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12. Kapitel. Philipp

Diese durch den Glauben geheiligte Trauer lag wie ein Schleier über dem sonst so fröhlichen Familienleben des Pfarrhauses. Alle gingen still und ernst ihren Weg; sie suchten einander Liebe zu erweisen, vor allen Dingen trachteten die Töchter danach, bei dem Vater dieselben kleinen Dienste zu verrichten, die ihm die Mutter sonst geleistet hatte. Auch der Großmutter taten sie Handreichungen wo sie konnten, auf Fräulein Linchen war nicht viel zu rechnen; sie war jetzt zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, da sie sich in kürzester Frist zu verehelichen gedachte.

Philipp ließ sich äußerlich nicht viel merken, wie sehr er die Mutter vermißte, und doch war sie diejenige gewesen, zu derer am meisten Vertrauen gehabt hatte; er hatte, als einziger Sohn, ihrem Herzen sehr nahe gestanden. Sie fehlte ihm überall, besonders in diesen Tagen. Das Ende des Semesters war da; in wenigen Tagen wurden die Versetzungen, die auf diesem Gymnasium halbjährlich waren, bekannt. Er war schon Ostern sitzengeblieben und hätte allen Fleiß anwenden müssen, um aus der Klasse zu kommen. Er war sich aber ziemlich klar, nach seinen Leistungen zu urteilen, daß er abermals werde sitzenbleiben. Ihm fehlte der Eifer, der ausdauernde Fleiß; der Vater hatte sich fast gar nicht um seine Arbeiten gekümmert, der Vikar hatte ihm durch seine Strenge das Lernen immer mehr verleidet. Auch war Herrn Brugers Zeit im Sommer durch Examensarbeiten so sehr in Anspruch genommen gewesen, daß er gezwungen war, Philipp sich oft selbst zu überlassen. Der Sommer mit seinen Vergnügungen hatte diesen vielfach von seinen Studien abgezogen, leider hatte er sich an Mitschüler angeschlossen, die dem Sport huldigten und das Lernen für Nebensache hielten. Nun war die Not wieder da.

Der Vater wollte es sich Ernst sein lassen mit seiner Äußerung, sich mehr um Philipp zu kümmern, und nahm einen Tag vor Schulschluß Veranlassung ihn zu fragen, wie es mit seinen Schulangelegenheiten stehe. Philipp geriet in Verlegenheit, er murmelte etwas Unverständliches zwischen den Zähnen. »Ich nehme mit Bestimmtheit an«, sagte der Vater ernst, »daß du mir ein gutes Zeugnis bringst und versetzt wirst, sonst würdest du deinen ohnehin gebeugten Vater bis in den Tod betrüben.« Philipp zeigte den Abend eine bedrückte Miene und ging am Sonnabend beklommenen Herzens in die Klasse.

Der Oberpfarrer war Sonnabend meistens für die Seinen unsichtbar. Bei Tische erschien er zwar, aß aber sehr eilig und hatte längst vergessen, daß heute der Tag der Versetzung war. Der Vikar hatte auch zu tun gehabt und kam, als schon alle saßen. Er sah es Philipp sofort an, daß nicht alles in Richtigkeit sei, und sagte ihm nach Tisch, er möchte ihm sein Zeugnis bringen. Dann ging er in sein Zimmer und wartete. Als eine Stunde vergangen war und Philipp sich noch nicht eingefunden hatte, ging er hinunter, ihn zu suchen. Niemand hatte ihn gesehen. »Unverbesserlicher Schlingel«, murmelte der Vikar, »natürlich ist er wieder auf und davon, und das Zeugnis ist dermaßen ausgefallen, daß er es niemand zeigen mag. Wenn der Vater sich nicht mit allem Ernst des Sohnes annimmt, ich allein kann es auch nicht erzwingen.« Er ging verdrießlich hinauf, in der Hoffnung, ihn zur Vesperstunde, die er ungern versäumte, sicher zu finden. Doch als da sein Platz leer blieb, wurde er bedenklich. Er hätte gern die Großmutter geschont, die jetzt mit dem Hauswesen vollauf zu tun hatte, und täglich viele Besuche empfangen mußte – aber es war seine Pflicht, er mußte reden.

»Frau Elsner«, begann er, »haben Sie schon das Zeugnis Philipps gesehen?« »Noch nicht, mein lieber Vikar, ich habe heute noch keinen Augenblick Zeit gehabt, an Philipp zu denken. Ist heute der verhängnisvolle Tag der Versetzung? Warum hat uns denn der Junge noch nicht sein Zeugnis gebracht?« »Ich fürchte, es ist so ausgefallen, daß er es nicht sehen lassen will. Er selbst hat sich unsern Blicken entzogen, ich warte bereits seit einigen Stunden auf ihn.«

»Ich werde ihn vornehmen, wenn er zum Abendbrot heimkehrt«, versprach die Großmutter, und nahm sich vor, von nun an ein besonders wachsames Auge auf ihren Enkel zu haben, dies als neue, vornehmste Pflicht anzusehen.

Als zum Abendbrot Philipps Platz wieder leer blieb, ging ein Erschrecken durch die ganze Familie. Der Vater sprang auf und rief: »Was! Seit Mittag ist Philipp nicht heimgekommen! Da ist etwas passiert.« Der Vikar machte sich Vorwürfe, nicht früher und gründlicher nachgeforscht zu haben, aber es war in letzter Zeit zuweilen vorgekommen, daß der Knabe erst zur Abendbrotzeit nach Hause kam, und wenn Herr Bruger Vorstellungen machte, hatte der Vater wohl gesagt: »Es ist gesund, wenn er sich im Freien tummelt.« Aber heute, am Versetzungstage, und das gedrückte Gesicht zu Mittag! Was sollte man davon denken! Die Schwestern besannen sich, wann sie ihn zuletzt gesehen, alle kamen darin überein, daß es zu Mittag gewesen sei. Er mußte sich eben ganz heimlich davon gemacht haben. Aber wohin?

»Soll ich zu seinem Klassenlehrer gehen, dort erfahre ich über sein Zeugnis Näheres«, fragte Herr Bruger den Oberpfarrer.

»Noch nicht«, bat der geängstigte Vater. »Sein Ausbleiben hat vielleicht natürliche Gründe, ich möchte nicht gern, daß es an die Öffentlichkeit dringt. Kommen Sie, Herr Vikar, wir beide wollen gehen und den Knaben suchen, Sie wissen, wo er sich vorzugsweise an den freien Nachmittagen aufgehalten hat.« »Er ist oft mit seinen Kameraden auf dem Tannenberg gewesen.« – »So lassen Sie uns dahin gehen.« Man merkte dem Oberpfarrer die Angst an. Er sprach kurz und abgebrochen, seine Stimme hatte einen heiseren Klang. Die Großmutter sah ihnen mit Sorgen nach. Ihr Herz klopfte hörbar. Das war die erste große Sorge, die sich auf sie legte seit dem Heimgang der Tochter. Und wieviel würde noch kommen, wenn sie an die große Kinderreihe dachte, die erzogen werden sollte. Da schlüpften wieder ein paar Gestalten zur Haustür hinaus, sie gingen doch nicht alle, um zu suchen?

Fräulein Linchen kam aufgeregt herein. »Denken Sie nur, Frau Elsner, Röschen und die drei Mädchen wollten sich nicht halten lassen. Sie sind nach dem Schießplatz gegangen, um Philipp dort zu suchen; sie behaupteten, dort spiele er oft mit seinen Freunden.« »Sie hätten aber die Mädchen nicht gehen lassen sollen bei dieser Dunkelheit; dazu hat der Wind sich erhoben, es rauscht bedenklich in den Baumwipfeln. O welch ein schrecklicher Abend ist dies! Barmherziger Gott, erbarme dich!«

Linchen suchte die Großmutter zu trösten, die am liebsten auch Sturm und Wetter getrotzt hätte, um den Ihrigen nachzugehen. Sie mußte ausharren und ihre Lieben Gott dem Herrn befehlen. Jetzt ließ der Wind mehr nach, dafür setzte der Regen ein mit aller Gewalt. Da nahten sich Schritte. Die Mädchen kamen wieder, in Tränen aufgelöst. »Wir finden ihn nicht«, riefen sie, »wir haben überall nachgesucht, auf dem Schießplatz, wo er mit seinen Freunden oft Fußball spielte, war es schon ganz finster, und alles war leer. Wir fürchteten uns und kehrten um, in der Hoffnung, Vater möchte Philipp schon gefunden haben.« »Vater ist nicht zurück«, sagte die Großmutter trübe. »Gott weiß, wie das enden mag.« Sie saßen in dumpfem Schweigen beieinander. Emmi, Nanni und Miezi weinten leise vor sich hin, Röschen hatte die Großmutter umschlungen und betete still zu Gott, er solle helfen in dieser Not.

»Jetzt kommen sie«, rief Emmi und alle drei stürzten an die Tür. Der Vater und Herr Bruger kehrten allein zurück. Ersterer sah matt und vergrämt aus; er setzte sich schweigend. Endlich sagte er: »Es ist nutzlos, daß wir alle aufbleiben; Kinder, geht zu Bett und bittet Gott, daß er über euren Bruder wachen wolle, der in seinem Unverstand das Elternhaus heimlich verlassen hat.«

Die Töchter nahmen schweigend ihr Licht und entfernten sich; auch Herr Bruger ging hinauf. Es waren aber wohl wenige Augen, die sich heute zum Schlaf schlossen.

Die Großmutter legte ihre Rechte auf des Schwiegersohnes Schulter und sagte: »Des Herrn Hand ruht schwer auf uns, doppelte Trübsal ist über uns hereingebrochen.« »Ja, Mutter; der Heimgang meiner guten Frau war namenlos schwer für mich, aber die Trübsal kam aus Gottes Hand. Es trägt sich leichter als ein selbstverschuldetes Kreuz; ich fühle bei dieser Sache meine Schuld. Ich habe meinen Sohn vernachlässigt.« Mit diesen Worten nahm er sein Licht und ging in sein Zimmer.

Die letzte war die Großmutter. Wie schwer sie an der Sache trug, konnte sie nicht aussprechen. Philipp war immer ein guter, aber etwas leichtsinniger Junge gewesen. Seine große Liebenswürdigkeit machte ihn bei Alt und Jung beliebt. Daß er aber selten die Zufriedenheit seiner Lehrer gehabt, hätte früher gerügt werden müssen, nun, wo das Unglück hereingebrochen, war es zu spät.

Röschen lag lange wach. Sie grübelte und sann, wohin wohl Philipp gegangen sein könnte. Da fiel ihr ein, daß sie oft einen Spaziergang gemacht hatten zu einer romantisch im Tal gelegenen Mühle. Ob er dahin seine Schritte gelenkt hatte? Vielleicht könnte man nachfragen, ob jemand ihn dort gesehen. Sie wollte in der Frühe, wenn alles noch schlief, allein dorthin wandern, und o! wenn sie es wäre, die zuerst Kunde von ihm bringen dürfte.

Endlich schlossen sich ihre müden Augen, doch schon nach einigen Stunden, bei Tagesgrauen, erwachte sie wieder. Sie stand eilig auf und ging leise hinunter. Der Regen, der die ganze Nacht an die Fenster geschlagen, hatte aufgehört, dichter Nebel hüllte alles ein, eine kalte Herbstluft herrschte draußen. Sie öffnete die Verandatür, schlüpfte hinaus, ging durch den Garten und fand die kleine Tür, die am Ende des Gartens gelegen war und immer verschlossen zu sein pflegte, offen. Verwundert, aber dadurch in ihrer Mutmaßung gestärkt, daß Philipp sich hier entfernt hatte, verließ sie den Garten und trabte, so schnell es bei dem Nebel und den schmutzigen Wegen möglich war, der Talmühle zu. Der Nebel zerteilte sich allmählich; sie vermochte immer weiter auszublicken, und da – siehe da – eine Strecke vor sich, auf der Landstraße, sah sie eine männliche Gestalt. Sollte er es sein? Sie beflügelte ihre Schritte, und sah wieder hin. Die Gestalt kam auf sie zu; – das war kein Knabe von fünfzehn Jahren, es war ein Mann und zwar einer, den sie gut kannte. Es war der Vikar.

»Schon so früh wieder auf, Fräulein Röschen?« »Es ist wohl natürlich, daß man nichts weiter vornehmen kann als suchen.« – Tränen erstickten ihre Stimme. »Eigentlich«, fuhr sie mit der ihr eigenen Offenheit fort, »sind Sie an dem Ganzen schuld, Sie haben es nicht verstanden, ihm Lust zum Lernen zu machen.« – »Das habe ich mir selbst auch gesagt«, war die gelassene Antwort. »Er ist immer mit Widerwillen zu Ihnen gegangen.« »Ist er das?« fragte er traurig. »Wenn er nicht vor Ihnen solche Angst gehabt hätte, wäre er nicht heimlich davongegangen.« »Das sind schwere Anklagen, Fräulein Röschen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich will jetzt in die Talmühle, um nachzufragen, ob man dort etwas von ihm gesehen hat.« »Sie können sich den Gang ersparen, ich war schon dort.« »Ich werde dennoch gehen, es ist mir eine Beruhigung, selbst dagewesen zu sein.« »Ich habe nachmittags zu predigen und habe bis jetzt noch nicht arbeiten können, deshalb möchte ich eilen nach Hause zu kommen.« Er lüftete seinen Hut und ging. Röschen stand einen Augenblick still und sah ihm nach. Das war nicht der schnelle, elastische Schritt, der Herrn Bruger sonst eigen war; es schien, als habe er Blei an den Füßen, auch erinnerte sich Röschen, daß sein Anzug ganz durchnäßt gewesen war. Er wird doch nicht die Nacht im Freien zugebracht haben bei dem entsetzlichen Wetter? Wie unfreundlich war sie ihm begegnet, wie gerne hätte sie ihr Unrecht wieder gut gemacht. Er sorgte sich vielleicht innerlich ebensosehr wie sie um den Knaben. Und wenn er bereits in der Talmühle gewesen war, hatte es ja keinen Zweck, noch einmal dorthin zu gehen. Sie kehrte also um und suchte Herrn Bruger wieder zu erreichen. Kurz vor der Gartentür traf sie ihn. Jetzt, da sie ihn aufmerksam prüfte, durchfuhr sie der Gedanke: »Er ist die Nacht hindurch in allem Regen auf der Suche gewesen.«

»Herr Bruger«, begann sie stockend, »Sie haben – wohl – nach dem Philipp gesucht?« »Seit gestern abend. Vielleicht entnehmen Sie daraus, daß ich nicht ganz gefühllos bin, sondern daß ich ihn auch ein wenig lieb gehabt habe.« Da reichte sie ihm die Hand und sagte: »Verzeihen Sie mir meine Äußerungen, ich habe es nicht so böse gemeint. Aber Sie müssen sich gleich umziehen, sonst erkälten Sie sich. Und ein paar Stunden müssen Sie schlafen, Sie können sonst heute nicht predigen.« Sie sagte es mit freundlich bittendem Ton. Er meinte, es sei nicht so schlimm, und ging hinauf, während sie in die Küche eilte, wo schon helles Feuer brannte. Sie bereitete, so schnell es ging, eine Tasse heißen Tee und schickte das Mädchen damit hinauf mit der Weisung: »Der Herr Vikar möchte den Tee recht heiß austrinken.«

Jetzt hörte sie des Vaters Tür gehen. Sie eilte dahin und sah den Oberpfarrer schon vollständig angekleidet stehen, als warte er auf etwas. »Ich hörte deine Stimme, mein Kind, komm herein.« Er sah blaß und ernst aus. Röschen folgte der Einladung traurig. »Setze dich, ich habe mit dir zu reden. Als ich gestern abend in mein Zimmer kam, lag dies auf meinem Pult, unter meiner Schreibmappe.« Er entfaltete es und gab es seiner Tochter. Es war das Zeugnis seines Sohnes Philipp.

Röschen las und sagte schluchzend: »Nun weiß ich, warum er fortgegangen ist.« »Ich weiß es auch«, sagte der Pfarrer dumpf, »ich hätte es nicht von Philipp geglaubt.«

Er hatte durchweg schlechte Nummern, war nicht versetzt, und dabei stand folgende Bemerkung: »Schüler wurde wegen Täuschung und Unfug mehrfach bestraft.«

»Armer Vater«, sagte Röschen, »nun ist heute Sonntag, vermagst du zu predigen?« »Ich muß! Halt mir nur die Kleinen ferne und sorge dafür, daß Emmi, Nanni und Miezi nicht fortwährend heulen. Ich möchte, daß der Sonntag möglichst stille ist; es gibt viele Amtshandlungen heute, und abends ist Bibelstunde. Morgen gehe ich selber zum Direktor, und wenn wir dann noch keine Kunde von Philipp haben, – mag's alle Welt wissen. Ich hoffe immer noch, er kommt wieder.« Dies letzte sagte er mit einem tiefen Seufzer, als sollte es heißen: »Ich glaube selbst nicht daran.«


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