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22. Kapitel. Theas Verirrung

Frau von Immenhoff bewohnte den ersten Stock in einem hübschen Hause der Karlstraße. Sie wußte durch Geschmack und Kunstsinn ihren Zimmern ein feines Gepräge zu geben. Obwohl sie große Verluste gehabt hatte und sich sehr einschränken mußte, blieb ihr doch soviel, daß sie nach außen hin ihrem Stande gemäß auftreten konnte, zumal ihre Töchter sich alle einen Wirkungskreis gesucht hatten, der eine jede befähigte, für sich selbst zu sorgen. Lachen und Scherzen tönte aus dem Salon der gnädigen Frau. Alles hatte heute ein festliches Gepräge; die Schwestern waren ohne Ausnahme gekommen, um Theas Geburtstag zu feiern. Auch Röschen erschien, um Thea ihre Glückwünsche zu bringen. Das Geburtstagskind sah strahlend aus. »Röschen, ich bin überreich beschenkt, am meisten aber von – du weißt ja«, flüsterte sie, »laß dir aber nichts merken.« Röschens Gesicht nahm einen betrübten Ausdruck an. »Ich kann mich nicht mit dir freuen, Thea, ich möchte überhaupt einmal allein mit dir reden.« »Kleiner Vernunftskasten du«, rief Thea lustig, »heute laß nur die weisen Lehren, komm, wir wollen recht vergnügt sein. Die Schwestern sind alle da!« Damit zog sie sie in den Salon, wo die Schwestern um den Geburtstagstisch versammelt waren und Theas Geschenke bewunderten. »Von Mutter habe ich dies reizende Kleid, sieh nur, das soll ein Gesellschaftskleid werden, wenn ich erst im Hause des Herrn Fabrikbesitzers Hausdame bin. Dies habe ich von Wilhelmine, dies von Lottchen, das feine Briefpapier von Anna und die beiden Jüngsten, Klara und Frieda, haben mir diese reizende Nähtischdecke gearbeitet. Und dies«, sie zog aus der Tasche eine Kapsel, als sie sah, daß die Schwestern mit etwas anderem beschäftigt waren – »dies ist von ihm!« Sie öffnete es und zeigte ein glänzendes Armband, schloß es aber schnell wieder und steckte es ein. »Ist es nicht reizend?« flüsterte sie, Röschen schwieg und wurde dunkelrot, und die Schwestern, die etwas merkten, riefen: »Was hast du nur wieder für Heimlichkeiten. Thea, du willst dich doch nicht verloben?« »Man kann noch gar nicht wissen, wie alles kommt«, lachte Thea lustig. »Sonderbar«, rief Wilhelmine, »sprich dich doch deutlich aus.« »Ich spaße ja nur«, war Theas schnelle Antwort, »Mutter wartet mit dem Kaffee auf uns, kommt.«

Man ging in das angrenzende Zimmer, wo Frau von Immenhoff mit Liebenswürdigkeit oben am Kaffeetisch saß und sich anscheinend über alle ihre frisch und blühend aussehenden Töchter freute.

»Wie froh bin ich, daß jede ihren Beruf hat. Früher dehnten sie sich herum und langweilten sich; jetzt haben sie alle zu tun, und kommen sie zusammen, haben sie sich soviel zu erzählen über ihre verschiedenen Berufsarbeiten, daß Langeweile gar nicht aufkommen kann.«

»Wie geht es dir, Lottchen?« fragte Röschen ihre Nachbarin. »Ausgezeichnet«, versicherte diese, »ich finde fortwährend Beschäftigung in der Klinik. Bald muß ich dieser Dame Gesellschaft leisten, bald jener. Meine Aufgabe ist, die Kranken zu zerstreuen, ihnen vorzulesen oder zu erzählen.« »Lottchen hat die Gabe, lustig zu erzählen«, sagte Wilhelmine, »das erheitert die Damen, sie haben sie alle gern.« »So kann ich mit meiner geringen Gabe doch auch ein wenig nützen«, meinte Lottchen bescheiden, »ich bin ja doch die Geringste unter den Schwestern, weil ich unpraktisch bin und zu jeder ernsten Beschäftigung untauglich.« Und gerade sie mochte Röschen am liebsten, weil sie bescheiden und demütig war. »Welchen Beruf wollen denn deine jüngsten Schwestern ergreifen?« fragte Röschen.

»Klara will Examen in Handarbeit und Zeichnen machen. Sie hat großes Talent. Klara, zeige doch Fräulein Röschen dann einmal deine Zeichenmappe und deine Handarbeiten. Frieda will Buchhalterin werden.«

»Ja, denken Sie nur, Röschen«, klagte Frau von Immenhoff, »eine geborene von Immenhoff und – Buchhalterin!«

»Mutter, das ist ein ganz schöner Beruf, der viel Geld einbringt. Du weißt, ich rechne so gern.«

»Ja, rechnen ist ihr Lebenselement, das ist wahr. Sie war schon in der Schule die beste Rechnerin, und ich muß mich an den Gedanken gewöhnen, wenn ich zu ›Richter und Schumann‹ komme, meine Tochter als Kassiererin dort sitzen zu sehen.« »Es braucht ja nicht gerade hier zu sein, Mutter, ich gehe nach auswärts, wenn es dir anstößig ist.« »Nein, ich will dich wenigstens im Hause behalten und über dich, meine Jüngste, wachen, das ist nötig in solchen Geschäften, wo Herren und Damen gemeinsam arbeiten.«

Röschen mußte leise seufzen. Wie vernünftig war das von Frau von Immenhoff gesprochen, aber wenn sie doch die Schritte von Thea etwas mehr überwacht hätte; sie ahnte ja gar nicht, was sich hinter ihrem Rücken abspielte. Es war nicht möglich, heute allein mit Thea zu sprechen, Röschen konnte sie nur bitten, sie morgen zu besuchen, was sie gerne versprach.

Am folgenden Nachmittag wartete Röschen lange, endlich meldete Christiane Theas Besuch. Sie ging, um mit ihr allein zu sein, in den Garten.

»Du tust heute so feierlich, als hättest du mir etwas Besonderes zu eröffnen«, sagte Thea. »Etwas Besonderes möchte ich auch mit dir verhandeln, liebe Thea. Ich möchte dich inständigst bitten, die Verbindung mit Herrn von Langen zu lösen, es kann und wird nie etwas Gutes daraus werden.«

»Wenn du das mit mir verhandeln willst, verlasse ich dich sofort. Du kannst nicht verlangen, daß ich mein gegebenes Wort breche.«

»Weißt du denn so gewiß, daß er das dir gegebene hält?« fragte Röschen und sah sie forschend an. »Liebe Thea, denke an unsere Pensionszeit, denke an Fräulein Hochberg, was würde sie sagen, wenn sie es erführe, daß du dich ohne Wissen deiner Mutter verlobt hast.« »Mutter soll es ja erfahren, wenn die Wege geebnet sind. Alex wünscht jetzt, daß es geheim gehalten wird, und ich füge mich. Ich hoffe, Röschen, daß auch du dein Versprechen halten wirst und mich nicht verrätst.«

Röschen erschrak. Sie war zu ehrlich, um es zu verschweigen, und sagte leise: »Ich habe es gestern meiner Großmutter gesagt.«

»Pfui, Röschen, wie häßlich von dir. Ich werde dir nie wieder etwas anvertrauen.« »Komm mit zur Großmutter, sie wird dir meine Gründe sagen, warum ich es ihr mitteilte.« Thea mußte heute erfahren, daß der von ihr geliebte und angebetete Mann es nicht treu meinte, das stand fest bei Röschen. »Bist du schon einmal in Großmütterchens Stube gewesen?« Thea schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich mag gar nicht hinein, laß mich nach Hause gehen«, sagte sie unwirsch.

Und doch, als Röschen sie umschlang und sie mit sich ins Haus zog, folgte sie ihr willenlos.

Die ehrwürdige Matrone saß oben an ihrem Fensterplatz in ihrem großen Lehnstuhl, um sie herum die Kleinen. Trudchen auf ihrem Schoß, Eva und Lieschen auf Fußbänken vor der Großmutter, hatten die Händchen gefaltet, so andächtig hörten sie auf das, was Frau Elsner sagte.

»Nun lauft, was ihr könnt, ihr Kinder, jetzt will ich mit Röschen und ihrer Freundin reden.« »Ach bitte, noch das Ende von der Geschichte«, baten die Kinder. »Das Ende sagte ich ja schon; wir sollen nie etwas heimlich tun, ohne das Wissen unserer Eltern oder Großeltern. Der liebe Gott sieht alles, er schaut auch ins Verborgene und weiß, ob ein Kind gut oder böse ist. Nun geht hinunter und laßt euch von den Schwestern eure Milch geben.« Gehorsam verließen die Kinder das Zimmer, und nun wandte Frau Elsner sich liebevoll an Thea. Das junge Mädchen tat ihr so leid in ihrer Verirrung, mit Liebe und Erbarmen wollte sie sich ihrer annehmen.

»Meine liebe Thea, wie geht es Ihnen?« fragte sie und streichelte ihr die Wangen. Dabei sah sie sie mit ihren klaren, blauen Augen so traurig an, daß Thea errötend den Blick senkte und ihr Tränen in die Augen traten.

»Sie wissen es ja nun doch einmal, Frau Elsner, finden Sie es denn auch so unrecht, daß ich mich verlobt habe? Alexander von Langen und ich kennen uns schon lange, wir haben uns gegenseitig gestanden, daß wir uns liebhaben, und er hat versprochen, mich zu heiraten.« »Er hat aber durchaus nicht die Absicht, Sie zu heiraten, armes Kind. Er täuscht Sie. Ein anderes Mädchen wird bald seine erkorene Braut sein, deshalb müssen Sie ihm vorher den Scheidebrief geben, ihm sagen, daß Sie wissen, wie treulos er an Ihnen gehandelt hat. Röschen hat es vorgestern mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört, wie er sich dem Mädchen genähert hat, und wie auch Eltern und Schwestern es sehnlich wünschen, daß diese Verbindung bald zustande komme.«

Röschen war, als die Großmutter begann, leise hinausgegangen; sie konnte und mochte nicht Zeugin sein von dem Kummer Theas. Diese sah Frau Elsner an, als habe sie sie nicht verstanden, erst, als diese es noch einmal wiederholte, wurde sie ganz blaß, ihre Hände waren eiskalt.

»Ja, mein liebes Kind, es gibt mir selbst einen Stich durchs Herz, daß ich es Ihnen sagen muß, aber dies ist die Folge der Verheimlichung. Sie kennen die Welt noch nicht, sonst hätten Sie Mißtrauen empfunden darüber, daß Herr von Langen die Sache geheim halten wollte. Sie hätten nicht einwilligen dürfen. Bitten Sie Gott den Herrn, daß er Ihnen diese Verirrung vergibt, daß er Ihnen Kraft verleiht, das Schwere, was für Sie aus dieser Geschichte erwächst, zu tragen.«

Thea, die noch immer regungslos dagesessen hatte, brach plötzlich in ein heftiges Schluchzen aus. Frau Elsner war froh, daß sie weinen konnte und ließ sie gewähren. Dann plötzlich fiel sie Frau Elsner zu Füßen und rief: »Oh, liebes Großmütterchen, sagen Sie mir, was soll ich tun; ich kann es ja nicht glauben, daß Alexander wirklich so schlecht an mir gehandelt hat. Oh – und ich kann ihn nicht aufgeben.«

Die Großmutter suchte sie immer mehr davon zu überzeugen, daß sie dies so bald wie möglich tun müsse, daß sie vor allen Dingen ihrer eigenen Mutter alles bekennen müsse. Dazu konnte sich Thea schwer entschließen; sie meinte, die Mutter würde es den Schwestern erzählen, und diese würden sie necken und aufziehen. Nein, lieber wollte sie in der Stille, hinter dem Rücken der Mutter, abbrechen, so daß niemand etwas davon merke.

Frau Elsner sah sie betrübt an. »Glauben Sie wohl, daß Röschen es fertig brächte, irgend etwas Unrechtes hinter meinem Rücken zu tun?« »Röschen ist auch ganz anders«, entschuldigte sich Thea, »und Sie – sind auch anders als meine Mutter, Ihnen kann man alles sagen.«

Die Großmutter hielt es für durchaus notwendig, daß die Mutter von der Sache erfuhr, und brachte es durch vieles Zureden endlich dahin, daß Thea versprach, sich der Mutter zu entdecken.

Das arme Mädchen weinte viel. Es war nach des Vaters Tod der erste tiefe Kummer ihres Lebens. An einem Menschen, den man liebt, irre zu werden, ihn, den man für treu gehalten, treulos dastehen zu sehen, war mehr, als sie ertragen konnte.

Es war spät geworden, sie mußte aufbrechen. Großmutter, die das junge Mädchen in ihrem Schmerz nicht allen gehen lassen wollte, rief Röschen, sie zu begleiten. Es war dieser Herzensbedürfnis, noch mit Thea allein zu reden. Diese fragte sie unterwegs hastig nach allen Einzelheiten, sie wollte und konnte es immer noch nicht glauben, daß sie sich getäuscht haben sollte. Und doch, Röschens Beobachtungen und Josephas Äußerungen bewiesen deutlich, daß an der Sache etwas war.

»Nimm es nicht zu schwer, liebe Thea. Der Betreffende ist es nicht wert, daß du um ihn trauerst, richte deine Gedanken auf deinen zukünftigen Beruf und denke daran, wie Fräulein Hochberg uns immer darauf hinwies, daß wir bei allem, was wir unternehmen, uns fragen sollten, ob unser Tun Gottes, unseres Heilandes, Wohlgefallen habe.« »Das habe ich freilich nicht getan«, bekannte Thea.

Sie standen schon vor Theas Hause, als sie dies sprachen. »Ihr seht ja aus, als ob ihr des Reiches Wohlfahrt zu beraten hättet«, ertönte eine heitere Stimme. Lottchen kam nach Hause, nachdem sie den Tag über ihre Berufspflichten treu ausgeübt hatte. »Kommt mit hinauf«, rief sie, »ich habe euch etwas Lustiges zu erzählen.«

»Ich muß heim, es ist die höchste Zeit«, sagte Röschen, sich verabschiedend. Die beiden Schwestern gingen miteinander die Treppe hinauf, die eine fröhlich und wohlgemut, die andere geknickt und traurig.


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