dich überall gesucht, Herr Bruger ist sogar die vorige ganze Nacht umhergeirrt, weil er vor Angst und Unruhe nicht hat schlafen können. Und der arme Vater, wie konntest du ihn so betrüben!« »Ich konnte ihm mit dem Zeugnis nicht unter die Augen treten, das fühlte ich. Er war so traurig wegen der Mutter, nun sollte ich ihn meinetwegen sich betrüben sehen, es war mir unmöglich; darum hieß es: »Fort von hier«, es war, als ob ein böser Dämon mich trieb. Ich verließ das Haus gleich nach Tisch, als ihr alle beschäftigt wäret. Viele Menschen begegneten mir, aber niemand dachte etwas Arges dabei. Ich war zuerst auf dem Schießplatz« – »Dort haben wir Schwestern dich gestern abend spät gesucht« – »Da war ich freilich lange fort. Von dort eilte ich in die Talmühle, ließ mich aber von den Wirtsleuten nicht sehen, sondern ging hinunter an den Bach, an dessen Rand ich mit hielt, immer seinen Lauf verfolgend. Ich ging weiter und weiter, es war einsam und still um mich her, nur der Wind wehte gelbe Blätter von den Bäumen und trieb sie vor mir her. Es wurde kühl und mich fröstelte. Ich dachte an daheim, wie ihr um den Kaffeetisch sitzen würdet, und der Hunger regte sich bei mir. Aber ich wäre um keinen Preis umgekehrt. Ich begann zu laufen, teils um mich zu erwärmen, teils um noch vor Nacht an irgendeinen Ort zu kommen, wo ich mich vor dem Regen, der vom Himmel strömte, bergen konnte. Einige Dörfer rechts und links des Baches waren mir ja bekannt, aber eben, weil ich manche Leute dort kannte, mied ich dieselben; ich hoffte womöglich das nächste Städtchen, das mir fremd war, zu erreichen. Aber es wurde dunkler und dunkler; ich kam über Acker und dichtes Gestrüpp. Links und rechts schlugen mir die Büsche ins Gesicht, dazu goß der Regen in Strömen.« »Und du hattest nicht einmal einen Überzieher mit –«

»Es war ein schauerlicher Abend. Da zeigten sich Lichter in der Ferne – ich atmete auf, doch endlich menschliche Wohnungen in Sicht! Ich hielt mich aber immer in der Nähe des Baches, um einen sicheren Führer zu haben. Da sah ich links eine dunkle Masse Häuser, überragt von einem spitzen Kirchturm, ich glaube, es muß das Städtchen Beckedorf gewesen sein. Hier mußte ich Rast machen, denn ich war zu müde, um weiter zu gehen, dazu war ich vom Regen ganz durchweicht. Wohin nun aber? Nach etwa viertelstündiger Wanderung unterschied ich Gärten, die zu den aufwärts liegenden Häusern gehörten. Jetzt kam ich an eine hohe Mauer. Es mußte ein herrschaftlicher Garten sein, große alte Bäume gewahrte ich in dunklen Umrissen, am Ende lag ein großes Haus mit hohem Dach und Schornsteinen. Ich kroch mühsam an der Mauer entlang, denn hier war wieder dichtes Gestrüpp und die Mauer ziemlich lang. Endlich war sie zu Ende, ich bemerkte ein kleines Haus, aus dem ein helles Licht strahlte. Hier stand ich unentschlossen still, was nun beginnen? Sollte ich klopfen? Und wenn ich klopfte, wer würde mir öffnen? Würde ich nicht vielleicht mit rohen Worten abgewiesen? Und was dann?

»Der Regen setzte wieder heftiger ein; zu langem Überlegen war die Lage nicht angetan, entschlossen ging ich auf das kleine Fenster zu und klopfte. Die Vorhänge wurden etwas beiseite geschoben, ein Kopf wurde sichtbar, verschwand aber sofort wieder; aufgemacht wurde nicht. Ich klopfte zum zweitenmal, etwas stärker; da verschwand das Licht aus dem Zimmer; die Hoftür oder war es die Haustür des kleinen Hauses wurde aufgemacht; eine weibliche Stimme fragte hinaus: Wer ist da? Ich meldete mich, und bat de- und wehmütig um freundliche Aufnahme für die Nacht. Die Frauenstimme sagte heraus: es täte ihr leid, aber sie sei nicht in der Lage, jemand bei sich aufzunehmen. Ich trat näher, so daß sie mich sehen konnte. Ob mein Anblick sie erbarmte, oder ob sie sich doch eines andern besann: sie öffnete die Tür weiter und rief: »Welch ein schreckliches Wetter, und wie sehen Sie aus, junger Mann!« Ja, wie mochte ich wohl aussehen! Die Stiefel und Beinkleider beschmutzt; der Rock vom Regen triefend, der Hut naß und eingedrückt.

»Wenn Sie mir versprechen wollen, sich ganz still zu verhalten, so daß Sie nicht von andern gehört werden, will ich Sie behalten, aber gewagt ist es.« Mir war alles gleich, was ich tun sollte, wenn ich nur dableiben konnte!

»Sie fachte die Kohlen auf dem Herd wieder an, legte Holz darauf und setzte einen Teekessel mit Wasser auf. Dann holte sie ein Paar Filzschuhe, die sie mich anziehen hieß, und nun nahm sie die Lampe, winkte mir und erstieg eine steile Treppe mit mir. Sie führte mich in ein kleines Giebelzimmer, worin ein Bett stand. »Das erste ist, daß Sie sich Ihrer nassen Sachen entledigen und sich zu Bett legen. Ich komme später und will sehen, was ich mit den Sachen anfangen kann.« Ich dankte vielmals und hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihren Rat zu befolgen, denn es fror mich gewaltig. An Schlaf konnte ich natürlich nicht denken; die Gedanken drehten sich bei mir im Kreise; es war alles wie ein Chaos. Nach einer Weile tat sich die Tür auf; meine gütige Wirtin erschien mit heißem Tee und Butterbrot. Sie setzte alles auf das Tischchen neben meinem Bett und bat mich, das Licht zu löschen, wenn ich getrunken hätte. Dann nahm sie meine Sachen und ließ mich allein. Der warme Trunk tat mir gut, auch die Bettwärme übte wohltätigen Einfluß auf meine erstarrten Glieder.

Aber nun erwachte mein Gewissen. Mein begangenes Unrecht stand mir schwer vor der Seele; ich dachte an meinen armen Vater, an meine alte Großmutter, an euch alle. In welche Angst und Unruhe hatte ich euch versetzt: Ich konnte nicht beten, nur seufzen, an schlafen war nicht zu denken. Erst gegen Morgen übermannte mich die Müdigkeit. Ich schlief ein, schlief, bis die helle Sonne mir ins Fenster schien. Als ich erwachte, wußte ich nicht, wo ich war. Ich fuhr auf und sah mich in dem freundlichen Zimmer um. Es hingen mehrere Sprüche an der Wand, unter diesen traf mich der eine: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß dir's wohl gehe und du lang lebest auf Erden.« Nun fiel mir der gestrige Tag wieder ein mit seinen Sünden und Vergehungen. Es legte sich wie ein Alp auf meine Brust.

Meine Kleider fand ich trocken und wohl gesäubert auf einem Stuhl neben meinem Bett. Ich kleidete mich an, und da meine Stiefel noch nicht oben waren, schlüpfte ich in die Schuhe und ging die Treppe hinunter. Ich fand die Dame in der kleinen Küche; sie winkte mir und flüsterte, ich möge meine Stiefel draußen vor der Tür anziehen und mich in den kleinen Garten begeben, der sich am Ende des Hofes befinde. Ich folgte ihren Anweisungen und fand in dem Gärtchen eine Laube, in welcher zwei niedliche Kinder saßen. Sie standen sofort auf, kamen auf mich zu und baten mich, mit in die Laube zu kommen; die Mutter hatte sie beauftragt, mir dorthin den Kaffee zu bringen. Es war ein schöner Herbstmorgen, aber ich wunderte mich doch über das geheimnisvolle Flüstern im Häuschen und darüber, daß ich in kein Zimmer geführt wurde. In nicht allzulanger Zeit erschien die Mutter; sie sagte den Kindern, sie dürften unten am Bach spielen, bis sie rufe. Dann wandte sie sich an mich. Als ich ihr herzlich dankende Worte sagte für ihre Gastfreundlichkeit, sah sie mich prüfend an und fragte, wie ich dazu komme, obdachlos in der Welt herumzuirren. Daß ich kein gewöhnlicher Bettler sei, sehe sie mir an, es müsse eine eigene Bewandtnis mit mir haben.

Ihre gütige, liebreiche Art und Weise rührte mich. Ohnehin schon vom eigenen Gewissen aufgerüttelt, konnte ich nicht anders, als ihr mein ganzes Unrecht eingestehen. Sie war sehr betrübt, sagte, sie habe wohl Ähnliches gedacht, stellte mir den Schmerz meiner Angehörigen über mein Davonlaufen vor die Seele und wußte mir das Sündliche meiner Handlungsweise so handgreiflich zu machen, daß ich in Tränen ausbrach und sie bat, mir zu sagen, was ich beginnen sollte.« »Natürlich heute wieder umkehren und die Ihrigen um Verzeihung bitten, das ist der einzige Weg, der zum Frieden führt. Keinen Schritt weiter auf dieser Bahn, sonst sind Sie verloren, junger Mann.«

»Sie fragte nicht, wie ich hieß, noch wer meine Eltern seien, und ich war froh, daß sie es nicht tat, denn ich hätte mich geschämt, meinen Namen zu nennen. Sie nahm mir aber das Versprechen ab, nach Hause zurückzukehren und ein fleißiger, strebsamer Mensch zu werden. Ihr kleiner Knabe, sagte sie mir, lerne so eifrig und gern, sein schönster Gedanke sei, ein Gymnasium zu besuchen, aber die Verhältnisse gestatteten es nicht. Ich dürfe und könne lernen; dafür solle ich dankbar sein und die Zeit ausnützen. Sie sagte noch viel mehr, alles fiel bei mir auf weichen Boden. Ich war innerlich ganz mürbe und zerknirscht, daß ich ihr und mir gelobte, ein anderer Mensch zu werden. Es war mir immer, als hätte ich die Dame schon irgendwo einmal gesehen, aber ich konnte mich nicht besinnen, wo und wann. Beim Abschied sagte ich ihr, daß ich ihr meinen Namen heute nicht nennen wolle, aber ich würde sie einmal wieder aufsuchen, dann wollte ich mich ihr vorstellen.

Und das soll geschehen, Röschen, wenn ich mein Versprechen, das ich der Dame gegeben habe, und das ich dem Vater morgen geben werde, eingelöst habe, wenn ich mit Gottes Hilfe ein anderer Mensch geworden bin.«

Er sank erschöpft in den Stuhl zurück und legte die Hand über die Augen. Der Kopf schmerzte ihm von der großen Erregung und von allen Anstrengungen; Röschen war überwältigt von allem, was sie eben gehört hatte. Sie rief unter Tränen:

»Ich glaube, Vaters und der Großmutter Gebete haben dich begleitet, und Gott der Herr hat deine Schritte gelenkt in das Haus der Unbekannten, die Engeldienste an dir getan hat. Wie sollen wir es ihr danken!«

»Wir fahren alle einmal zu ihr. Ich führe euch, ihr müßt diese edle Dame kennenlernen.«

»Nun vor allen Dingen zu Bett, Philipp. Gott sei Dank, daß du wieder da bist, alles andere wollen wir morgen besprechen. Ich werde den Vater vorbereiten und dich dann holen. Solang mußt du in deinem Zimmer bleiben. Wir wollen nun nicht mehr reden, sondern ganz, ganz leise schlafen gehen, damit niemand im Hause etwas merkt. Ich leuchte dir.« Sie schlichen still an Großmütterchens Tür vorüber nach Philipps Zimmer. Dort stand sein Licht, welches Röschen ihm anzündete. Sie schlang den Arm um ihn und sagte: »Gott behüte dich, Er helfe dir, das Rechte zu tun und auszuführen. Vergiß nicht, Ihm zu danken, daß Er dich ins Elternhaus zurückgeführt hat.« Dann verließ sie ihn, hörte aber, als sie wieder an Frau Elsners Tür vorbeikam, daß dieselbe laut und vernehmlich hustete. Sie öffnete leise die Tür und flüsterte: »Großmutti, wachst du?« »Ja, mein liebes Kind, was hast du denn noch so lange im Hause herumzuwirtschaften?« Da konnte Röschen sich nicht halten. Sie flog ins Zimmer und stürzte auf das Bett der Großmutter zu, das im anstoßenden Zimmer stand. »Großmutter, er lebt, er ist wieder da!« Mit diesen Worten warf sie sich auf die Knie, ergriff die Hand der alten Dame und bedeckte sie mit vielen Küssen. Großmutter aber richtete sich im Bett auf, faltete ihre Hände und sprach: »Mein Herr und Gott, ich danke Dir, daß du mich erhöret hast. Rösi, mein Kind, nun bin ich getröstet, nun wird alles, alles gut werden.« »Schläfst du nun auch, Großmutter?« »Wenn Gott will, mein Kind, sorge dich nicht. Aber leg du dich schlafen, damit du morgen frisch bist und alle deine Pflichten erfüllen kannst.« Mit diesen Worten küßte sie ihre Enkelin auf die Stirn, und diese, glücklich und froh wie lange nicht, suchte ihr Schlafkämmerlein auf, wo auch sie Gott inbrünstig dankte, daß Er sie alle aus der großen Not und Betrübnis errettet habe.


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