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2. Kapitel. Die Fremde

Der Vater hatte falsch prophezeit. Es schneite nicht, es war schönes, klares Frostwetter. Der Schnee, der die Tage vorher in ergiebiger Menge gefallen war, lag auf den Dächern der Häuser; ein blauer Himmel wölbte sich über der Stadt; in der Sonne glitzerten die bereiften Bäume und Sträucher, so daß alles einen freundlichen, weihnachtlichen Anblick gewährte, wozu nicht wenig die schön geschmückten Läden mit den ausgehängten Kostbarkeiten beitrugen.

Eine ältere, in einen Pelz gehüllte Dame, ging rüstigen Schrittes in der Hauptstraße auf und ab, die verschiedenen Läden prüfenden Auges musternd, dann wieder die Straße entlang sehend, als warte sie auf jemand. Da kam ein junges Mädchen von mittlerer Statur, im Winterjacket und Pelzbarett, die Wangen von der Kälte gerötet, eilig der Dame entgegen: »So«, sagte sie, »nun sind alle Pakete im Schlitten untergebracht, jetzt habe ich die Hände frei, wenn wir in den Spielwarenladen wollen.« »Freilich, das ist die Hauptsache«, entgegnete Frau Elsner, »kommen Sie, Fräulein Linchen, dieser Laden scheint mir der beste zu sein.« Die Großmutter wurde jugendlich belebt, als sie inmitten aller Herrlichkeiten stand. Am liebsten hätte sie den ganzen Laden, mit allem, was er Schönes bot, mitgenommen; da das nicht anging, galt es eine Auswahl zu treffen unter den vielen, hübschen Spielsachen. Zuerst eine heißersehnte Puppenstube für das Röschen. Der Kaufmann holte mit Zuvorkommenheit alles heran, was er in dieser Art bieten konnte. »O sehen Sie, Fräulein Linchen«, rief Großmütterchen entzückt, »wie schön ist dies Puppenhaus mit den kostbar dekorierten Zimmern und den reizenden Püppchen, wenn das Röschen hätte!« Aber nicht allein der Preis machte den Ankauf unmöglich, sondern auch der Transport hatte seine großen Schwierigkeiten. So wurde denn unter langem Hin- und Herberaten eine andere Wahl getroffen, eine kleinere, einfachere Puppenstube; mit einem ehrenwerten steifen Vater und einer ebenso würdigen Mutter auf dem Sofa, und um den Tisch herum auf Stühlen die Familie, Arm und Füße in waagrechter Haltung vor sich streckend. Dann wurde für Philipp ein Pferd gekauft, ein Brummkreisel und eine Trompete. Nun kamen die kleineren Mädchen an die Reihe, die wunderniedlichsten Puppen luden zum Kaufen ein, Großmutter mußte wieder das Sprichwort an sich erfahren: »Wer die Wahl, hat die Qual.« »Nehme ich diese oder jene, raten Sie mir, Fräulein Linchen, oh, wenn die Kinder diese Herrlichkeiten sehen könnten.«

»Sie sind gewiß auch eine Großmutter«, ließ sich eine alte Dame vernehmen; »ich bin auch hier, um für meine vielen Enkel einzukaufen; es ist aber ein schöner Laden, man findet hier alles.« Die Käufer und Verkäufer schwirrten durcheinander, unsere Großmutter suchte und wählte und legte ein Stück Spielzeug zum anderen, bis Fräulein Linchen sich die bescheidene Frage erlaubte: »Frau Elsner, werden wir auch alles fortbringen, es ist schon so viel auf dem Schlitten?« »Es ist nur einmal Weihnachten, Fräulein Linchen, sehen Sie, diesen reizenden Hühnerhof muß ich noch für Miezi einhandeln, dann soll's genug sein.«

Nachdem nun der Kaufmann ermahnt worden, alles vorsichtig einzupacken und in den Gasthof zu senden, wo Christian ausgespannt hatte, verließen die Damen den Laden. Großmutter sandte noch einen schmerzlichen Blick zurück auf alles Schöne, das sie hatte nicht mitnehmen können, aber es war nun des Guten genug, ihr Geldbeutel mahnte dringend an das Verlassen der Stadt, wo jeder Laden neue Reize bot, jeder zur Einkehr lud. Der Tag neigte dem Ende zu, hier und da wurden schon Lichter angezündet, das war für Frau Elsner das Zeichen zum Aufbruch. Sie ließen sich im Gasthof eine Tasse heißen Kaffee geben, dann ging es dem Heimatdorfe zu.

Das Wetter war nicht mehr so schön wie es gewesen. Der Himmel hatte sich am Nachmittag düster grau umzogen, ein scharfer Wind hatte sich erhoben und Schneewetter heraufgebracht. Die Damen waren wohl in ihren Pelzen und Mänteln gegen die Kälte verwahrt, aber unangenehm war es doch, wenn der Wind die Schneeflocken ins Gesicht trieb. Es hatte die Tage vorher schon viel geschneit, die Felder lagen unter einer festen Schneedecke und die Gräben waren bis an den Rand gefüllt, so daß sie vom Wege aus nicht mehr erkenntlich waren. Aber Christian kannte seinen Weg gut. Wie ein Pfeil flog der Schlitten dahin; nun war das Holz erreicht, das ziemlich auf der Mitte des Weges lag. Die Tannen rauschten geheimnisvoll im Winde, es erfaßte Fräulein Linchen ein leichtes Schauern, sie drängte näher zur Großmutter heran. Diese lauschte seit einigen Minuten auf Töne, die klagend durch den Wind zu ihr drangen. »Was ist das, Christian, es wird doch niemand verunglückt sein.« »Es scheint mir ein Wagen umgeworfen zu sein.« Er fuhr nun ganz langsam, erkennen konnte man die Gegenstände rings umher, obwohl der Mond, der schon aufgegangen, hinter Wolken verdeckt war. Als man näher kam, gerade am Ausgang des Waldes, sah man eine dunkle unförmige Masse vor sich, man hörte eine schimpfende Männerstimme, eine klagende weibliche und weinende Kinder. Nun war man zur Stelle und sah das Unglück. Ein Wagen lag umgeworfen im Graben, der Kutscher war dabei, die Pferde loszuschirren; eine weibliche Gestalt schüttelte sich den Schnee von den Kleidern mit der Hand, im Arm hatte sie ein weinendes Kind, während sich ein anderes schluchzend an sie schmiegte. »Haben Sie Erbarmen, nehmen Sie uns mit«, rief die Gestalt. »Wohin wollen Sie, arme Frau?« »Wir sind auf dem Wege nach Lindstädt und haben Unglück gehabt, der Wagen ist zerbrochen, wir müssen im Schnee umkommen, wenn Sie uns nicht mitnehmen.« »Wir fahren in entgegengesetzter Richtung«, wollte die Großmutter sagen, aber das war ja alles einerlei. In diesem Augenblick mußte Hilfe geschafft werden; man konnte unmöglich die Frau und die Kinder hier auf der Landstraße lassen.

»Aber wie wollen wir Platz finden?« flüsterte Fräulein Linchen, »wir haben ja alle die Weihnachtspakete auf dem Schlitten.« »Kann alles nichts helfen«, war der Großmutter Antwort, »es muß gehen!« Und es ging. Man schmiegte sich eng zusammen und nahm die erschöpfte Frau in die Mitte. Ein großes Paket, das Fräulein Linchen auf dem Schoß hatte, warf sie einstweilen aus dem Schlitten, um es nachher, wenn alle saßen, wieder aufzunehmen. Der kleine Knabe, der dreijährig schien, wurde neben Christian zwischen verschiedenen Paketen untergebracht, das kleine Würmchen nahm die Großmutter unter ihren Pelz. Der Kutscher wollte Leute herbeiholen aus der hinter dem Walde gelegenen Schmiede, die ihm helfen sollten, den Wagen aus dem Graben zu ziehen, und dann denselben, mit Hilfe der Pferde und der Leute, in dieselbe Schmiede zu befördern. Christian wäre gern behilflich gewesen, aber der Kutscher meinte, er wäre froh, wenn die Dame und die Kinder sicher untergebracht wären, und die Großmutter, welche merkte, daß die Unbekannte gänzlich erschöpft war, drängte zum Weiterfahren. Sie fragte nur noch: »Ist es Ihr eigener Wagen?« worauf die schwache Antwort erfolgte: »Nein, ein Lohnfuhrwerk, es ist aber schon im voraus bezahlt.« »Fräulein Linchen«, begann nun die Großmutter, »wir hatten doch ein Fläschchen Portwein mitgenommen, ich kann die Arme nicht frei machen, holen Sie es aus meiner Tasche und geben Sie der Dame einen Schluck.« Fräulein Linchen suchte lange danach, es war schwierig, die Arme zu bewegen, da auch sie eingezwängt saß. Aber nun hatte sie das Fläschchen und gab es der Fremden. Ein Schluck daraus belebte die arme, fast Erstarrte, so daß das »danke Ihnen herzlich« schon kräftiger klang.

Nun ging es in schnellem Trabe weiter. Gesprochen wurde fast gar nicht unterwegs; ein jeder hatte in seiner bedrängten Lage mit sich zu tun und sehnte sich das Ende der Fahrt herbei. Endlich tauchten die dunklen Umrisse des Dorfes auf, noch ein Viertelstündchen und Christian fuhr durch das offene Tor des Pfarrhauses.

Hier hatte man schon mit Spannung auf das Kommen des Schlittens gewartet, sobald das Schellengeläute und das Stampfen der Pferde hörbar war, wurde mit Lichtern hin- und hergelaufen und die Haustür geöffnet. Kinderstimmen jubelten: »Großmutter kommt aus der Stadt«, alles drängte nach dem Ausgang; die Mutter, mit dem Kleinsten auf dem Arm, wehrte den Kindern, bei dem Schneewetter ins Freie zu treten. Doch es war kein Halten mehr. »Großmutter!« »Doßmama!« »Hu es schneit«, so scholl es von allen Seiten.

Jetzt stand der Schlitten. »Wo ist Marianne? Sie muß mir helfen«, rief Frau Elsner. Marianne eilte herbei und streckte hilfebereit ihre Arme aus, in der Meinung, Weihnachtspakete in Empfang zu nehmen. Was war denn das! Ein lebendiges Kindlein wurde ihr in die Arme gelegt, das, eben aus tiefem Schlummer erwacht, zu weinen begann. Marianne ging mit ihrer Bürde ins Haus, und da sie merkte, daß das kleine Mägdlein stehen konnte, setzte sie es in den erleuchteten Hausflur. Im Hui waren sämtliche Kinder des Pfarrhauses um die Kleine versammelt und sahen staunend auf das wunderliche Weihnachtspaket, das vom Schlitten gekommen war.

»Was weinst du denn?« fragte Röschen, sich zu ihm niederbeugend, »hier hast du einen Apfel, nun sei stille.« Dies wirkte. Die Kleine, augenscheinlich verblüfft durch alle die kleinen, muntern Gesichter, die zu ihr niedergebeugt waren, schwieg stille und schaute mit großen, dunklen, fragenden Augen von einem zum andern. Jetzt zeigte sich ein Lächeln auf dem Gesicht, denn Marianne kam wieder, an der Hand einen kleinen niedlichen Knaben, unter dessen Pelzmütze braune Locken hervorguckten. Auf dem Arm hielt Marianne das kleinste Pfarrtöchterlein, welches die Frau Pfarrerin ihr eingehändigt hatte, damit sie den übrigen Insassen des Schlittens heraushelfen konnte. An Weihnachtspakete dachte vor der Hand niemand. Sie schüttelte den Kopf und fragte sich immer wieder: »Was hat dies alles zu bedeuten?«

Nun stieg zunächst die Großmutter vom Schlitten. Kaum konnte sie gehen; die Füße waren ganz steif geworden von dem eingezwängten Sitzen. Die Arme waren ihr eingeschlafen, da sie das schwere Kind beständig gehalten hatte. »Das war eine schwierige Rückfahrt, liebe Tochter«, dann sich zu der Fremden wendend: »Kommen Sie, Liebe, wir wollen Ihnen herunter helfen.«

Die Unbekannte machte den Versuch, auf den Tritt zu steigen, wäre aber, wenn die beiden Frauen sie nicht schnell gestützt hätten, umgesunken. Sie wurde ins Familienzimmer geführt, wo sie sich erschöpft auf einen Lehnstuhl niederließ. Fräulein Linchen, die vor lauter Taschen und Paketen, die sie auf dem Schoß hatte, kaum zu sehen war, konnte sich nun endlich frei machen und auch vom Schlitten klettern. Die Reisenden aber sowohl als die zu Hause Gebliebenen waren alle in gleicher Weise gespannt, nun endlich zu hören und zu sehen, was es für eine Bewandtnis mit den aufgefundenen Leuten habe.

»Es tut mir so leid«, sagte die Fremde, »daß wir Sie belästigen mußten, wer konnte ahnen, daß wir dies Mißgeschick mit dem Wagen haben würden. Darf ich denn mit meinen Kindern um ein Nachtquartier bitten, da es unmöglich ist, heute abend weiter zu kommen?«

Die Pfarrerin versicherte freundlich, sie dürfe bleiben, so lange es ihr gefiele, worauf die Fremde den Kopf schüttelte und dabei blieb, morgen müsse sie unbedingt nach Lindstädt, von wo sie mit der Bahn nach der Residenz weiterreisen müsse. Dort sei ihr ältestes Töchterchen, Meta, bei Freunden, diese wolle sie abholen und dann mit den drei Kindern in die neue Heimat. Wo aber die neue Heimat sei, ob sie Witwe war oder der Mann noch lebte, welche Stellung derselbe im letzteren Falle bekleidete, das blieb zunächst verborgen. Die Frauen mochten die erschöpfte Unbekannte nicht durch Fragen belästigen; sie sorgten im Gegenteil für ihre Ruhe und Bequemlichkeit, während die Kinder im Nebenzimmer mit den kleinen Fremdlingen beschäftigt waren, die sich unter den Pfarrkindern bald heimisch fühlten. Während Röschen das kleine Mädchen auf dem Schoß hatte, trugen die andern Kinder herbei, was sie an Spielsachen hatten. Des Knaben Augen leuchteten, als Philipp ihm einen Pferdestall vorführte mit dem Bemerken, die zerbrochenen Pferde würden zu Weihnachten durch lauter neue ersetzt; seine Großmutter, die sehr reich sei, sei heute in der Stadt gewesen und habe viel eingekauft. Die kleinen Mädchen brachten ihre Püppchen und legten sie der Kleinen auf den Schoß, während Röschen ihr mit großem Eifer die Namen der Puppen vortrug und sie auf die Mängel und Gebrechlichkeiten derselben aufmerksam machte. »Du bist gewiß besser gegen deine Puppen als die Schwestern. Sieh nur, dieser haben sie einen Arm ausgerissen und diese hat keine Beine mehr. Dieser sind die Augen in den hohlen Kopf gerutscht, wir haben schon viel geschüttelt, aber sie gehen nimmer heraus. Wie heißest du denn eigentlich, kleines Mädchen?«

»Ich heiße Martin und sie heißt Mariechen«, antwortete der Knabe für sie. »Wohin wollt ihr denn?« »Zum Großvater«, war die Antwort. »Wo wohnt er?« »Ich weiß es nicht, er wohnt weit fort.« »Ach, ihr wollt ihn gewiß zu Weihnachten besuchen, das ist hübsch. Unsere Großmutter wohnt bei uns, sonst würden wir sie auch einmal besuchen. Jetzt kommt Fräulein Linchen mit der Milch, ich gebe dir zu trinken, Mariechen, nicht wahr?« Die Kleine nickte zustimmend und schlang die Ärmchen um Röschen, die nun mit großem Eifer für die Bewirtung der fremden Kinder sorgte.

Frau Pfarrer ging, als sie die Fremde leiblich erquickt hatte, hinauf, um mit Hilfe Mariannens im Gaststübchen ein Lager für sie und die Kinder herzurichten. Der Ofen wurde geheizt und das Bett mit einer Wärmflasche versehen. Dann begab sich die Hausfrau zu ihrem Mann ins Studierzimmer. Es war warm, hell und behaglich darin, tiefer Friede herrschte hier, alle Ereignisse der Außenwelt waren spurlos an dem gelehrten Herrn vorübergegangen. Er hatte wohl mit seinen leiblichen Ohren das Summen und Schwirren da draußen gehört, aber gegen den täglichen Kinderlärm war er abgestumpft, wenn er mit seinen Büchern und seinen Schreibereien beschäftigt war. Trat aber seine liebe Gattin zu ihm, hatte er stets ein freundliches Wort oder Lächeln für sie.

»Du studierst hier in größter Ruhe und weißt nicht, was wir schon alles erlebt haben. Die Großmutter ist heimgekehrt –« »Habe ich mir gedacht. Ich hätte ihr gern einen guten Abend geboten – aber du weißt, mein liebes Frauchen, dieser Aufsatz muß bis morgen fertig sein, – zum Abendbrot bin ich bei euch.« »Aber außer der Mutter ist noch jemand mitgekommen« – und nun erzählte Frau Dorothea von der blassen Frau und ihren Kindern, die unterwegs mit dem Wagen verunglückt waren und welche die Großmutter mitgebracht, damit sie die Nacht nicht obdachlos seien. Die Erzählung nahm denn auch das Interesse des Pfarrers in Anspruch. Wo es galt, einem Notleidenden oder Unglücklichen zu helfen, war er der Erste. Er hieß darum alles gut, was seine Gattin angeordnet hatte, und versprach, sobald es seine Arbeit erlaube, herüber zu kommen. »Wir wüßten gern, wer die Frau ist«, sagte die Pfarrerin, »sie scheint eine gebildete Dame zu sein, und die Kinderchen sind gut erzogen. Es ist, als hätte sie viel Trauriges erlebt, denn Kummerfalten liegen auf der Stirn und das Gesicht hat einen traurigen Ausdruck, auch trägt sie Trauerkleider.« »Vielleicht ist sie Witwe, liebes Kind, doch ausfragen dürfen wir sie nicht, wenn sie uns nicht freiwillig von ihren Erlebnissen erzählt. Doch sieh«, – er blätterte in seinen Büchern, »noch zwei Seiten, dann bin ich fertig.« Frau Pfarrer hörte schon wieder das Kritzeln seiner Feder, eine Mahnung, daß der Gatte nicht länger gestört sein mochte. Sie begab sich wieder ins Wohnzimmer, wo die Großmutter eben der Unbekannten den Arm reichte und sagte: »Das beste für Sie ist vollkommene Ruhe, nicht wahr, Dorothea, das Gastzimmer ist in Ordnung?« Frau Pfarrer bejahte es, und die Frau, die dem Umsinken nahe war, ließ sich willenlos von beiden Frauen hinaufführen und entkleiden. Die Pfarrerin eilte dann, die Kinder zu holen, die gern der Aufforderung, mit Mütterchen schlafen zu gehen, Folge leisteten.

Am Abend sprachen die Erwachsenen noch lange von den Ereignissen des Tages; endlich begaben auch sie sich zur Ruhe.

Frau Dorothea hatte vielleicht ein halbes Stündchen geschlafen, da erwachte sie von einem Lichtschein, der durchs Fenster drang. Es war, als ob jemand draußen auf dem Hofe mit einer Laterne hin- und herging. Christian konnte es nicht sein, der war längst zu Bett. Sollte ihr Mann zu einem Kranken geholt werden? Jetzt war das Licht verschwunden, es war doch vielleicht nur eine Täuschung. Sie lag eine Weile wach, die Augen nach dem Fenster gerichtet. Jetzt erschien das Licht wieder – beunruhigt stand sie auf, warf ihren Schlafrock über und trat ans Fenster. Sie sah deutlich, daß jemand vom Stall herkam und mit der Laterne auf's Haus zuschritt. Sie war eine mutige Frau und fürchtete sich nicht, nahm deshalb ein Licht und ging an die Haustür, um zu öffnen. Diese, die verschlossen sein sollte, war zu ihrem Schreck nur angelehnt. Jetzt: wurde sie behutsam geöffnet und – Großmutter erschien, in einen großen Mantel gehüllt, eine Laterne in der Hand.

»Aber, beste Mutter«, rief die Pfarrerin, »du auf nächtlicher Wanderung begriffen, was hat das zu bedeuten?«

»Sorge dich nicht, Dorchen, mir fehlt eins meiner Weihnachtspakete, und zwar das größte, wertvollste, die Puppenstube für das Röschen.« »Weißt du denn, ob es überhaupt auf den Schlitten gepackt war?« »Gewiß, ich habe es eigenhändig hineingelegt, das Ereignis mit der Fremden hat mich so eingenommen, daß ich beim Abladen der Pakete nicht aufgemerkt habe, ich glaubte nun, es sei im Schlitten vergessen.« »Wir wollen doch Linchen fragen«, riet die Pfarrerin, »sie hat, wie ich meine, alle Sachen in dein Zimmer getragen.«

Die beiden Frauen gingen an die andere Seite des Hauses, wo in einem schmalen Stübchen Fräulein Linchen die an diesem Tage hochwillkommene Ruhe gefunden hatte. Aber es half nichts, sie mußte nach dem vermißten Stück gefragt werden. Nach einigen schlaftrunkenen Äußerungen kam endlich eine Antwort in wachem Zustand. »Alle Pakete, die auf dem Schlitten waren, sind nach oben gekommen in Ihr Zimmer, Frau Elsner, ich wüßte nicht, wo es sein könnte.« Mit diesem Bescheid mußten sich die Frauen zufrieden geben. Frau Pfarrer ging noch einmal nach oben mit der Mutter, um suchen zu helfen. Da sah es wie lauter Weihnachtsbescherung aus. Auf dem Tisch war ein reizender Hühnerhof aufgebaut, daneben standen Pferde für Philipp, kurz alles, was Großmutter Schönes eingehandelt hatte, war ausgepackt und ausgelegt. »Du einzig gute Mutter«, rief Frau Dorothea gerührt, »das hast du alles heimgebracht für die Kinder!« Diese erwiderte verlegen, sie hätten müssen noch ein wenig aufbleiben und sich an den Sachen freuen nach dem ereignisreichen Tage. Man suchte und spähte nach dem verlorenen Stück, es fand sich nicht.

Fräulein Linchens schöner Schlaf war dahin. Wie ein Schrecken durchfuhr es sie, daß bei dem Unglück im Walde etwas mit dem Paket passiert sein müsse. Je mehr sie grübelte, desto klarer wurde es ihr, daß sie das fragliche Stück von der Bank genommen und einstweilen auf den Schnee geworfen hatte, um Raum für den Knaben zu schaffen. Ja, so war es gewesen! Natürlich hatte sie das Paket wieder aufnehmen wollen, sie erinnerte sich aber nicht, es getan zu haben. Nun lag es da, wahrscheinlich zerstampft und zertreten von den Pferden, oder wenn das nicht, so würde es morgen der erste Beste mitgehen heißen. Die schöne Puppenstube! Und die arme Großmutter! Aber am meisten war sie selber zu beklagen. Was würde es nun für Schelte geben für ihre Unachtsamkeit, denn bekennen mußte sie es ja am andern Morgen, und dann – sie war so geknickt, daß sie zu weinen begann, ja, bittere Tränen weinte sie in ihr Kopfkissen, bis ein wohltätiger Schlaf ihrem Kummer ein Ende machte. Auch die beiden Frauen begaben sich, da ferneres Suchen nutzlos erschien, zur Ruhe, und endlich lag das Pfarrhaus zu Dornburg in tiefem Frieden.


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