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15.

Weiß und glatt wie ein Band schlängelte sich die Straße zwischen samtgrünen Wiesen und dunklen Nadelwäldern hin gegen Hinterberg.

Von blauem Dunst umwoben türmten sich die Berge immer höher empor, schoben sich immer enger aneinander, bis die sonnenumflossenen Kämme und Felswände der Almen sichtbar wurden, zwischen denen sich wie ein dunkles Meer der große Breitlinger Wald ausdehnte.

Bastl hatte an der letzten Station einen Wagen gemietet, der sie nun langsam die ansteigende Straße durch das einsame Bergtal dahintrug.

Die Kinder, die bis dahin unaufhörlich geplaudert und Allotria getrieben hatten, waren nun auch verstummt und blickten mit großen Augen um sich in der fremden Gegend, wo die Berge so hoch und der Horizont so eng geworden waren.

Toni, die mit beiden auf dem Rücksitz saß, rechts und links je eins mit ihren Armen umschlungen hielt, sah verträumt in die Bläue dieses leuchtenden Sommertages. Ihr wurde immer leichter, je weiter sie vorwärts kamen. Als bleibe alles Schwere, Düstere hinter ihnen zurück.

Auch Bastl, der ihr gegenübersaß, schwieg. Er hatte für den Augenblick alles andere vergessen über dem lieblichen Bild, das Toni mit den Kindern ihm bot.

Plötzlich fuhren beide empor und blickten mit erwachenden Augen um sich.

»Schon die ersten Häuser von Hinterberg? Das ist aber schnell gegangen!« sagte Toni.

»Zum goldenen Löwen!« rief sie dem Kutscher zu und setzte gegen Bastl gewendet hinzu: »Bei der Wirtin, die ich kenne, nehmen wir jetzt einen kleinen Imbiß und fragen nach dem Lufner. Nachher steigen wir zur Antonius-Kapelle hinauf.«

Die Wirtin erkannte Toni sofort wieder.

»Je, bist du aber sauber geworden!« staunte sie nach der ersten Begrüßung. »Alleweil jünger wirst! Und das ist wohl dein Zweiter, gelt? Du, da hast dir aber einen Stattlichen ausgesucht ...«

»Ah, nein, Löwenwirtin,« unterbrach Toni den Redestrom, »der ist ... ich denke nicht mehr ans Heiraten ... wir sind nur verschwägert. Der Herr Schwaigreiter hat ein Geschäft hier. Und weil's so schön war, bin ich halt mit den Kindern mitgefahren ...«

»So, das sind wohl dem Herrn Schwaigreiter seine Kinder?«

»Nein. Es sind meines Bruders Kinder.«

»Oje – die armen Hascherl vom …« Die Löwenwirtin brach ab. Dann zog sie Toni in die Stube und begann sich wortreich nach der Patin Mandlik in Oberndorf zu erkundigen, ließ einen Tisch im Extrastübchen decken und fragte, was man zu essen und zu trinken wünsche. Dabei glitten ihre lebhaften Augen halb mitleidig über die Kinder, bald neugierig forschend über Bastl hin, der sich schweigsam verhielt.

Endlich, nach einer halben Stunde, war man soweit, daß Toni sich nach Egid Lufner erkundigen konnte.

Aber die Löwenwirtin wußte nichts von ihm und hatte den Namen nie gehört.

»Weißt, mit den Holzleuten komme ich halt nie in Berührung«, erklärte sie ein wenig protzig. »Denen ist's im ›Löwen‹ zu vornehm, und ich bin auch nicht eingerichtet auf solche Gäste. Wir haben nur die besseren Leute!«

»Wo könnte man ihn denn nachher erfragen?«

»Ja, das weiß ich wirklich nicht. Nach Hinterberg kommen sie selten. Die gehen meist hinüber ins Breitlingtal zur Buschmühle. Was wollt ihr denn von diesem Lufner? Werdet doch nicht wegen dem Holzknecht eigens hergefahren sein?« setzte die Wirtin neugierig hinzu.

Toni sah Bastl an. Der nickte ruhig: »Ja, wegen ihm bin ich da. Ich will im Herbst daheim bei mir abholzen lassen, und wir haben Not an Holzleuten. Da will ich mit ihm reden, ob er mir nicht so ein halbes Dutzend Holzer zusammenbringen könnte bis dahin.«

»Das hast fein gemacht, Bastl«, sagte Toni später, als sie sich auf den Weg zur Antonius-Kapelle gemacht hatten. »Ich habe schier vor Verlegenheit nicht gewußt, was ich ihr antworten sollte!«

»Ich lüge sonst nicht gern. Aber bei der Neugierde dieses Frauenzimmers wird mir's unser Herrgott wohl verzeihen. Hat die ein Mundwerk!«

»Ja, reden kann sie, die Löwenwirtin! Und weißt, es kommen halt so selten Leute von auswärts herein nach Hinterberg! Da packt sie halt die Gelegenheit beim Schopf. Aber, was machen wir denn jetzt wegen dem Lufner? Sie sagt, zur Buschmühle wär's von hier aus noch drei Stunden zu fahren. Das halten unsere Rosse doch nimmer aus!«

»Nein. Wir müssen über Nacht bleiben und erst morgen fahren. Aber da sind sie wahrscheinlich schon wieder bei der Arbeit. Wenn man nur wüßte, wo sie im Breitlingerwald ihren Arbeitsplatz haben? Vielleicht wäre es dahin nicht zu weit für einen guten Fußgänger. Danach hätten wir fragen sollen.«

Noch darüber sprechend, waren sie, durch den Wald aufwärts schreitend, auf eine Lichtung gelangt.

»Da ist die Kapelle«, sagte Toni, auf ein kleines Kirchlein weisend, das, von Tannen überschattet, am oberen Lichtungsrand stand.

»Und schau – ein Beter ist auch schon da!«

Auf der Holzbank vor der durch eine starke eiserne Gittertür abgeschlossenen Kapelle kniete ein Mensch. Ein vollgepackter Rucksack und ein in blaues Leinen geschlagenes Bündel lagen neben ihm im Gras, darauf der Filzhut, den eine Spielbahnfeder zierte.

»Vielleicht kann der uns Auskunft geben, wo die Holzknechte arbeiten«, flüsterte Toni, »warten wir, bis er aufsteht«.

Sie blieben am Rande der Lichtung stehen, während die Kinder nach Erdbeeren suchten.

»Du mein! Da sind aber viele!« rief Gretchen laut. »Komm her, da schau nur! Da schau nur!« Der kniende Beter war beim unerwarteten Laut einer menschlichen Stimme herumgefahren und stand nun hastig auf. Gleichzeitig packte Toni Bastls Arm.

»Du, das ist ja – meiner Seele, der Lufner ist's!«

»Kennst ihn denn? Irrst dich nicht?«

»Aber gewiß nicht! Er ist doch ein Kalkreuter Kind, wie ich, und hat mit mir auf der Schulbank gesessen! Und den hat uns jetzt der heilige Antonius dahergeschickt! Aber so komm doch! Komm doch!«

Sie zog Bastl erregt vorwärts auf Lufner zu, der unschlüssig stehengeblieben war und nun mit staunendem Blick Toni erkannte.

»Die Frau Maibach! Ja, wie kommen Sie denn nach Hinterberg?«

Hastig erklärte sie es ihm und machte ihn mit Bastl bekannt.

Fünf Minuten später saßen sie eifrig redend auf einem umgestürzten Baumstamm hinter der Kapelle.

Lufner, der die letzten Monate bald da, bald dort als Holzknecht gearbeitet, sich aber mit der einsamen Abgeschlossenheit der Bergwälder immer weniger befreunden konnte, hatte dem Holzmeister gestern die Arbeit aufgesagt und stand nun im Begriff, wieder ins flachere Land hineinzuwandern, wo er sich als Knecht einen Dienst suchen wollte.

»Jetzt erzählen Sie uns einmal ganz genau, wie das in jener Nacht war, als Sie bei der Heimkehr aus dem Wirtshaus einen Mann aus dem Gartenpförtchen des Brintnerhofes treten sahen«, bat Bastl. »Sie wissen doch wohl schon, daß meine Schwester und ihr Mann sowie der Zahlmeister Fercher als der Tat verdächtig in Haft sind?«

»Ja. Alles habe ich in der Zeitung gelesen. Auch die Behauptungen vom Knotzen-Lipp. Wissen Sie, was ich glaube? Daß der's getan hat, allein mit dem Manne, den ich damals beobachtet habe! Sein Benehmen war zu verdächtig! Es war Nacht, und von ihm hat man eigentlich nichts gesehen als einen großen Hut und Wettermantel, der ihn bis über die Knie einhüllte! Nichts Bekanntes ist mir an ihm aufgefallen, das ist wahr, aber die Statur könnte schließlich auf fünfzig Leute in Kalkreut stimmen.«

»War er groß oder klein?«

»Groß und schlank.«

»Und Sie wissen bestimmt, daß er wirklich aus dem Garten kam?«

»Ganz bestimmt. Ich erblickte ihn ja in dem Augenblick, wo er die Gartentür leise hinter sich zumachte! Schau, schau, habe ich mir gedacht, da schleicht sich wohl grad ein Liebhaber davon! Bin doch neugierig, wer's ist. Inzwischen war er schon über die Feldstraße gesprungen, auf die ich zuhielt, und kam mir am Bachweg entgegen. Es war ein bißchen Mondlicht, darum konnte er mich leider gleich sehen. Ich war stehengeblieben, um ihn zu erwarten. Wie er das merkte, stutze er, und ehe ich mich versah, war er weg. Ich habe mir gleich gedacht, daß der Kerl hinab ins Buschwerk ist, um mir auszuweichen, und dann entweder mich im Graben umgehen oder hinaus auf die Wiesen will.«

»Sind Sie ihm denn nicht nach?«

»Erst wollte ich's. Denn daß der Mensch sich so versteckte, kam mir verdächtig vor. Ich kletterte auch die Böschung hinab. Aber da waren so dichtes Gestrüpp und so viele Dornen, daß ich's wieder aufgab. Ich habe mein besseres Gewand angehabt. So habe ich mir gedacht: Was geht's dich eigentlich an, wer's ist! Spät war's auch schon – Mitternacht vorüber –, und mein Weg zum Greinerhof führte nach der anderen Seite hin. Eine Weile hab' ich noch gewartet und gehorcht, dann bin ich fort.«

»Das war alles?«

»Ja. Wie sie am andern Tag vom Mord erzählt haben, bin ich noch einmal hin zu der Stelle. Aber der Regen, der gegen Morgen gefallen war, hat alle Spuren verwischt gehabt. Da und dort war ein dürrer Ast gebrochen, aber das kann auch schon früher einmal der Wind getan haben. Die Gendarmen haben auch nichts gefunden. So weiß man nicht einmal, ob er nachher gleich wieder auf den Weg herauf oder im Gebüsch weitergekrochen ist.«

»Aber die Stelle, wo er verschwunden ist, könnten Sie mir doch noch genau zeigen?«

»Das schon. Das heißt, wenn ich halt wieder einmal in die Gegend komme.«

»Sie suchen doch einen Dienstplatz. Wollen Sie nicht zu uns auf den Brintnerhof kommen?«

»Na, warum denn nicht? Wenn sonst alles stimmt …«.

»Sie sollen mit Kost und Lohn zufrieden sein!« sagte Bastl rasch, denn es lag ihm viel daran, Lufner nicht mehr aus den Augen zu verlieren. »Sie sollen es bei uns genauso haben wie früher beim Bürgermeister.«

»Dann schlage ich ein. Soll ich gleich mit Ihnen kommen?«

»Ja. Das wäre mir am liebsten.«

»Noch eine Frage«, mischte sich jetzt Toni ein. »Denken Sie gut nach, Lufner! Kann der Mensch, den sie gesehen haben, denn nicht der Knotzen-Lipp sein? Der wohnt ja ein Stück weiter oberhalb bei der Steinerschen und müßte den Bachweg benutzt haben …«

»Ausgeschlossen! Der Depp mit seinem Wasserkopf und dem verschrobenen Gestell ist mindestens um anderthalb Köpfe kleiner.«

»Und Konrad Fercher?«

»Ist viel breiter gebaut. Der Mann, den ich gesehen habe, hat eine geschmeidige, mehr schmal gebaute Gestalt gehabt. Mehr so was Vornehmes …«

»Wieso?«

»Das kann ich nicht so erklären. Ich hab's halt im Gefühl gehabt: Ein Bauer oder ein Arbeiter ist das nicht!«

»Schmal gebaut – etwas Vornehmes.« Bastl blickte unruhig vor sich hin. Er kannte einen, auf den diese Beschreibung gepaßt hätte. Neulich in der »Sonne« hatten sie am selben Tisch miteinander gesessen, und der Geschäftsleiter Foregger, an den sich Bastl in der letzten Zeit herangemacht, um womöglich etwas Neues über den alten Brintner zu erfahren, hatte sie nachher miteinander bekannt gemacht. Warum ihm das nun plötzlich einfiel? Der Baumeister March war's, aus der Wiener Neustadt. Und ein Zufall ergab nachher während des Gesprächs, daß der alte Brintner mit March in der letzten Zeit auffallend viel und in geheimnisvoller Weise verkehrt hatte.

Der Geschäftsleiter der »Sonne« schien besonders neugierig, welcherart dieser Verkehr war, und stellte allerlei versteckte Fragen darüber. Aber March verhielt sich merkwürdig ablehnend dabei, wurde plötzlich sehr still und ergriff dann den erstbesten Vorwand, um aufzubrechen. Es war Bastl aufgefallen, wie bleich damals des Baumeisters Gesicht gewesen, als er seinen Überrock anzog, und wie rasch, fast fluchtartig er verschwand.

Und noch etwas war ihm damals aufgefallen: Als der Geschäftsleiter seinen Namen nannte und March erzählte, daß Sebastian jetzt auf dem Brintnerhof die Wirtschaft führe, war es wie Erschrecken über des Baumeisters hageres Gesicht gezuckt.

»Auf dem Brintnerhof? So, so …« Dann, als der Geschäftsleiter mit einem Wort auf die Ereignisse anspielen wollte, eine hastig abwehrende Handbewegung, »nein, Herr Foregger, reden wir nicht von der traurigen Geschichte. Man bekommt ja ohnehin überall die Ohren voll davon. Der Alte war mein Freund – ich kann's nicht hören. Es greift mich zu sehr an.«

Dabei griff er mit zitternden Händen nach seiner Zigarrentasche, nahm eine Zigarre heraus, legte sie aber wieder auf den Tisch, ohne sie in Brand zu setzen.

Merkwürdig, daß all dies, was Bastl damals nur mit einiger Verwunderung erfüllt hatte, nun plötzlich mit unheimlicher Deutlichkeit vor ihm stand.

Er fuhr sich über die Stirn. Aber das ist ja Unsinn, dachte er, ich bin wohl närrisch geworden … Dann stand er auf und rief die Kinder.

»Ich denke, wir machen uns jetzt auf den Heimweg«, sagte er. »Wenn wir in einer halben Stunde fahren, können wir den Abendzug erreichen und heut noch daheim sein.«

*


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