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28. Kapitel. Im Herbst

Nun war es Herbst geworden. Großmutter und die Kinder waren am Grab der Mutter und schmückten es mit Blumen. Die Kleinen sprangen vergnügt zwischen den Gräbern herum, für sie hatte der Tod nichts trauriges; Mütterchen war droben beim Heiland, wo sie es sehr gut hatte. Sie empfanden die Lücke nicht mehr, weil sie eine treue Großmutter hatten, die für sie sorgte, und eine große Schwester, die sie lieb hatte. Die drei größeren Mädchen standen ernst neben der Großmutter am Grabe; sie fühlten den Verlust schon mehr, obwohl auch sie es eher verschmerzt hatten als Röschen, die mit einem Arm die Großmutter umschlungen hatte und mit der andern die Augen bedeckte, die voll Tränen standen. »Ja, mein liebes Kind, wir beide haben außer dem Vater am meisten verloren«, sagte Frau Elsner, »und doch müssen wir Gott danken, daß er uns beide frisch und kräftig erhalten hat, daß wir die Pflichten, die er seit der Mutter Tod auf uns gelegt hat, erfüllen konnten. Nun wollen wir fröhlich weiter pilgern an der Hand dessen, der gesagt hat: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.«

Dann wandte sie sich an Emmi, Nanni und Miezi, die das Grab vom Unkraut befreiten und die selbstgewundenen Kränze darauf legten. »Und ihr drei werdet auch immer mehr an eure Pflichten denken und es eurer Großmutter erleichtern, wo ihr könnt. Es wird eine Zeit kommen, wo die Schwächen und Gebrechen des Alters eintreten, wo ihr vielleicht nichts mehr von Großmutter erwarten dürft, sondern sie eure Hilfe wird in Anspruch nehmen müssen, wie dann?«

Alle drei stürzten auf Frau Elsner zu und wollten sie schier erdrücken mit ihren Liebkosungen. »Oh, wenn du doch heute noch krank würdest, Großmütterchen«, rief Miezi, »wie wollte ich dich pflegen! Die schönsten, weichsten Kissen legte ich dir unter den Kopf und wollte immer bei dir sitzen und dir schöne Geschichten vorlesen.« »Gott verhüte, daß dieser Fall bald eintritt, aber ich freue mich, daß ich so gute Pflegerinnen in Aussicht habe.«

»Wir wollen dich auch pflegen, Großmütterchen«, riefen die Kleinen und schmiegten sich an Frau Elsner, so daß diese sagte: »Nun lauft nur, ihr reißt mich ja um.« Im Herzen aber fühlte sie reiche Befriedigung; sie wußte, sie hatte noch einen Beruf auf Erden, und es waren viele kleine Herzen da, die sie lieb hatten.

Am Nachmittage, als der Vater mit Philipp nach dem Gottesacker gegangen war, saß Frau Elsner mit Röschen in der Veranda, während die Kinder im Garten spielten. Sie sprachen von diesem und jenem, wie sie sich freuten, daß Thea ihre Gesundheit wiedererlangt habe, daß ihr Beruf ihr Freude mache und die alte Frau Dr. Ernst sich so zufrieden über ihre Leistungen ausgesprochen habe. Auch die andern Töchter der Frau von Immenhoff fühlten sich glücklich in ihrem Beruf, die beiden Jüngsten lernten noch und bereiteten sich vor. Meta war augenblicklich in Beckedorf, um ihre Herbstferien dort zu verleben, Röschen bedauerte, sie gestern auf der Durchreise nicht gesehen zu haben.

»Ich möchte mit dir, ehe der Winter kommt, noch einmal nach Beckedorf; Frau von Wrede hat mir freilich gesagt, daß mein Besuch dort nicht erwünscht ist, aber es zieht mich immer in die alte Heimat. Du bist die einzige, mit der ich darüber sprechen kann. Willst du mit und deine Meta besuchen?« »Wie gerne, liebe Großmutter!«

Die Familie erhob einen Sturm, als es eines Tages hieß: Großmutter wolle mit Röschen nach Beckedorf. Sie meinten nicht anders, als daß sie alle mitgehen müßten.

»Emmi, Nanni und Miezi haben viel Vergnügen in den Sommerferien gehabt, sie bleiben hübsch zu Hause und werden gut haushalten. Aber«, fuhr die Großmutter fort, und erhob drohend den Finger, »es werden keine Extraarbeiten vorgenommen. Ihr beaufsichtigt die kleinen Geschwister und vergeßt nicht den Kaffee für den Vater.«

Das Wetter war nicht besonders schön, aber Großmutter meinte, sie wollten nur fahren, es regne ja nicht, und den Wind könne sie vertragen. »Du tust es nur mir zuliebe, Großmütterchen, damit ich Meta sehen soll.« »Ja, mein liebes Kind, nächste Woche ist sie nicht mehr da, und du weißt, daß ich selbst nur zu gerne nach Beckedorf gehe.« Röschen hatte aber doch Sorge, da das Stück vom Bahnhof zu Wredes ziemlich weit war. Frau Elsner meinte, sie würden geschützter gehen, wenn sie den Weg unten am Bach wählen würden. Aber auch hier hauste der Wind arg und trieb die Blätter von den Bäumen. »Es wird Herbst«, sagte Großmutter, »wir hätten gut getan, wir hätten Philipp als Stütze mitgenommen; sein Arm ist kräftig, er führt sicher!« »Versuche es doch mit mir, liebe Großmutter, ich bin wirklich kräftiger als du denkst; siehst du so – es geht ganz gut. Hier unten ist es geschützter, man hört es nur rauschen in den Bäumen. Was wird Meta sagen, wenn wir heute kommen, und wie werden wir es finden?«

»Im Garten werden wir natürlich niemand finden bei dem rauhen Wetter, wir wollen nur gleich mutig ins Haus gehen.«

Großmutter stand oft still, um Atem zu schöpfen; es ging eben nicht mehr so leicht wie vor vierzig oder fünfzig Jahren. Da flog sie dahin wie ein Pfeil, die Gräben wurden übersprungen. Die alten Bäume hinter der grauen Mauer nickten ihr so bekannt zu, als wollten sie sagen: »Komm nur wieder, es ist Zeit.« Sie sah nach dem verschlossenen Pförtchen in der Mauer, es war ihr, als müßte es sich öffnen und sie hindurchschlüpfen.

In dem kleinen Garten nebenan blühten Georginen und Astern und andere Herbstblumen. Der Wind jagte auch hier die gelben Blätter in den Wegen zusammen, und die Zweige in den alten Kastanienbäumen knackten und schwankten hin und her. Sonst war auf dem Hofe alles still, kein menschliches Wesen ließ sich hören. Sie gingen in das Haus. Beim Geräusch ihrer Tritte wurde die Tür geöffnet; Frau von Wrede stieß einen Ruf der Überraschung aus.

»Liebe Frau Elsner, in diesem stürmischen Wetter hätte ich Sie nicht erwartet!« »Sie haben mich überhaupt nicht erwartet, da Sie mir gesagt haben, daß mein Besuch hier nicht erwünscht ist. Aber Röschen hatte große Sehnsucht nach Meta, allein wollte ich sie nicht gehen lassen, so habe ich sie begleitet. Wir wollen uns nur zwei Stunden aufhalten, nicht wahr, es ist erlaubt?«

»Gewiß! Ich freue mich unbeschreiblich, wenn ich mit Ihnen zusammen sein kann und mein Vater – wird es vielleicht heute gar nicht merken. Er klagte über Unwohlsein und Schwindel und wollte sich hinlegen.«

Frau Elsner mußte ihre Sachen ablegen und sich auf das Sofa setzen, während Röschen nach oben geschickt wurde, wo Meta in ihrem Stübchen saß und schrieb. Mariechen war bei ihr und spielte mit ihrer Puppe, während Martin eine Besorgung in der Stadt machte.

Frau von Wrede erzählte der Großmutter halblaut, daß sie es sehr schwer habe; der Vater sei in letzter Zeit so verdrießlich und übellaunig gewesen; ob es ihm nicht passe, daß Meta zum Besuch sei, sie wisse es nicht, aber etwas müsse sie doch auch von ihrer ältesten Tochter haben.

»Vielleicht liegt ein körperliches Leiden zugrunde«, sagte Frau Elsner besorgt. »Sie meinten vorhin, daß er schlecht aussähe und daß auch sein Appetit zu wünschen übrig lasse.« »Ja und nicht das allein; er ist auch ruhelos. Ich höre ihn oft in der Nacht umherwandern und Namen nennen.« »Welche Namen könnten das sein?« »Man versteht es nicht genau, obwohl die Wand, die uns trennt, sehr dünn ist. Einmal glaubte ich deutlich den Namen ›Therese‹ zu hören, doch kann ich mich auch geirrt haben.«

Frau Elsner wurde unruhig. Sollte der Bruder sie erkannt haben? Sollte sich wohl in seinem Herzen etwas regen von Reue und Gewissensbissen?

»Eigentlich hat meinem Vater nie etwas gefehlt, so lange ich denken kann«, fuhr Frau von Wrede fort. »Anders war es mit der Mutter, die viel kränkelte. Aber sie war so sanft, so gut, so wohltätig gegen die Armen«, und nun erging sie sich in Erinnerungen an die Heimgegangene, zumal sie merkte, mit welchem Interesse Frau Elsner ihr zuhörte.

Plötzlich hörten sie einen dumpfen Fall, so daß sie erschreckt auffuhren. Dann war alles still.

»Dort ist etwas passiert«, sagte Frau von Wrede und eilte in das Zimmer ihres Vaters. Frau Elsner zögerte noch, aber da Frau von Wrede nicht wiederkam, ging sie ihr nach. Die vordere Stube war leer, aber aus der daranstoßenden kam ein gurgelnder Laut und nun erschien Frau von Wrede todesbleich auf der Schwelle und winkte. Reden konnte sie nicht; sie war wie gelähmt vom Schreck.

Der alte Herr lag auf der Erde vor einem geöffneten Schrank: er war vom Schlage getroffen, aber nicht tödlich. Die beiden Frauen hoben ihn auf und legten ihn auf das nahe Bett. Dann lief Frau von Wrede nach oben und bat die erschreckten Mädchen, schnell den Arzt zu holen. Frau Elsner stand allein neben dem todkranken Bruder, er schien sie nicht zu kennen.

Als der Arzt kam, verließ sie das Zimmer und suchte die weinende Meta zu beruhigen. »Es steht alles in Gottes Hand«, sagte sie, »er macht es, wie es ihm wohlgefällt.« Dann wandte sie sich an Röschen, sagte ihr, sie möge allein zurückfahren und daheim alles gut versorgen, ihr Platz sei jetzt hier, sie könne und dürfe Frau von Wrede diese Nacht nicht allein lassen. Röschen begriff es vollständig, Meta dagegen wollte Umstände machen und bat Frau Elsner, sich ihres Großvaters wegen nicht zu bemühen; es sei gewiß jemand in der Nähe, der gerufen werden könne, um die Nacht mit der Mutter zu wachen. Die Großmutter beharrte jedoch bei ihrem Entschluß; sie wäre jetzt um keinen Preis vom Lager ihres Bruders gewichen. Liebe zu geben und Liebe zu üben war ihre Lebensaufgabe gewesen; nun konnte sie vielleicht einem Sterbenden versöhnende Liebe entgegenbringen.

»Röschen, nimm das kleine Mariechen mit. Wo so viele Kinder sind, kommt es auf eins mehr oder weniger nicht an. Hier ist das arme Kind verlassen und hat traurige Eindrücke.« Das Kind sah Frau Elsner dankbar an, auch Meta war damit einverstanden und ging, ihre kleine Schwester mit dem Nötigen zu versehen. »Den Martin können wir als kleinen Boten hier behalten, wird er nicht gebraucht, kann er zu Pastor Bruger gehen.« Die Großmutter sagte alles mit ruhiger Überlegung; als sie den Namen Bruger aussprach, kam ihr noch ein Gedanke. »Ihr Mädchen kommt, wenn ihr an den Bahnhof geht, am Pfarrhause vorüber, bittet den Herrn Pfarrer, heute abend hier einzusehen, wir bedürfen seines Rats und des Trostes.«

Die Mädchen gingen, Frau Elsner war allein. Sie bedurfte einige Minuten der Ruhe und Sammlung. Sie bat Gott, ihr die rechten Worte in den Mund zu legen, wenn das Bewußtsein wiederkehren sollte, wenn es eine Erkennung zwischen ihr und dem Bruder geben würde.

Der Arzt sah sehr bedenklich aus, als er aus dem Krankenzimmer kam. Er verschrieb verschiedene Rezepte, die Martin in die Apotheke tragen mußte.

Die Mädchen waren inzwischen gegangen, um ihren Auftrag auszurichten. Der Pfarrer kam gerade aus seiner Haustür, um einen Kranken zu besuchen. Er war sehr betroffen über das, was Röschen ihm sagte, und versprach zu kommen. Die beiden gingen nun langsam dem Bahnhof zu, beide still mit ihren Gedanken beschäftigt; das Mariechen aber sah vergnügt und selig aus, eine Reise war für sie etwas so Schönes, Unfaßbares, daß sie diesen Tag für den glücklichsten ihres Lebens hielt.

Der Oberpfarrer, der emsig arbeitete, wurde sehr stutzig, als Röschen ihm das Nichterscheinen der Großmutter meldete. Er nahm die Brille ab und sagte gedehnt: »Unsere Großmutter nicht da, das geht ja gar nicht!« »Doch, Vater, es muß gehen und wird schon gehen.« Und nun erzählte sie dem erstaunten Vater, daß Großmutter ihren Bruder wiedergefunden habe, und daß dieser der Vater von Frau von Wrede in Beckedorf sei. Dann berichtete sie weiter, was wir bereits wissen. Der Oberpfarrer wußte natürlich durch seine Frau von den Schicksalen seiner Schwiegermutter, hatte aber, wie sie selbst früher, geglaubt, daß der Bruder tot sei, daß wenigstens ein Wiedersehen der beiden ausgeschlossen sei. Nun wurde ihm klar, warum die Großmutter so gern nach Beckedorf fuhr; er hatte es alles auf die Freundschaft mit Bruger geschoben.

»So, so«, sagte er, »das sind ja seltsame Geschichten, und du, mein Töchterchen, hast davon gewußt?« »Großmutter hat mir früher einmal aus ihrer Vergangenheit erzählt, und als wir das erste Mal in Beckedorf waren und der alte Herr sich zeigte und Großmutter nachher so aufgeregt war, habe ich mir alles gedacht.«

Mariechen wurde mit Jubel von der Kinderschar begrüßt. Sie fand es wunderschön bei Oberpfarrers und meinte, in einem so großen, hübschen Zimmer habe sie noch nie geschlafen.

Röschen aber dachte viel an Beckedorf, an das kleine Häuschen am Bach und an das Pfarrhaus mit dem einsamen Mann.


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