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14. Kapitel. Besuch der Immenhoffs

Röschen war früh auf am nächsten Morgen, die Freude ließ sie nicht schlafen. Desto länger währte es, bis der Vater erschien. Sie war schon mehrere Male an seiner Tür gewesen, aber nichts regte sich. Sie machte einen Gang durch den taufrischen Garten, da hörte sie oben ein Fenster öffnen. Es war der Herr Vikar, der die Morgenluft in sein Zimmer lassen wollte. Sie pflegte sonst nicht an seine Fenster zu sehen, heute konnte sie nicht umhin, ein »Guten Morgen, Herr Bruger« hinaufzurufen. Und als er sich etwas zum Fenster hinausbeugte, rief sie, die Hand vor den Mund haltend, halblaut hinauf: »Kommen Sie doch einmal an die Tür, ich habe Ihnen etwas zu sagen.« Als sie hinaufkam, stand Herr Bruger schon oben. »Herr Vikar, der Philipp ist wieder da, diese Nacht ist er heimgekehrt.« »Gott sei Lob und Dank«, tönte es auch von seinen Lippen. »Ich mußte doch die erste sein, die Ihnen die Botschaft bringt, ich weiß, wie sehr Sie sich mit uns gesorgt haben.« »Ich danke Ihnen, Fräulein Röschen, das vergesse ich Ihnen nicht.« »Später erzähle ich Ihnen das Wie und Wo, bitte, lassen Sie sich jetzt noch nichts merken, sagen Sie den Mädchen und den Kindern nichts, sie machen gleich ein großes Hallo! Erst muß es der Vater wissen, erst nachdem Philipp seine Verzeihung erlangt hat, kann er hinunter ins Familienzimmer. Jetzt ruft der Vater!«

Sie eilte die Treppe hinunter und sah den Oberpfarrer in der offenen Tür stehen. »Röschen, bringe mir den Kaffee heute auf mein Zimmer, ich möchte nicht hinüberkommen.« Gern und willig führte die Tochter diesen Befehl aus, paßte es doch herrlich in ihre Pläne. Sie machte dem Vater alles behaglich und lud ihn ein, Platz zu nehmen. »Du hast viel zu viel aufgetischt, Kind, essen will ich nichts, nur eine Tasse Kaffee trinken. Um neun Uhr will ich zum Schuldirektor gehen. Es müssen heute überhaupt energische Schritte getan werden« – da fiel sie ihm in die Rede: »Väterchen, ist alles nicht mehr nötig, unser Philipp ist wieder da.« Er sah sie an, als ob er stark zweifle an dem, was sie sagte, als er aber ihr glückliches Gesicht und ihre feuchtschimmernden Augen sah, mußte er es wohl oder übel glauben. »Wo hat denn der Schlingel gesteckt, und wann ist er gekommen?« Sie berichtete, was wir bereits wissen, und fügte zum Schluß die Bitte hinzu, nicht zu scharf und zu streng mit dem Bruder zu verfahren, er sei selbst schon ganz zerschlagen und reuevoll, des Vaters Liebe würde nach ihrer Ansicht jetzt mehr nützen als sein Zorn. »Er hat einen guten Fürsprecher, der Schlingel. Laß ihn nur kommen, je eher, je besser.« »Trinke erst ein wenig Kaffee, Väterchen«, bat Röschen, »damit du nicht nüchtern die Aufregung hast. Iß ein wenig dazu, das ist besser – dann rufe ich den Philipp.« Mit diesen Worten hatte sie dem Vater die gestrichene Semmel hingeschoben; erst, als sie sah, daß er davon aß und seinen Kaffee trank, verließ sie das Zimmer.

Philipp harrte schon ihrer. Er sah sehr bleich aus und war in großer Erregung. »Darf ich jetzt zum Vater?« Sie nickte stumm. »Ach, Röschen, mir ist so bange.« »Komme nur, ich begleite dich.« Sie faßte ihn bei der Hand, sie gingen miteinander die Treppe hinunter, gerade als Emmi mit einem Topf Milch ins Wohnzimmer wollte. »Philipp«, schrie sie auf und zwar so laut, daß Nanni und Miezi herbeistürzten und auch riefen: »Wo? Wo ist er?« und die Kleinen von ihren Stühlen krabbelten, wo sie schon saßen, um ihr Frühstück einzunehmen. »Wir möchten Philipp auch sehen«, riefen sie durcheinander. »Er ist beim Vater«, sagte Emmi beschwichtigend, denn Röschen hatte ihr einen Wink gegeben, sie solle stille sein und die Kleinen ruhig im Zimmer halten.

Ja, Philipp war beim Vater. Nach den verzeihenden Worten, die dieser auf Philipps reumütige Bitte um Vergebung gesprochen hatte, folgte ein sehr ernstes Gespräch, das Philipp viele Tränen entlockte, aber auch die Versicherung, daß dies ein Wendepunkt in seinem Leben sei, daß er von nun an, seiner Pflichten bewußt, arbeiten und kämpfen wolle, um die verlorene und verträumte Zeit wieder einzubringen. Als er dann später ins Familienzimmer kam, blaß und verweint, war die Großmutter die erste, die ihn begrüßte mit warmer, mütterlicher Liebe. Die Schwestern waren still und verlegen, doch bemühten sie sich, durch liebevolle Taten ihre Freude über das Wiedererscheinen des Bruders kund zu tun. Emmi lief und holte ihm einen Stuhl. Nanni schenkte ihm Kaffee ein und Miezi strich ihm sein Brot über Gebühr fett. Sie hielten sich den ganzen Tag in seiner Nähe auf und staunten ihn an, als sei er eine interessante Persönlichkeit. Im Laufe des Vormittags kamen sie alle drei zu Röschen gelaufen und berichteten, der Herr Vikar gehe mit Philipp im Garten auf und ab und habe ihn umschlungen, was er noch nie getan!

Es ist oft in Heimsuchungen, die Weh und Trübsal über eine Familie bringen, ein innerer Segen verborgen. Gleichwie ein Gewitter Furcht und Schrecken mit sich bringt, danach aber, wenn es ausgetobt hat, die Luft reinigt und sich segenbringend für Felder und Fluren erweist, so segensreich wirkten die Tage der Angst und Not im Pfarrhause. Ein jeder hatte sich selbst geprüft und seine Fehler erkannt. Als nun Gottes Barmherzigkeit alles wieder wohl gemacht, hatte der Oberpfarrer fortan ein wachsames Auge auf seinen Sohn, Herr Bruger versuchte es mit Liebe und Freundlichkeit und hatte seitdem mehr Erfolge zu verzeichnen als früher. Großmutter aber und die Schwestern interessierten sich so lebhaft für Philipps Arbeiten, für seine Aufsätze, seine Exerzitien und Extemporale, daß sie sich den Rang abliefen, wer die Nummern zuerst erfuhr. Waren sie gut, so war allgemeine Freude und Befriedigung, daß Philipp schon deshalb allein sich alle erdenkliche Mühe gab und oft versicherte, er arbeite jetzt mit dreifacher Lust, weil er das Bewußtsein habe, man nehme reges Interesse an seinem Weiterkommen.

Die Trauer um die Mutter hallte noch nach in der Familie: alle vermißten das stille, treue Walten der Hausmutter, ihre Liebe und Sanftmut, aber das Ereignis mit Philipp, die Freude über sein Wiederkommen hatte wieder Leben und Frohsinn erweckt. Man hörte die Kinder wieder lachen und scherzen, wer wollte es ihnen wehren!

Philipp sprach oft von seinem rettenden Engel und daß er nach Ostern seinen Besuch dort auszuführen gedächte. Die Großmutter hörte still zu, wenn er seinen Aufstieg zu dem kleinen Häuschen und die Insassen desselben beschrieb. Wenn er dann äußerte, die Dame hätte ihn an jemand erinnert, den er schon einmal müßte gesehen haben, so ahnte sie, wer es gewesen. Ja sie wußte es wohl ganz bestimmt – es war Metas Mutter und die Tochter ihres Bruders. Wenn aber Philipp davon sprach, daß die Großmutter auch mit nach Beckedorf müsse, dann pflegte sie zu sagen: »Du kannst die Schwestern gern mitnehmen, aber die alte Großmutter laß nur zu Hause.«

Fräulein Linchen hatte Hochzeit gemacht und war wohlbestallte Gattin des Malermeisters Wegner. Sie nahm sich ganz würdig aus als Frau; es war besonders anziehend für Emmi, Nanni und Miezi, ihre ehemalige Hausgenossin zu besuchen und sich von ihr verziehen zu lassen. Für Röschen brachte ihr Weggang viele Pflichten in Küche und Haus. Sie unterzog sich willig jeder Arbeit, und Großmutter war ihre Lehrmeisterin. Auch geselligen Pflichten mußte sie genügen, es gingen viele im Pfarrhaus aus und ein. Für alle hatte man einen freundlichen Willkomm, und jeder wußte, daß das Pfarrhaus für ihn zugänglich war. Frau von Immenhoff war nicht der seltenste Gast. Das Wohl und Weh ihrer Töchter trieb sie immer wieder ins Pfarrhaus. Aufrichtig hatte sie mitgetrauert über den Tod der Pfarrfrau, zumal sie selbst vor kurzem ähnliches Leid erfahren hatte. Sie war aber eine Natur, die das bald abschüttelte, die sich nicht lange mit dem Ende aller Dinge beschäftigen mochte, sondern sich lieber wieder in das alltägliche Leben mit seinen Sorgen und Freuden vertiefte. Was ihre Töchter auf Erden leisteten, zu welcher Stellung sie sich vermöge ihrer Bildung oder praktischen Anlagen emporzuschwingen vermochten, das war's, was sie am meisten beschäftigte. Die älteste bekam wirklich die Stellung im Mädchenheim. Sie stand der Küche und dem ganzen Hauswesen vor und konnte, da sie ein gediegenes Mädchen war, den jungen Pflegebefohlenen zum Vorbild dienen. Sonntag abends suchte sie sie ans Haus zu fesseln, indem sie mit ihnen las, sang oder musizierte, oder sich harmlos mit ihnen vergnügte. War sie um etwas verlegen oder bedurfte sie eines Rates, so fand sie bei »Großmütterchen«, wie diese allgemein hieß, allezeit Verständnis und Aushilfe.

Anna, die sehr gern Kranke pflegte, sich aber nicht entschließen konnte, Diakonissin zu werden, war als Pflegerin in eine Nervenheilanstalt gegangen. Sie hatte den ganzen Tag zu tun und kam mit den verschiedensten Kranken in Berührung. Da galt es Geduld üben, durch freundliches, sanftes Wesen die Kranken zu beruhigen und zu trösten.

Thea wollte Hausdame werden, sie strebte nach einer vornehmen, möglichst unabhängigen Stellung, doch fanden alle, daß sie zu jung sei, um eine derartige Stelle auszufüllen. Die übrigen drei waren noch zu keinem festen Entschluß gekommen.

Es war Winter geworden. Im Besuchszimmer des Pfarrhauses brannte die Lampe, man erwartete Frau von Immenhoff mit einigen Töchtern zum Tee, Röschen fühlte sich zu Thea, als Pensionsfreundin, noch immer sehr hingezogen, wenn sich auch im Laufe der Zeit herausstellte, daß sie eigentlich recht verschieden waren. »Großmutter«, sagte sie, als sie mit derselben die Gäste erwartete, »wenn ich daran denke, daß die sechs Schwestern alle einmal groß werden und jede etwas anderes werden will, da wird mir's angst.« »Sollen sie denn immer klein bleiben, mein Töchterchen?« erwiderte Großmutter lächelnd. »Nein, aber so viel reden dürfen sie nicht, wie Immenhoffs, wenn sie alle beisammen sind.« »Ich fürchte, das wird bei Emmi, Nanni und Miezi schwer halten, ihnen das Reden abzugewöhnen. Gott gebe, daß sie alle einen Beruf finden, in dem sie Gott und den Menschen dienen können, daß sie vor allen Dingen ihren Heiland finden und in Ihm gegründet sind. Sind sie ihres himmlischen Berufes gewiß, so werden sie auch auf Erden eine jede ihr Plätzlein finden, wo es gilt, selbstlose Liebe und Treue zu üben. Diese beiden Dinge sind unerläßlich bei einem wahren Christen, ohne dieselben hat unser Tun und Wirken keinen Wert.«

Jetzt klingelte es. Flinke Beine stampften sich den Schnee ab, drei rosige Mädchen stürmten ins Zimmer in Wintermänteln und Mützen, mit Paketen beladen. »Großmutter, Röschen«, riefen sie, »nun sollt ihr aber sehen und staunen. Wir haben für Weihnachten eingekauft, über alle Maßen schön! Was wir für Trudi haben! Und für Eva und Lieschen, geradezu reizend! Und für Philipp und Vater! Und für euch, o ihr glaubt es nicht!« Dabei tanzten und sprangen sie in der Stube umher.

»Kinder, ruhig«, warnte die Großmutter. »Erzählt der Reihe nach, nicht alle auf einmal, zuerst aber legt eure Sachen ab und hängt sie an ihren Platz, dann dürft ihr wiederkommen.«

Sie legten ab und zeigten ihre Herrlichkeiten. »Kinder, ich staune«, meinte die Großmutter, »wie ihr mit dem wenigen Geld so großartige Einkäufe gemacht habt.«

»Ja«, riefen sie wieder alle drei auf einmal, »wir haben das nicht von unserem Geld allein gekauft.« Auf einen ernsten Wink der Großmutter schwiegen Nanni und Miezi, und Emmi fuhr allein fort: »Eine fremde, ganz vornehme Dame war im Laden; sie freute sich so über uns.« – »Woher wißt ihr das?« fragte Röschen. »Weil sie immer lachte«, war Nannis Antwort. »Ihr habt euch gewiß wieder recht komisch benommen.« »Wir bewunderten nur diese Sachen und beklagten, daß wir nicht mehr Geld hätten«, fuhr Emmi fort. »Wir schütteten alles auf den Ladentisch und zählten«, setzte Miezi hinzu, »da auf einmal flog ein Dreimarkstück dazwischen und die junge, schöne Dame rief: ›Nun wird's gewiß reichen.‹ Da haben wir schön gedankt und dies alles dafür gekauft.« Großmutter schüttelte den Kopf, während Röschen weiter forschte, ob sie nicht den Namen der Dame wüßten. »Nein, den hat sie nicht gesagt, aber sie fragte nach unserem Namen, und als wir ihn nannten, meinte sie, ob wir eine Schwester namens Röschen hätten. Als wir es bejahten, rief sie, wir sollten dich grüßen von einer Pensionsfreundin, sie würde dich bald besuchen.« Röschen dachte nach. Das könnte Josepha von Langen gewesen sein, sie sprach davon, daß sie den Winter in der Hauptstadt verleben wollten. »Jetzt nehmt eure Pakete fort, die Gäste kommen.«

»Ich bringe einstweilen nur zwei Töchter mit, meine liebe Frau Elsner«, rief Frau von Immenhoff, »die andern kommen später nach.« Thea hatte Röschen schon begrüßt und erzählte ihr mit großer Wichtigkeit, daß sie zu Johannis nächsten Jahres eine glänzende Stelle als Hausdame in Aussicht habe. Es sei jetzt noch eine Verwandte da, die könne aber nur bis zum Sommer bleiben, dann solle ein anderes junges Mädchen angestellt werden. »Ich lerne nun noch allerlei«, fuhr sie fort, »und genieße mein Leben. Weißt du schon, Röschen, daß Baron von Langens in der Stadt sind, ich habe Alexander schon einige Male gesehen, er ist ein flotter Leutnant geworden, sein Regiment steht hier.«

Frau von Immenhoff erzählte der Großmutter auch von Theas Aussichten, der Herr sei ein reicher Fabrikbesitzer, der vor kurzem seine Frau verloren habe, nur ein kleines Mädchen sei da, das Theas besonderer Obhut übergeben werden sollte. Die Großmutter meinte, Thea sei zu einer Stellung als Hausdame bei einem Witwer zu jung, worauf Frau von Immenhoff ihr erklärte, daß noch eine alte Dame, eine Tante des Herrn, ganz im Hause sei. Diese wünsche ein junges Mädchen und habe versprochen, sich Theas mütterlich anzunehmen. Einstweilen sei noch eine Nichte da, wenn selbige das Haus verlasse, solle Thea für sie eintreten. »Das ist etwas anderes«, sagte die Großmutter. »Sehen Sie nur, liebe Thea, daß Sie durch Gewissenhaftigkeit und Treue festen Fuß fassen, dann ist vielleicht die Stellung eine dauernde und Ihr Beruf ein gesegneter.«

Daran zweifelte Thea gar nicht. Sie schwelgte in dem Gedanken, daß sie in dem Hause nach Belieben werde schalten und walten können, daß ihr reiche Mittel zu Gebote stehen würden, dazu Wagen und Pferde zum Ausfahren, kurz es war alles wunderschön. »Ja, dir glückt es immer«, rief Anna, »ich muß mich mit meinen nervenkranken Damen plagen. Eine ist unzufrieden mit sich und der ganzen Welt; die andere hat verschiedene eingebildete Krankheiten; die dritte will immer ausgehen und Einkäufe machen, kann die Stubenluft nicht vertragen und reißt bei der Kälte alle Fenster auf. Und ich muß immer zureden und geduldig sein.« »Und wenn Sie es sind und immer freundlich dazu, so werden Sie sich bald Liebe erwerben unter den armen Kranken und selbst den größten Segen davon haben«, sagte die Großmutter, ihr freundlich zunickend, »halten Sie aus und holen Sie sich täglich aus Gottes Wort neue Kraft und Freudigkeit, das ist das beste Mittel.«

»Sie wissen immer so gut aufzumuntern und das beste von jeder Sache herauszukehren«, rief Frau von Immenhoff, »ich hatte Anna schon gesagt, als sie mir heute so viel vorklagte, sie solle kündigen und sich nicht weiter plagen. Sie sehen die Dinge immer von einer ganz andern Seite an.«

Nun gab es einen Krach draußen, daß alles erschrocken in die Höhe fuhr. Man lief an die Tür, da stand ein junges Mädchen mit einem unglücklichen Gesicht, neben ihr lag ein umgeworfener Ständer, an dem Überzieher und Mäntel hingen, die Hüte waren herausgefallen, sie war dabei, sie aufzulesen.

»Sag' ich es nicht, daß mir jedesmal etwas passieren muß, wenn ich ausgehe«, rief sie. »Es ist Lottchen«, riefen Thea und Anna, »natürlich, wir hätten es uns denken können. Lottchen, du hast noch etwas unter den Füßen, worauf stehst du denn?« Das unglückliche Lottchen trat zurück und Emmi, Nanni und Miezi, die natürlich auf den Krach herbeigeeilt waren, griffen alle drei nach einem zertretenen Hut, den Emmi den beiden entriß und erschrocken ausrief: »Der Hut gehört dem Herrn Vikar«, was die beiden andern bestätigten und hinzufügten, Herr Bruger sei sehr eigen mit seinen Sachen, das würde ihm wohl nicht lieb sein. »Mir ist es auch nicht lieb«, meinte das Lottchen, »doch gebt her, ich biege ihn schon wieder zurecht. So – nun sieht's niemand.« Hilfreiche Hände hatten den Ständer wieder aufgerichtet, sie hängte den Hut daran und sagte heiter: »Nun können wir hineingehen.«

Unter Lachen betrat die Jugend das Zimmer, wo eben Frau von Immenhoff der Großmutter klagte, daß ihr Lottchen von eigenem Mißgeschick verfolgt würde. Sie sei herzensgut und brav, aber ein Unglück passiere ihr fast täglich. Dann könne sie das unglücklichste Gesicht von der Welt machen, aber ihre unverwüstliche Heiterkeit breche sich immer wieder Bahn. Darin hatte die Mutter recht; heiter und jugendfrisch kam Lottchen ins Zimmer und entdeckte dort Veilchenduft, der sie entzückte, sie meinte, es erinnere ganz an den Frühling. »Der Herr Vikar erfreut mich mitunter durch Blumen«, sagte Frau Elsner, »er weiß, daß sie zur Freude meines Lebens gehören.« »Gehöre ich nicht auch zur Freude Ihres Lebens, Großmütterchen«, rief Lottchen. »Sie sagten kürzlich, wenn Sie mich sähen, müßten Sie sich immer freuen.« Die Großmutter lächelte und schwieg. »Nein, heute habe ich Sie erschreckt, und wenn Sie mich näher kennten, würden Sie mich am wenigsten von allen Schwestern mögen, ich bin diejenige, die am wenigsten nützt, nicht wahr, Mutter?« »Du nützest insofern, als du uns nie ein mürrisches Gesicht zeigst und uns immer bei guter Laune erhältst.«

»Möchten Sie denn auch gern etwas nützen in der Welt, mein liebes Lottchen?«

»Gewiß, Großmütterchen, aber ich zerbreche den Leuten alles und erschrecke sie durch mein Ungeschick. Wüßten Sie jemand, dem ich ein klein wenig nützen könnte, ich würde Ihnen so sehr dankbar sein, Großmütterchen.«

»Ich wurde heute von einer Dame gebeten, mich nach einem jungen Mädchen umzusehen, die ihre Schwester, welche böser Augen wegen in der Klinik ist, aufheitere, ihr etwas vorlese, auch Briefe für sie schreibe.« »Das wäre ein Posten, den ich ausfüllen könnte«, rief Lottchen erfreut. »Nur müßtest du nicht gleich bei der Dame zur Tür hereinfallen oder sie durch andere Ungeschicklichkeiten erschrecken«, warf Thea ein.

»Sie hat ja nur vorzulesen«, lachte Röschen, »und Bücher sind nicht von Porzellan, sie zerbrechen nicht, wenn sie sie hinwirft.« »So mag das gehen«, seufzte Frau von Immenhoff, »Frau Elsner weiß da für alles Rat.« »Ich bin in der Stadt bekannt, und ein Pfarrhaus ist dazu da, daß sich jeder dort Auskunft holt. Wenn Sie Lust haben, mein liebes Lottchen, kommen Sie morgen noch einmal zu mir, wir wollen die Sache zusammen überlegen.«

Die gute Frau Elsner hatte, trotz dem vielen, was auf ihr lag, am folgenden Tag Zeit, mit Lottchen ein eingehendes Gespräch zu halten über ihre Pflichten bei der Dame. Sie wußte unbemerkt so viele gute Lehren hineinzuflechten, daß Lottchen dankbar ausrief: »So wie Sie hat mich noch niemand auf meine Fehler aufmerksam gemacht; ich werde von nun an recht auf mich achten und sehr vorsichtig werden. Wie schön, wenn ich auch einen Beruf fände!«


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