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4.

Desto unruhiger ging es im »Hotel zur Sonne« zu. Als die Wäscherin Hucker morgens mit ihrer Schreckensnachricht kam, wäre Frau Kreibig beinahe in Ohnmacht gefallen vor Entsetzen.

Michael Brintner ermordet! Der gestern abend noch frisch und kerngesund mit ihr Zukunftspläne geschmiedet hatte, heute – tot?

Wirr strich ihr Blick über die Leute hin, die sich neugierig aufhorchend um die Hucker drängten.

Dann schrie sie plötzlich auf. »Das hat kein anderer getan als sein Sohn, der Andres! Nicht umsonst hat sich der Brintner vor ihm gefürchtet!«

Erschrocken zog sie ihr Bruder fort.

»Achtet nicht auf ihr törichtes Gerede«, rief er den Leuten zu. »Der Schreck hat sie verwirrt. Sie weiß nicht, was sie sagt!«

»Willst du wegen Verleumdung eingesperrt werden?« fuhr er dann drin in Frau Kreibigs Privatkontor die Schwester an. »Was fällt dir ein, Berta? Wo du doch weißt, daß die Leute jedes Wort weitertragen!«

»Aber es ist wahr!« stammelte sie aufgeregt. »Du weißt ja nicht, was er mir alles erzählt hat von denen ...! Wie sie waren mit ihm!«

»Kannst du's beweisen? Solch eine Verleumdung ist kein Spaß, das könntest du wissen.«

Berta brach in Tränen aus. Plötzlich hob sie die Hände und rief flehend:

»Valentin, ich bitte dich, gehe hin und erkundige dich selbst auf dem Brintnerhof, wie alles geschehen ist und ob man schon eine Spur des Täters hat!«

»Was fällt dir ein?« unterbrach er sie barsch und wandte ihr den Rücken. »Ich bin doch kein altes Weib, daß ich mich aus solchem Anlaß unter das Volk stelle!«

»Valentin – ich bitte dich darum!«

»Nein. Ich tu's nicht. Wir haben vor allem auf unsere Reputation zu schauen, da läuft man nicht wie der nächstbeste Schusterbube hin, wenn irgendwo ein Verbrechen geschehen ist! Und überhaupt: Ich wünsche nicht, daß dem Gerede, das Rosa schon unter die Leute gebracht hat, jetzt noch irgendwie Vorschub geleistet wird. Da nichts aus deinem Heiratsplan geworden ist, braucht auch nachträglich niemand davon zu erfahren. Rosas Geschwätz wird eben Geschwätz bleiben, wenn wir durch unser Benehmen ihm keine neue Nahrung geben. Darum verlange ich, daß du in keiner Weise mehr Anteilnahme an den Vorgängen auf dem Brintnerhof zeigst, als sich mit dem Grundsatz deckt: Der alte Brintner war Stammgast bei uns, nichts weiter.«

Frau Berta fuhr auf:

»Er war mir mehr! Und wenn du nicht gehen willst, um dich zu erkundigen, so werde ich selbst gehen!«

»Das verbiete ich dir!«

»Hast du mir überhaupt etwas zu verbieten?«

»Ja, seit ich die Führung übernehmen muß, weil dein Weiberverstand nicht mehr ausreicht dazu!«

Es lag etwas so Entschlossenes in seinem Ton, etwas so Drohendes in seinem Blick, daß Frau Berta ihn fassungslos anstarrte.

War das noch der dankbare Bruder, dem sie eine schöne, fast unabhängige Stellung neben sich gegeben und auf dessen Ergebenheit sie rechnen zu dürfen geglaubt hatte?

Wie ein Gebieter stand er plötzlich vor ihr.

Vielleicht fühlte er, daß er die Zügel zu straff gespannt hatte. Er fuhr sich wie beruhigend über die Stirn, drückte die Schwester in einen Lehnstuhl und sagte sanfter: »Du darfst mir nicht böse sein, Berta, daß ich diesmal auf meinem Willen bestehe. Es geschieht ja nur in deinem Interesse. Dein Ruf soll rein bleiben und vor Lächerlichkeit geschützt. Die Nachrichten, die du so sehnlich erwartest, werden wir sehr bald auch ohne unser Zutun bekommen. Manch einer von denen, die jetzt auf dem Brintnerhof amtlich zu tun haben, wird sich nachher in der ›Sonne‹ stärken. Dr. Heimreicher, der Gemeindearzt, bestimmt!«

»Du meinst?«

»Ich bin überzeugt davon. Er kommt ja täglich auf einen Dämmerschoppen und wird mir gegenüber nicht hinter dem Berg halten mit seinen Neuigkeiten. Und da bekommen wir dann wenigstens Verbürgtes zu hören. Bleibe jetzt ruhig hier, weine dich meinetwegen aus, wenn es dir leichter wird, und ich verspreche dir dafür, sowie ich etwas erfahre, bringe ich dir die Nachricht sofort.«

Seufzend ergab sich Frau Kreibig in ihr Schicksal.


Als Frau Hucker abends heimkam, fand sie die Parteien des Hauses und viele Bekannte aus der Gegend in eifrigem Gespräch mit dem Gemeindediener Lochl vor dem Hause stehen.

Nur der Gemeindesekretär und dessen Frau fehlten. »Denn für unsereinen schickt es sich nicht, an dem Klatsch dieser Leute teilzunehmen«, hatte Herr Schlazer seiner Ehehälfte erklärt. »Es wäre mir überhaupt lieb, Marianne, wenn du dich in der nächsten Zeit etwas fern von den Hausleuten hieltest. Man kann nicht wissen, was noch kommt.«

Seine Frau, die sich natürlich längst ihre eigene Meinung gebildet hatte, sah ihn forschend an.

»Hast du vielleicht auch schon einen Verdacht, Gustav?« fragte sie leise.

»Nein. Das ist nicht meines Amtes. Aber du sagst ›auch‹! Solltest etwa du jemanden in Verdacht haben?«

Frau Marianne fuhr in ihrer Beschäftigung, den Abendtisch abzuräumen, gelassen fort.

»Das nicht gerade«, antwortete sie bedächtig, »aber man denkt halt in solchen Fällen an mancherlei zurück. Und davon bin ich überzeugt: außerhalb des Hauses hatte der alte Mann keinen Feind!«

Der Gemeindesekretär sah seine Frau streng an.

»Das ist Unsinn, Marianne! Daß es Streit zwischen dem Alten und dem Jungen gab, wissen wir alle. Aber aus dem schon auf ein Verbrechen zu schließen ist ungerecht und widersinnig. Ein Sohn – den Vater! Nein, nein ...«

»Ich meine auch gar nicht, daß er es getan hat. Der Andres ist ein heimlicher Säufer und willensschwach. Aber sie – die Justina –«

»Marianne!!! Eine Frau und solch ein Verbrechen! Was fällt dir ein! Schon physisch wäre es unmöglich. Der alte Brintner war trotz seiner Jahre ein Mann voll Kraft und Stärke.«

»Könnte sie denn nicht einen Helfer gehabt haben?«

Schlazer stand ärgerlich auf.

»Du kannst einen verrückt machen mit deinen Behauptungen! Aber ich will es nicht, daß du mir solche Gedanken einbläst, die nur mein Urteil trüben könnten! Und ich verbiete dir vor allem, derlei Ideen etwa durch ein unbedachtes Wort unter die Leute zu bringen, hörst du? Das könnte ein schönes Unheil über unschuldige Menschen heraufbeschwören!«

Frau Marianne setzte eine beleidigte Miene auf.

»So klug bin ich schon selber! Und mit den Leuten über Dinge zu klatschen, die mir im Kopf herumgehen, dazu bin ich mir schon lange zu gut. Ob die da drüben aber wirklich so unschuldig sind, wie du dir einbildest, das wird die Zukunft beweisen. Ich wette« – sie wies auf den Platz vor dem Haus hinab –, »die Leute da unten sind auch nicht auf den Kopf gefallen und werden dem Lochl sehr bald das richtige Licht aufstecken!«

So unrecht hatte Frau Marianne mit ihrer Vermutung nicht. Zwar vorläufig war Titus Lochl noch der Alleinredende. Mit Wonne genoß er das Bewußtsein, aus dem Dunkel seines bisher unbeachteten Daseins heute – in diesem Kreise wenigstens – zur wichtigsten Persönlichkeit des Tages aufgerückt zu sein.

Dies voraussehend, war er auch noch der Einladung seines Freundes Giffl, nach beendetem Dienst auf ein »bescheidenes Glas Bier mit nachfolgendem Plausch« zu kommen, gerne gefolgt.

Eingehend berichtete er nun seiner lauschenden Zuhörerschaft alle Umstände, welche die Kommission herausgebracht. Die Auffindung der Leiche, die Aussagen der Hausleute von drüben, das ärztliche Gutachten, was der Bürgermeister gesagt und der Herr Bezirksrichter angeordnet habe – alles beschrieb er den Leuten.

Natürlich nur, soweit es sich mit der Wahrung des Amtsgeheimnisses vertrug. Denn auf dieses Amtsgeheimnis – er nahm das Wort alle zwei Minuten in den Mund – hielt Herr Titus Lochl große Stücke.

Zuletzt erfuhr man überraschenderweise, daß es sogar schon eine Spur des Täters gab und wie umsichtig die Obrigkeit verfuhr, um seiner habhaft zu werden.

Ein nach Mitternacht aus dem Wirtshaus von Ebental heimkehrender Knecht des Bürgermeisters hatte von weitem eine männliche Gestalt aus der rückwärtigen Gartenpforte des Brintnerhofes kommen sehen.

Die Gestalt war in einen Rad- und Wettermantel gehüllt gewesen und schlich so verdächtig im Schatten der Bäume des Bachweges hin, daß der Knecht unwillkürlich stehenblieb, um sie zu erwarten. Denn der Mann kam geradeswegs auf ihn zu.

Plötzlich aber mußte er den Knecht bemerkt haben, war im nächsten Augenblick wie vom Erdboden verschwunden und kam auch später nicht mehr zum Vorschein.

Ob der verdächtige Mensch dem Knecht nicht irgendwie bekannt erschienen sei, fragte Giffl.

Nein, lautete die Antwort. Der Knecht meine, es müsse ein Ortsfremder gewesen sein. Nun habe man sofort alle Gendarmerieposten telegraphisch verständigt, und morgen würde eine genaue Beschreibung der geraubten Gegenstände veröffentlicht, damit jedermann vor dem Ankauf der Uhr und der Kette Brintners gewarnt sei.

Giffl rieb nachdenklich seinen schütteren Stoppelbart.

»Ja, ja – ein Ortsfremder! Das wird wohl so sein. Wer hätte denn auch in Kalkreut dem alten Herrn ans Leben gehen wollen?«

Da flüsterte ihm Frau Hucker, die bis dahin schweigend zugehört hatte, etwas ins Ohr, und der Flickschuster prallte bestürzt zurück.

»Was Sie nicht sagen, Frau Hucker!!? Gefürchtet hätte er schon lange für sein Leben? Jesus, Jesus, wenn das wahr wäre und wir einen Mörder unter uns hätten!«

Alles drängte sich nun um Giffl und die Hucker. Es wurde getuschelt und gezischelt, während scheue Blicke nach dem stattlichen Herrenhause hinüberglitten.

Und auf einmal wußte jeder etwas Neues. Wie Schuppen fiel es den Leuten von den Augen.

»Wissen Sie noch, wie sie ihm gesagt hat: ›Ewig wird der Großvater auch nicht leben!‹«

»Und als vor ein paar Tagen der Streit wegen der Kohlen war – wißt ihr's noch? Da hat sie mit dem Andres ihm zugeschrien: ›Weiß denn der Vater, ob er noch leben wird im Herbst?‹«

»Und heute, als die Toni heimkam – habt ihr es bemerkt, wie sie weder dem Bruder noch der Schwägerin die Hand gegeben hat? Die spannt etwas, da möchte ich jetzt schwören drauf! Ganz verstört ist sie an den beiden vorüber, und seitdem hält sie sich nur noch an die Marei. Die beiden schlafen heute sogar beisammen – die Toni hat's so wollen. Sie fürchtet sich allein unten, hat sie gesagt.«

So schwirrten die Reden durcheinander. Titus Lochl war verstummt und vergessen. Aber es war ihm jetzt auch nicht mehr ums Reden zu tun. Mit Ohr und offenem Munde lauschte er, um ja kein Wörtchen zu überhören.

Da kamen schöne Dinge heraus! Wenn er die am geeigneten Orte vorbrachte ... Diensteifrig und ehrgeizig war er immer gewesen – wie aber würde er erst dastehen, wenn die Obrigkeit durch ihn instand gesetzt wurde, Licht in diese dunkle Angelegenheit zu bringen!

»Jesus, Maria, und jetzt geht mir erst ein Licht auf!« stammelte Frau Glöckl zitternd. »Gestern hat sie mir ja die Wohnung vom Großvater angetragen, die Brintnerin! Nur ein bisserl warten sollte ich, hat sie gesagt. Lange könne er es ja nicht mehr machen, sagte sie. Und dann, meinte sie, bekommt niemand anderes die Wohnung als Sie, Frau Glöckl ...«

»Schämen solltest du dich, so was jetzt da auch nur über die Lippen zu bringen!« unterbrach sie ihr Bruder Konrad zornig. »Jetzt gehst aber augenblicklich mit mir hinauf in die Wohnung, du verleumderische Ratschen!«

»Aber was ist denn? Was hast denn?« stammelte sie bestürzt, während sie, von ihm gedrängt, die Treppe hinaufhastete.

»Weil ich's nicht leide, daß du noch mithilfst, Unschuldige zu verdächtigen!«

»Weißt du denn, ob sie unschuldig sind? Hast nicht gehört –«

»Weibergewäsch!« schnitt er ihr kurz das Wort ab. »Nur Frauenzimmer können so ein albernes Gerede aufbringen. Die Brintnerschen sind so unschuldig wie du und ich! Und jetzt geh! Ich mag kein Wort mehr von der dummen Geschichte hören.«

Er ließ sie in der Küche stehen und verschwand in seiner Schlafkammer, die Tür heftig hinter sich zuwerfend.

Mit offenem Mund starrte sie ihm nach.

Was war denn über ihn gekommen auf einmal?

*


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