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11. Kapitel. Unerwartete Trauer

»Hier ist der Brief Ihres Großvaters, worin er schreibt, Sie seien zur Lehrerin ausgebildet und befähigt, ein neunjähriges junges Mädchen in allen Schulfächern, wie auch in den fremden Sprachen zu unterrichten. Nun finde ich, daß Sie weder Französisch noch Englisch geläufig sprechen, auch der wissenschaftliche Unterricht genügt mir nicht, ich sehe mich veranlaßt, zu Weihnachten eine geprüfte Lehrerin zu nehmen.« »Sie wußten, gnädige Frau, daß ich mein Examen nicht gemacht hatte. Daß mein Großvater mich Ihnen empfahl als zur Lehrerin ausgebildet, tut mir leid; es ist ein Irrtum seinerseits. Ich bin nur im Pensionat von Fräulein Hochberg in A. gewesen«, erwiderte Meta der Frau Baronin von Uhden, die hoch aufgerichtet vor dem jungen Mädchen stand und mit erregtem Gesicht obige Äußerung machte.

Meta hatte schwere Monate hinter sich. Die kleine Ursula war ein sehr aufgewecktes Kind, die mit ihren klugen, spitzfindigen Fragen die arme junge Lehrerin oft in Verlegenheit setzte, zumal hinter ihr am Fenster die strenge Frau Mama mit ihrem Strickstrumpf saß und scharf rezensierte, auch wohl dreinredete, wenn sie meinte, etwas besser zu wissen. Das verwirrte Meta noch mehr. Sie bereitete sich immer ängstlicher auf den Unterricht vor, wenn sie aber hinter sich die Stricknadeln klappern hörte und das ungeduldige Räuspern der gnädigen Frau, so verlor sie den Faden und brachte ihren wohl einstudierten Geschichtsvortrag nicht zu Ende. Mit zwei erwachsenen Töchtern sollte sie französische und englische Konversation treiben, man hatte vorher nichts davon erwähnt; die Baronin meinte, es sei selbstverständlich, daß man dies von einer Lehrerin erwarten könne. Man hatte es in der Pension geübt, aber beherrschen konnte Meta die Sprachen nicht. Die jungen Mädchen, die immer Französinnen und Engländerinnen gehabt, wußten oft mehr als sie und kicherten, wenn sie sich verkehrt ausdrückte.

»Wir haben einen vollständigen Mißgriff getan«, klagte die Baronin gegen ihren Gemahl. »Aber das junge Mädchen ist bescheiden und liebenswürdig«, entgegnete dieser. »Was nützt es, wenn Ursula nichts lernt?«

Die Baronin hatte sich also veranlaßt gesehen, Meta zu kündigen, und diese saß niedergedrückt und traurig in ihrem Zimmer. Wäre die Dame nicht so hart und rücksichtslos gewesen, hätte sie Meta Zeit gelassen, sich allein mit der Kleinen einzuleben, so hätte es gehen mögen. Aber dies stete Aufpassen auf alles, was sie sagte und tat, dies Rügen jedes kleinen Versehens, brachte es dahin, daß Lehrerin und Schülerin mit Unlust an ihre tägliche Arbeit gingen; die schließliche Kündigung kam Meta nicht unerwartet, obwohl sie mit Sorgen an die Zukunft dachte. Sie schrieb ihrem Mütterlein alles, worauf diese betrübt antwortete, daß sie nicht den Mut habe, dem Großvater die Kündigung mitzuteilen, daß sie natürlich nach Hause kommen müsse, wenn sich keine andere, passende Stelle finden würde.

Da kündigte Frau Baronin Meta eines Tages an, daß ihre Schwester zum Besuch kommen würde mit ihrer kleinen Tochter, die in Ursulas Alter stand; sie würden zwei Tage bleiben, während dieser Zeit habe Meta frei und könne unternehmen, was sie wolle. Michaelisferien würden nicht sein, da nachher fleißig gearbeitet werden müsse.

Wie konnte Meta diese beiden freien Tage besser anwenden, als zu einer kleinen Reise zu Oberpfarrers. Sie hatten sie alle so freundlich aufgefordert, wiederzukommen, dort konnte sie sich Rat holen, vielleicht auch von einer Stelle hören. Da sie wußte, daß das Pfarrhaus zu jeder Zeit für Fremde und Gäste geöffnet war, meldete sie sich nicht an, sondern fuhr an dem freien Tage am Morgen mit der Bahn nach der Residenz. Ein paarmal hatten sie und Röschen sich geschrieben, aber nun waren mehrere Wochen vergangen, da sie nichts voneinander gehört hatten. Wie schön, daß sie sich mündlich über alles aussprechen konnten.

Sie hatte verschiedene Reisegesellschaft und achtete wenig auf das Geplauder der Fahrgäste. Mit der Zeit wurde der Wagen leerer, an einer Station stieg sogar alles aus; sie hoffte allein zu bleiben und ihren Gedanken nachhängen zu können; da kamen kurz vor Abgang des Zuges noch zwei Damen. Sie waren in tiefer Trauer und trugen Kränze. Sie sprachen von jemand, der viel zu früh für die Familie dahingegangen sei. Meta erfuhr nicht, wer es sei, da keine Namen genannt wurden, aber je mehr die Damen davon sprachen, um so lebhafter interessierte sie sich für den Fall. Es war eine Mutter von vielen Kindern, das entnahm sie dem Gespräch. Die Damen mußten wohl dem Hause nahe stehen, es schien aus ihren Reden wenigstens so. Jetzt nannten sie Namen, nun sprachen sie von einem Röschen. Röschen? Meta erschrak. Doch nein, es konnte ja nicht sein, es gab ja viele junge Mädchen dieses Namens. Nun hieß es weiter, die älteste Tochter werde wohl den Gedanken, Lehrerin zu werden, aufgeben müssen, da die Großmutter zu alt sei, um dem ganzen Hauswesen vorzustehen. Dies erschreckte Meta wieder, sie wollte die unbekannten Damen fragen, in welchem Hause Trauer eingekehrt sei, aber sie fand nicht den Mut. Auch war die Station erreicht. Die Damen stiegen aus, gingen aber zu Metas Beruhigung in ein an der Bahnhofstraße gelegenes Haus. So war der Todesfall in einer fremden Familie, sie hatte sich falschen Befürchtungen hingegeben. Eiligen Schrittes ging sie den ihr bekannten Weg nach der Kirchgasse. Als sie dieselbe erreicht hatte und das Haus von fern erblickte, überfiel sie wieder eine Beklommenheit, denn vor ihr ging eine schwarzgekleidete Person, die ein schönes Blumenkreuz trug, und eben jetzt sah sie von der anderen Seite einen Gärtnerburschen mit einem Palmzweig ins Pfarrhaus gehen. Nun war sie da. Sie öffnete die Tür und sah gerade, wie Röschen in tiefer Trauer, mit bleichem, verweintem Gesicht dem Burschen den Palmzweig abnahm; nun war ihr alles klar. »Röschen, ist es denn möglich?« Mit diesem Ausruf fiel sie der Freundin weinend um den Hals. Diese weinte still und sagte: »Ja, Meta, die beste aller Mütter, unseres Hauses Krone, ist uns genommen; wir konnten sie noch lange nicht entbehren.« Meta sagte, daß sie keine Ahnung gehabt habe, sonst wäre sie nicht gekommen, worauf Röschen ihre beiden Hände ergriff und bat, sie heute nicht zu verlassen, ihr beizustehen, die unabänderlichen häuslichen Dinge zu besorgen. Sie blieb bei der Freundin, froh, daß sie frei war und bleiben konnte. Immer wieder erzählte Röschen von der kurzen, schweren Krankheit der geliebten Mutter, und wie sie alle nicht daran gedacht hatten, daß es zum Sterben gehen könnte.

»Wo ist deine Großmutter?« fragte Meta, »wie trägt sie es?« »Großmutter ist in ihrer Stube und hütet die Kinder, damit es stille ist im Hause!« »Darf ich sie sehen?« »Sie will eigentlich niemand sehen, aber dich hat sie ins Herz geschlossen, als du das erstemal hier warst, komm!« Meta errötete, auch sie hatte einen unvergeßlichen Eindruck von der alten Dame hinweggenommen. Röschen öffnete leise die Tür. Da saß Großmutter in der tiefen Fensternische wie ehedem, nur daß heute das weiße Band auf der Haube mit einem schwarzen vertauscht war, und die sonst so fröhlich blickenden klaren Augen trübe und matt waren. Auf dem Schoß hatte sie die kleine Zweijährige, die ihr blondes Lockenköpfchen an Großmutters Brust gelehnt hatte, als sollte hier künftig ihre Zuflucht sein. Die größeren Mädchen waren beschäftigt, einen Kranz zu winden, das kleine Lieschen flüsterte Röschen zu: »Wir müssen ganz still sein, Mutti schläft.« Meta traten die Tränen in die Augen, die Stube der Großmutter kam ihr mehr denn je wie ein Heiligtum vor. Jetzt begannen die schönen Glocken der Nikolaikirche zu läuten. Da faltete Großmutter die Hände, Tränen entquollen ihren Augen; sie sagte mit tiefbewegter Stimme: »Das sind meine Glocken, aber diesmal zerreißen sie mir das Herz. Ich habe viel Schweres in meinem Leben erfahren, aber dies ist fast zu schwer.« »Großmutter, zieht Mutti nun ins Himmelreich ein?« fragte Eva. »Ja, mein liebes Kind.« Sie legte die zitternde Hand auf das Haupt der kleinen Eva. »Halte dich fromm und habe den Herrn Jesum lieb, dann kommst du auch ins Himmelreich und siehst dein Mütterchen wieder.« »Ich möchte jetzt gleich hinein«, sagte das Kind bittend mit gefalteten Händchen. »Du mußt warten, bis dein Heiland dich ruft.«

»Sieh nur, Großmutter, den schönen Kranz«, sagte Miezi, während Emmi und Nanni ihn in die Höhe hielten. »Muß Mütterchen sich nicht über den Kranz freuen? Sie hatte die Astern so gern.« Alles wurde im Flüsterton gesprochen. Röschen hatte den Kopf ans Fensterkreuz gelehnt und weinte leise. Meta trat zu ihr und umschlang sie. »Kann ich etwas für dich tun?« flüsterte sie. »Ja so, ich vergesse immer das Notwendige, willst du mit hinunterkommen, es gibt noch viel Arbeit.« Meta half wo sie konnte, sie stellte sich überall geschickt an. Später kamen die beiden Damen, mit denen Meta gefahren war. Es waren Kusinen des Oberpfarrers, die, da sie eine verheiratete Schwester in der Stadt hatten, sich dort einquartiert hatten, um hier keine Störung zu machen.

Die Beerdigung war vorüber. Es war Abend. Die Kleinen schliefen sanft und friedlich in ihren Bettchen, sie überwanden den Schmerz um die heimgegangene Mutter leichter als die älteren Kinder, die mit Großmutter und dem Vater im Wohnzimmer versammelt waren. Der Vater hatte lange still und in sich versunken dagesessen; plötzlich richtete er sich auf und sagte traurig: »Großmutter, was fangen wir ohne unsere Mutter an?«

»Wir müssen das Kreuz, das Gott uns auferlegt hat, still und geduldig tragen, jeder im Hause muß seine Pflichten doppelt treu erfüllen. Ich, als Großmutter, will vorangehen. Was meine alten Kräfte noch leisten können, will ich tun. Ich führe die Oberaufsicht und Fräulein Linchen –«

»Linchen verläßt uns nächste Woche.« »Ja so, daran dachte ich nicht. Nun, da wird unser Röschen an ihre Stelle treten müssen, eine kräftige Stütze muß ich haben.«

»Aber Großmutter, mein Seminar.« »Wir müssen den Beruf als den uns von Gott gewiesenen ansehen, der uns am nächsten liegt. Deine ersten Pflichten, mein liebes Kind, werden sein, deiner alten Großmutter zu helfen, die kleinen Geschwister zu erziehen und dem Hauswesen vorzustehen. Emmi, Nanni und Miezi, ihr müßt auch tüchtig mit zugreifen, dann werden wir es wohl mit Gottes Hilfe fertigbringen.«

»Welche Gnade von Gott, daß wir dich noch haben, Großmutter«, sagte der Oberpfarrer und nahm die Brille ab, um die hervorquellenden Tränen zu trocknen. »Ich werde mich mehr um die Erziehung der Kinder kümmern –«

»Ja, wenn du das wolltest«, fiel ihm die Großmutter ins Wort. »Gewiß, es muß sein, die liebe, selige Dorothea hat mir das alles abgenommen. Es wird nun anders werden. Besonders um den Philipp werde ich mich speziell kümmern.« – Bei dieser Äußerung rückte Philipp unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Die Großmutter seufzte innerlich. Es war und blieb der wunde Fleck, daß der Schwiegersohn zu sehr ans Studierzimmer gefesselt war. Er hatte ja freilich eine große Gemeinde, und es gab viel zu tun, aber ein wenig mehr, glaubte die Großmutter, müßte er sich seiner Familie widmen können.

Man saß noch lange beisammen und sprach von der treuen Heimgegangenen, wie so schnell die böse Krankheit über sie gekommen und sie dahingerafft, eh' die Ihrigen den Gedanken an Trennung und Scheiden zu fassen vermochten.

Am späten Abend waren die beiden Freundinnen allein in Röschens Stube. »Wie leid tust du mir, Röschen, daß du deine Studien aufgeben mußt!« »Ja, schwer wird mir's, ich mochte gerne lernen, aber es ist meine Pflicht, damit abzubrechen. Weißt du nicht, daß Fräulein Hochberg sagte, man müsse immer die nächstliegenden Pflichten als seinen Beruf ansehen? Ähnlich sagte auch Großmutter heute. Ich kann meine alte Großmutter jetzt nicht im Stich lassen, ich werde ihr eine tüchtige, treue Stütze werden mit Gottes Hilfe. Das schwerste ist ja doch, daß wir unsere liebe Mutter verloren haben.«

Am andern Morgen widmete sich Frau Elsner, die sich nicht selbstsüchtig ihrem Schmerz überließ, Röschens Freundin, für die sie ein warmes Interesse an den Tag legte. Diese sagte ihr im Vertrauen, was sie bedrückte, und erbat sich ihren Rat für die Zukunft. Frau Elsner schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Es wäre besser gewesen, Sie hätten noch mehr zu Ihrer Ausbildung tun können; was man sein will, muß man ganz sein.« »Es könnte ja noch geschehen«, erwiderte Meta, »aber mein Großvater würde schwerlich die Mittel dazu hergeben.« Die Großmutter sah Meta traurig an und schwieg. In ihrem Herzen aber dachte sie: »Das weiß niemand besser als ich.« Sie hatte das Unrecht, das ihr geschehen war, mit Gottes Hilfe überwunden, aber nun stieg eine Bitterkeit in ihrem Herzen auf darüber, daß der alte Mann sich an seinen Enkelkindern versündigte, da er nicht genügend für ihre Ausbildung sorgte. Endlich sagte sie: »Mein liebes Kind, gehen Sie getrost nach Rinow zurück und leisten Sie, was Sie leisten können in der kurzen Frist, die ihnen dort noch gegeben ist. Seien Sie treu im Kleinen, bitten Sie Gott täglich um seinen Beistand; Kraft und Gedeihen muß erbeten sein, das ist die Hauptsache, und dann gehen Sie ruhig und getrost an Ihre Arbeit, die der Herr segnen wird. Fürchten Sie sich nicht vor der gnädigen Frau, lassen Sie sich nicht einschüchtern, wenn Sie still den Weg der Pflicht gehen, wird alles wohl gelingen.« Meta fühlte sich erhoben und gestärkt durch den Zuspruch der Großmutter; sie wollte mit neuem Mut an die Ausübung ihrer Pflichten gehen. Die letzten Worte der alten Dame waren: »Befehlen Sie alles Gott, dem Herrn, mein liebes Kind, ich werde Ihrer täglich fürbittend gedenken, darauf verlassen Sie sich.«

So schied Meta zum zweitenmal aus dem ihr liebgewordenen Pfarrhause. Diesmal nahm sie traurige Eindrücke mit hinweg, und doch hatte sie hier die Macht des Glaubens erfahren dürfen, des Glaubens, der die Menschen in der Trauer nicht zu Boden sinken läßt, sondern ihnen hilft, daß sie sich aufrichten an den Verheißungen Gottes und daraus Trost und Frieden schöpfen in den dunklen Tagen der Trübsal.


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