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9. Kapitel. Der Spaziergang

»So – nun sind Ferien, jetzt will ich aber auch den Sommer genießen und die Freiheit!« Mit einem großen Satz sprang Röschen die Stufen, die von der Veranda in den Garten führten, hinunter, und drehte sich noch ein paarmal auf dem Absatz herum.

»Also haben Sie das Studieren doch satt?« sagte eine Stimme befriedigt hinter ihr. »Verzeihung, Herr Bruger, ich sah Sie gar nicht. Nein, überdrüssig bin ich des Lernens nicht, aber eine Pause tut ganz gut, besonders wenn die Sonne so schön scheint und die Vöglein singen, da treibt es mich hinaus ins Freie, in den Wald.« – »Dort ist es auch entschieden besser, als in der Schulstube.« »Haben Sie sich immer noch nicht ausgesöhnt mit meinem zukünftigen Beruf?«

»Ich würde Ihnen geraten haben, sich im Haushalt nützlich zu machen, ich kann mich nicht dafür begeistern, daß eine junge Dame sich der Gelehrsamkeit widmet und nicht ahnt, wie man eine Suppe kocht oder einen Braten macht.« »Zu ihrer Beruhigung kann ich Ihnen sagen, Herr Vikar, daß ich in den Ferien sehr oft die Küche versorgen werde, Sie werden nächstens einen ausgezeichneten Braten essen, der von meiner Hand bereitet ist.« Herr Bruger lächelte ungläubig. »Das lernt sich nicht so bald, dazu gehört Lust und Geschick.« »Sprechen Sie mir beides ab?« »Ersteres entschieden«, war die Antwort, »doch verzeihen Sie, es geht mich ja eigentlich nichts an, ich vergesse immer, daß das älteste Töchterchen des Herrn Oberpfarrers jetzt eine erwachsene Dame ist.« »Bitte das nicht zu vergessen«, versetzte Röschen halb belustigt, halb ärgerlich. Etwas mußte sie wohl Herrn Bruger zugute halten, da er schon ins Haus gekommen war, als sie noch ein Schulmädchen war, und – dachte sie, er ist ja schon so alt, fast dreißig Jahre, da darf er wohl ein Wörtchen mitsprechen.

Jetzt kamen Emmi, Nanni und Miezi aus der Schule. »Ferien!« sagten sie und warfen ihre Bücher auf den Tisch. Dann sprangen sie in den Garten, wo sie Röschen fanden. Herr Bruger war eben verschwunden. »So, Röschen, nun können wir Ausflüge und Spaziergänge machen. Wir wollen nur gleich heute den Anfang machen.« »Ja natürlich«, rief Miezi und warf einen Ball in die Lüfte, den sie immer in der Tasche trug. »Aber einen tüchtigen Korb mit Butterbroten müssen wir mitnehmen«, riet die allezeit eßlustige Nanni, »auch etwas zu trinken!« »Und du darfst alles tragen«, fügte Emmi hinzu.

»Hier wird wohl die Rechnung ohne den Wirt gemacht«, sagte Großmutter, die auf der Veranda stand und das Gespräch mit angehört hatte. »Wißt ihr nicht, daß heute Wäsche getrocknet wird und daß man stark auf eure Hilfe rechnet?« »Laß sie nur laufen, Großmutter«, rief die Mutter aus der Stube, »heute ist der erste Ferientag, da sind sie immer unbändig wie die jungen Füllen und zur Arbeit ungeschickt. Wir werden auch wohl ohne sie fertig, zudem ist das Wetter köstlich zu einem Waldspaziergang, wer weiß, wie es morgen ist.« »Du liebste Mutter«, riefen die Mädchen und stürmten die Veranda hinauf zur Mutter hin. Sie umschlangen und küßten sie, auch Großmutter bekam ihr Teil. Dann aber taten sie, was ihres Amtes war, deckten den Tisch und plauderten dabei unaufhörlich.

»Ihr könntet uns heute die drei Kleinen abnehmen«, bemerkte die Großmutter bei Tisch, »wir haben alle reichlich zu tun, und ihr seid groß genug, um die Kinder zu hüten.« »Natürlich«, rief Röschen, »für Trudi sorge ich gänzlich, die drei andern Schwestern können Eva und Lieschen beaufsichtigen.« »Dir, als der Ältesten, übertragen wir die Oberaufsicht über alle«, sagte Frau Oberpfarrer. Was machte der Herr Vikar wieder für ein ungläubiges Gesicht, als traute er Röschen nicht zu, ihre kleinen Geschwister ordentlich zu beaufsichtigen. »Und du, Philipp, kommst du mit?« fragte Röschen. »Mit sieben Mädchen gehe ich nicht«, war dessen Antwort, »meine Schule wird auch erst morgen geschlossen.« »Und er hat noch tüchtig zu lernen«, bekräftigte Herr Bruger. »Armer Philipp!« seufzte Röschen. »Warum arm?« fragte der Vikar. »Weil er sieben Schwestern hat«, versetzte Röschen schnell.

Die Kleinen waren glückselig, daß sie mit den großen Schwestern spazierengehen durften. Für Trudchen wurde der kleine Stuhlwagen mitgenommen, und nun wanderte die kleine Gesellschaft, von Röschen angeleitet, hinaus ins Freie. Emmi, Nanni und Miezi waren übermütig in der Freiheit; sie scherzten und lachten und neckten sich, die Kleinen trippelten fröhlich um sie her; Röschen schob das leere Wägelein und summte ein Lied vor sich hin. Bald waren sie im kühlen, schattigen Holz, es wurde ein Ruheplätzchen ausersehen in der Nähe eines kleinen Gewässers, das tief verborgen im Walde, klar und durchsichtig schimmerte. Die hohen Buchen mit den silbergrauen Stämmen spiegelten sich darin. Dies war immer Röschens Lieblingsplatz gewesen; hier träumte es sich so schön unter den grünen Baumkronen angesichts des klaren Wassers.

»Nun wollen wir unsere Eßwaren auspacken«, begann Nanni, »hier im Walde schmeckt es immer so schön.« Röschen setzte sich auf das grüne Moos, die kleinen Geschwister um sie herum; sie verteilte die Butterbrote und ließ jede der Schwestern aus dem kleinen, mitgebrachten Gläschen von dem guten Himbeersaft kosten, der mit Wasser vermischt, ein erquickliches Getränk bot. Dann schlug Röschen vor, einige Lieder zu singen; auf Emmis Einwurf, die Kleinen wüßten noch keine Lieder, hieß es: »Sie singen so gut mit, wie sie können, es klingt so schön, wenn Gesang durch den Wald erschallt.« Die Schwesterchen gingen bereitwillig darauf ein, sie sperrten ihre Mäulchen auf und taten ihr Bestes. Doch bald bekamen sie es satt. Eva bemerkte schöne Blumen und fing an, ihre Händchen damit zu füllen. Emmi behielt sie im Auge, wie auch Lieschen; Trudi aber, die in Röschens Nähe saß, erhob sich, ohne daß es jemand merkte, und watschelte auf das schöne, klare Wasser zu. »Da – große Bäume – o«, sagte sie und blieb staunend stehen. Nun erblickte sie hart am Rande des Wassers zwei große, rote Blumen und mit den Worten: »Schöne Blumen pflücken – Großmama«, wankte sie darauf zu, beugte den kleinen kurzen Körper vornüber, verlor das Gleichgewicht und mit einem lauten »Platsch« fiel sie vornüber ins Wasser. Bei dem Geräusch fuhren alle Schwestern auf und mit dem Schrei: »Wo ist Trudchen?« stürzte Röschen an die Stelle, wo das Kind hineingefallen war. Ein kleiner Arm war sichtbar. Röschen sprang hinein, ergriff das Kind und reichte es der erschrockenen Emmi, während Nanni und Miezi der großen Schwester wieder aufs Trockene halfen. Sie waren alle wie gelähmt, erst als Trudi mit kräftiger Stimme zu schreien anfing, riefen sie: »O sie lebt, sie lebt, sie ist nicht ertrunken!« Aber was nun machen! Das Kind triefte, von den blonden Härchen tropfte das Wasser, die Kleider, Schuhe und Strümpfe waren zum Auswringen, dazu fern vom Hause, es war schrecklich!

»Wir setzen sie in den Wagen und fahren so schnell wie möglich zur Stadt, kehren im ersten, besten Hause ein und bitten dort um trockene Kleider«, entschied Röschen, »aber schnell, Nanni, gib mir meinen Regenmantel; wie gut, daß ich ihn mitnahm! Da hinein wickeln wir Trudi, daß sie sich nicht erkältet.« Die Kleine, die schon etwas fröstelte, ließ alles mit sich geschehen, die andern beiden sahen weinerlich und erschrocken aus und redeten auch von nach Hause fahren.

Es ging schneller aus dem Wald heraus, als man hineingekommen war; in eiligen Schritten suchte man die Stadt zu erreichen. Röschen jagte mit dem Wagen voran, Emmi, Nanni und Miezi zogen die beiden kleinen Schwestern hinter sich her, die kaum den langen Schritten der Größeren folgen konnten mit ihren kleinen, ermüdeten Füßchen.

»Wir gehen dort in das große Haus, das erste von hier aus«, rief Röschen den Schwestern zu, »dort muß uns Hilfe werden.« Als sie näherkamen, sahen sie, daß das Haus in einem großen Garten lag, daß man durch ein Tor mußte, bevor man in denselben gelangte. Es war eine Klingel am Tor, aber Röschens Versuch, erst einmal zu klinken, gelang. Das Tor war nicht verschlossen, sondern ließ sich leicht öffnen. So zog die Karawane hier ein, Röschen mit dem nassen Schwesterchen im Wagen voran, die andern fünf hinterher. Vor dem Hause war ein großer, durch Sand geebneter Spielplatz, hier gab es kleine Kinder in Hülle und Fülle und zwei Diakonissinnen dabei, auch etliche junge Mädchen, die mit den Kindern allerlei hübsche Spiele machten. War dies nun ein unerwarteter Anblick für die Kinder, oder fürchteten sie sich vor der schwarzen Tracht der Schwestern, oder waren sie durch das schnelle Laufen erhitzt und überreizt, kurz, sie brachen alle drei in ein fürchterliches Geschrei aus; alle Versuche der größeren Geschwister, sie zu beruhigen, scheiterten. Die Diakonissinnen sahen sich erschrocken um, ihre kleinen Pflegebefohlenen aber sperrten Mund und Augen auf ob des ungewohnten Anblicks.

Eine der Schwestern kam sogleich auf Röschen zu, die in freundlichen, demütigen Worten ihr Mißgeschick erzählte und bat, ihr Hilfe angedeihen zu lassen. Mit den Worten: »Natürlich, das ist ja Ehrenpflicht«, nahm sie das zitternde Kind und trug es ins Haus. Als sie an der offenen Küche vorbeiging, rief sie einem Mädchen zu, sogleich eine Tasse heißer Milch in ihr Zimmer zu bringen. Röschen folgte ihr. Sie entkleideten das Kind, trockneten es; Schwester Emilie hüllte sie zunächst in Sachen, die ihr gehörten, und legte sie in ihr eigenes Bett. »Der kleine See im Walde ist ziemlich tief, das Kind wäre unrettbar verloren gewesen, wenn Sie es nicht gleich bemerkt hätten«, sagte sie zu Röschen. »Aber Sie selbst sehen auch so blaß aus, liebes Fräulein, der Schreck hat Ihnen gewiß geschadet.« – »Ja, das wohl – aber – ich habe auch ganz nasse Füße und der Kleiderrock – ich sprang gleich ins Wasser, um Trudchen zu retten.« »Da müssen wir sofort für trockene Füße sorgen.« Schwester Emilie holte Strümpfe und Schuhe und bot auch Röschen einen Rock an, da sie unmöglich mit den nassen Kleidern nach Hause konnte. Der Rock war zu kurz. »Warten Sie«, sagte Schwester Emilie verzagt, »wir haben ja alle unsere jungen Mädchen hier, da suchen wir eine aus, die mit Ihnen von gleicher Länge ist, sie freuen sich ja, wenn sie aushelfen können.« Sie verschwand und kam nach einiger Zeit mit drei jungen Mädchen wieder, die alle neugierige, verwunderte Gesichter machten. »Ich glaube, Amalie ist ebensogroß wie Sie, wollen Sie sich einmal nebeneinander stellen. Ja, das wird gehen. Amalie, Sie borgen dem jungen Mädchen gewiß gern von Ihren Sachen, es ist ihr ein Unglück zugestoßen.« »Wir wissen's schon«, riefen sie wie aus einem Munde. »Emmi, Nanni und Miezi haben uns alles erzählt.« »Weinen die kleinen Schwestern noch?« fragte Röschen ängstlich. »Keine Spur. Sie spielen mit den Kindern Ringelreigen und sind höchst vergnügt.« »Es wäre aber wohl gut, sie gingen nach Hause und meldeten den Unfall«, meinte Schwester Emilie. »Die Kleine schläft jetzt, wenn sie erwacht, muß sie trockene Sachen haben, damit sie heimgebracht werden kann. Frau Oberin hat gleich eine von den Probeschwestern ins Pfarrhaus geschickt, als sie hörte daß es die Kinder vom Oberpfarrer an der Nikolaikirche seien.« »Wie gut«, sagte Röschen, »daß wir gerade hier hineingeraten sind, ich dachte mir gleich, daß wir in diesem Hause Hilfe finden würden. Ist dies die Diakonissen-Anstalt?« »Nein, dies ist das Kleinkinderlehrerinnen-Seminar, es gehört aber zur Anstalt, deren Gebäude sich weithin erstrecken.«

Röschen freundete sich schnell an mit den jungen Mädchen, die sie mit sich genommen hatten, damit sie ihre Kleider wechsle. Sie erzählten, daß sie hier seien, um sich zu Kleinkinderlehrerinnen auszubilden. Sie berichteten von den interessanten Stunden, in denen sie lernten, mit kleinen Kindern umzugehen, mit ihnen zu spielen, sie zu erziehen und in rechter Weise zu beaufsichtigen. Hier seufzte Röschen, sie fühlte, wieviel auch sie noch zu lernen habe. Die jungen Mädchen zeigten ihr das gemeinsame Wohn- und Arbeitszimmer und den Schlafsaal, erzählten in launiger Weise von ihren praktischen Arbeiten und ihren Vergnügungen. Doch Röschen mußte zu Trudchen zurück. Diese war eben erwacht, hatte wieder rosige Bäckchen und lächelte, als sie Röschen sah. »Mein liebes, liebes Trudchen«, rief diese, »frierst du nun gar nicht mehr, bist du ganz trocken?« »Nicht wieder großes Wasser gehen, keine Blumen pflücken, nein, nicht.« Dabei schüttelte sie ihr Lockenköpfchen und rief: »Aufstehen!« Gerade jetzt trat Schwester Emilie wieder ein mit der Nachricht, es sei eine Droschke gekommen, es sei auch ein Fräulein da, von den Eltern geschickt, die Kinder sollten schnell heimkommen. »Gewiß Fräulein Linchen!« rief Röschen. Da kam sie schon mit einem ganzen Paket Sachen unter dem Arm. »Röschen, was haben Sie nur wieder gemacht, Sie sind doch noch immer so unüberlegt wie früher.« Röschen nahm den Tadel ruhig hin, sie kam sich selbst so unendlich unachtsam und unzuverlässig vor. Fräulein Linchen zog ihren Liebling unter vielen Liebkosungen an, die nassen Sachen wurden in ein großes Paket gesteckt, und nachdem Röschen den Diakonissinnen gedankt, die sich ihrer so liebreich angenommen, fuhr sie mit ihren sechs Schwestern davon.

Emmi, Nanni und Miezi waren außerordentlich angeregt und munter. »Das war eine wunderschöne Partie«, rief Miezi. »Besonders das letzte war entzückend«, fügte Emmi hinzu. »Und nun noch die Wagenfahrt durch die ganze Stadt, das wird uns nicht alle Tage geboten.« »Schämt euch«, sagte Röschen, »ich finde, wir haben alle Ursache, still zu sein, wenn wir denken, daß Trudchen« – sie mochte den Satz nicht vollenden, drückte das Kind, das sie auf dem Schoß hatte, innig an sich und sah still vor sich nieder, während die Schwestern Fräulein Linchen viel zu erzählen hatten.

Nun hielt der Wagen vor der Tür. Alle standen draußen, die Eltern und Großmutter mit ängstlichen, erwartungsvollen Mienen, Herr Bruger und Philipp mit halb belustigten, halb neugierigen Gesichtern.

»Nun, dies ist mir aber eine schöne Geschichte«, sagte der Vater. »Wo ist mein Trudchen?« rief die Mutter, die ihren Liebling in die Arme nahm, ihn herzte und küßte. Emmi, Nanni und Miezi aber hingen sich teils an Vaters, teils an Großmutters Arm und riefen erregt: »Wir wollen alle drei Kleinkinderlehrerinnen werden, wir haben es schon in der Anstalt gesagt. Vater und Mutter, es ist etwas sehr Hübsches. O Großmutter, wie niedlich sind die Kleinen, wie spielt es sich allerliebst mit ihnen.« »Aber die jungen Mädchen müssen viel lernen.« »Nicht wahr? Wir dürfen doch.«

»Ruhig, Kinder«, ließ sich der Vater vernehmen, »wir wollen später mehr davon sprechen, erst lernt nur achtgeben auf eure kleinen Geschwister, die euch anvertraut sind, das ist, meine ich, die nächstliegende Pflicht.« Röschen fühlte den Stich; sie fühlte, wie beim Heraussteigen aus dem Wagen Herrn Brugers Augen auf ihr ruhten. Natürlich sah er die geliehenen Kleider, und wenn alles erst zutage kam, was würde er von ihr denken!

Die Eltern ließen sich nun den Vorgang von den Kindern erzählen und konnten nicht umhin, die Älteste zu tadeln, daß sie ihre Augen nicht mehr auf die Kleine gerichtet hatte. »Ein anvertrautes Gut muß man sorgsam hüten, und dies war unser bestes, was wir dir zur Obhut übergaben. Gott hat das Schwere gnädig von uns abgewandt, aber denke einmal, wenn die kleine Schwester nun nicht mehr unter uns weilte, durch deine Schuld.« Röschen, ganz zerknirscht durch der Mutter Worte, weinte still vor sich hin, während Emmi, Nanni und Miezi die Schwester verteidigten, indem sie beschrieben, mit welchem Mut Röschen selbst ins Wasser gesprungen sei, und wie es nur ihrer Geistesgegenwart zu danken sei, daß Trudi gerettet worden.

Die Kleinen waren zu Bett gebracht und nach den sanften, regelmäßigen Atemzügen der Jüngsten zu urteilen, schien das unfreiwillige Bad keine bösen Folgen hinterlassen zu haben. Erst als Röschen das Kind immer wieder behorcht und betrachtet hatte, ging sie beruhigt in die Veranda, wo heute auch der Vater nach Tisch behaglich seine Pfeife rauchte, umgeben von seinen drei größeren Töchtern, die ihm eifrig erzählten. Es schien, als ob das Kleinkinderlehrerinnenseminar mit allem, was sie dort gesehen und erlebt hatten, einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hatte.

»Aber Vater«, fragte Miezi, »wo kommen nur die vielen kleinen Wesen alle her, welche die Schwestern und die jungen Mädchen hüten mußten?« »Es sind die Kinder armer Leute, die den Tag über auf Arbeit gehen und ihre Kleinen nicht beaufsichtigen können. Sie stellen sie unter die Obhut der Schwestern, wo sie in jeder Beziehung wohl beraten sind. Sie werden nicht nur leiblich gepflegt, auch ihre Seelen werden behütet! Sie lernen artig sein, sie werden früh zum Heiland geführt. Statt daß sie sich sonst auf den Gassen herumtreiben und häßliche Worte und Manieren lernen, singen sie hier schöne Lieder, hören nur Gutes und vergnügen sich mit hübschen Spielen. Es ist eine segensreiche Einrichtung, die auf das Volksleben von bedeutendem Einfluß ist.«

»Es waren aber so sehr viele junge Mädchen in der Anstalt, wo bleiben sie alle?« »Sie werden, wenn sie den Lehrkursus durchgemacht haben, an Kleinkinderschulen, die in den verschiedenen Städten gegründet sind, angestellt. Der Beruf einer Kleinkinderlehrerin ist ein sehr schöner; ich möchte wohl, daß eine meine Töchter sich dazu eignete.« »Wir alle drei«, riefen sie im Chor. Der Vater lächelte. »Müßt ihr denn alle drei immer dasselbe tun? Wir wollen vorderhand nur daran denken, daß eine zu diesem Beruf ausgebildet wird. Es gibt noch viele Berufsarten, in denen ihr Gott und dem Nächsten dienen könnt.«

»Nun, wenn wir nicht alle drei Kleinkinderlehrerinnen werden können, dann werde ich ›Großmütterchen‹, das ist auch etwas Schönes«, sagte Miezi resigniert. Alle lachten, die Mutter aber fügte hinzu: »Mein liebes Kind, suche deiner Großmutter in allen Dingen ähnlich zu werden, dann wirst du, wie sie, Gottes und der Menschen Wohlgefallen haben.«

Großmütterchen hatte das letzte gar nicht gehört. Sie war wieder einmal, wie jetzt oft, mit ihren Gedanken in Beckedorf. Sie weilten bei einem alten Mann, der sich und den Seinen durch seinen Geiz alle Lebensfreuden verbitterte und der sich dadurch selbst so unglücklich machte. Oh, wenn sie ihm hätte sagen können, wie glücklich und gesegnet ihr Leben gewesen ohne den Mammon, der seine Seele gefangen hielt, ihn so verknöcherte, daß ihm alles Gefühl abstarb, daß ihm die Liebe der Seinigen verloren ging und es einsam und öde um ihn her ward.

»Großmütterchen schläft«, rief eins der Kinder. »Nein, sie schläft nicht«, war Großmutters Antwort, »sie hat sich nur ein wenig in alte Zeiten versenkt.«


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