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3.

Im Kuhstall des Brintnerhofes begann die Magd mit dem Melken. Sie mußte sich beeilen, denn zwischen halb sechs und sechs kamen immer schon einige von den Mietparteien, um ihre Morgenmilch zu holen.

Gähnend trat Justina über die Schwelle. Sie kraute da und dort zerstreut eine Kuh an der Stirn, während die Magd den letzten Eimer herbeibrachte und die Milch durch ein feines Sieb zu gießen begann. Dabei lugte sie verstohlen nach der Herrin.

»Seid Ihr krank, Frau? So blaß ausschauen tut Ihr?«

»Ich?« Justina fuhr sich über die Stirn, »Nein, mir fehlt nichts. Nur schlecht geschlafen habe ich. Ja, du – und was ich sagen wollte, Gesa: der Schwägerin ihre Milch brauchst heute nicht zurecht zu stellen. Sie ist gestern nachmittag fortgefahren nach Maria-Zell ... Aber die Hucker kommt da. Kannst ihr gleich ihren Liter abmessen ...«

Sie trat in den Hof hinaus, denn die Wäscherin winkte ihr von dort in seltsamer Weise zu.

»Guten Morgen, Hucker. Was gibt's denn?«

Das Weib deutete aufgeregt hinter sich nach der Hausecke, um die es gekommen war.

»Frau Brintner, sehen Sie doch nach, beim alten Herrn steht ein Fenster offen, und die inneren Scheiben sind zerbrochen. Es wird doch nichts geschehen sein?«

Justina starrte sie einen Augenblick wortlos an. Dann stammelte sie erbleichend:

»Beim Großvater? Ein Fenster?«

»Ja! Aber so gehen Sie doch nachschauen!«

»Ich? Daß es nachher womöglich heißt, ich hätte etwas in Unordnung gebracht. Und überhaupt – er hat mir ja verboten, seine Wohnung zu betreten, wenn er daheim ist!«

Sie trat in die Mitte des Hofes und rief, den Kopf nach dem ersten Stockwerk emporgerichtet, laut: »Andres! Andres! Komm geschwind herunter, die Frau Hucker sagt, beim Großvater wäre etwas nicht in der Ordnung!«

Während die Wäscherin um ihre Milch nach dem Stall ging, erschien der junge Brintner. Eine Weile sprachen Mann und Frau leise miteinander. Dann gingen sie, gefolgt von der Hucker, Gesa und mehreren inzwischen erschienenen Dienstboten, zur Vorderseite des Hauses.

Einer der Außenflügel des Wohnzimmerfensters war nur lose angelegt, die Scheiben des inneren Flügels waren fast ganz ausgebrochen. Hineinsehen konnte man nicht, dazu war das Erdgeschoß zu hoch.

»Vielleicht hat's der Wind getan«, meinte der Flickschuster Giffl, der sich auch eingefunden hatte. »Es hat ja gewettert gegen Morgen. Am besten ist's, Sie gehen zum alten Herrn hinein, Herr Brintner, und überzeugen sich selbst, ob alles in Ordnung ist!«

Aber Brintner schüttelte heftig den Kopf.

»Das tue ich nicht! Er schließt sich immer ein nachts, und wenn er noch schläft und ich wecke ihn, dann gibt's gleich wieder Verdruß. Sie wissen nicht, wie er sein kann! Gar gegen mich!«

»Dann steigen Sie wenigstens auf eine Leiter und schauen Sie ins Fenster hinein!«

Brintner stand unschlüssig.

»Wenn er mich sieht, glaubt er womöglich noch, ich hätte ihn bestehlen wollen!« Seine Frau nickte dazu. »Ja, ja, so ist er schon!«

Inzwischen hatte aber ein Knecht doch die Leiter herbeigebracht und angelehnt. Alle redeten Andres zu, und so stieg er endlich hinauf.

Im Wohnzimmer war es noch ganz finster. Er mußte ein Streichholz anreiben, um überhaupt etwas unterscheiden zu können.

Plötzlich wandte er sich um und stieg die Leiter hastig wieder hinab. Sein Gesicht war kreidebleich.

»Alle Schränke und Schubladen stehen offen«, stammelte er.

In diesem Moment öffnete Frau Glöckl im Mietshaus oben ihr Fenster und fragte neugierig herab, was es denn gäbe?

»Beim Großvater muß etwas geschehen sein«, antwortete Justina, ebenso bleich wie ihr Mann, »bitte wecken Sie den Gemeindesekretär, daß er nachschauen geht. Mein Mann traut sich nicht hinein.«

»Nein, nein«, stimmte dieser eifrig bei und warf einen scheuen Blick nach dem zerbrochenen Fenster, »man kann ja nicht wissen ... vielleicht steckt der Dieb noch drin? Und überhaupt – da gehört einer von der Obrigkeit her!«

»Ganz richtig!« nickte Giffl. »Nur nichts anrühren. Alles liegen lassen, wie es ist, so lautet die Vorschrift.«

Während er den Umstehenden einen Vortrag über die Pflichten eines Staatsbürgers in solchen Fällen zu halten begann, ging Frau Glöckl eilig an die Nachbarwohnung, um den Gemeindesekretär aus dem Schlaf zu trommeln.

Fürs Leben gerne wäre sie dann selbst hinabgeeilt, um ja nichts von dem interessanten Ereignis zu versäumen, aber Mann und Bruder riefen ungeduldig nach dem Frühstück, weil sie zur Arbeit müßten.

»Denkt euch – beim Großvater drüben ist eingebrochen worden!« berichtete sie den Männern aufgeregt, während diese hastig ihr verspätetes Frühstück einnahmen.

»So? Ist viel gestohlen worden?« fragte ihr Mann.

»Man weiß es noch nicht. Sie warten auf den Gemeindesekretär.«

Konrad Fercher stürzte seinen Kaffee hinab und stand auf.

»Na, mittags wird man ja wohl alles erfahren. Komm, Anton, für uns ist's höchste Zeit, zu gehen.«

Eine Minute später machten sich beide Männer auf den Weg nach Ebental, weniger neugierig als Frau Hucker, die sich nicht entschließen konnte, fortzugehen, ehe »man etwas Gewisses wußte«.

Giffl hielt noch immer seinen Vortrag. Justina flüsterte ihrem Mann leise zu: »Nimm dich zusammen! Es brauchen dir doch nicht alle Leute den gestrigen Rausch anzumerken. Wer weiß ...«

Das Erscheinen des Gemeindesekretärs ließ sie verstummen. Nun kam gleich ein amtlicher Zug in die Sache. Schlazer ließ sich kurz Bericht erstatten, schickte einen Knecht fort, der die Anzeige beim Bezirksgericht machen sollte, und bestieg dann die Leiter.

»Herr Brintner, Sie kommen mit mir, damit wir unser zwei sind, falls der Einbrecher noch nicht fort ist. Hoffentlich ist dem alten Herrn selbst nichts geschehen. Er schläft wohl im andern Zimmer?«

»Ja. Und die Tür des Wohnzimmers sperrt er nachts immer ab«, antwortete Justina.

Die Männer stiegen durch das Fenster in das Wohnzimmer. Es war inzwischen heller geworden, und schon der erste Blick bestätigte dem Gemeindesekretär, daß hier ein Einbruch stattgefunden hatte. Sämtliche Laden und Schränke standen offen, ihr Inhalt war durcheinandergewühlt, zwei Stühle lagen umgestürzt.

Aber noch etwas anderes enthüllte das Tageslicht. Beide Männer sahen es mit Grauen und wichen unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Tür zum anstoßenden Schlafzimmer stand offen und auf der Schwelle lag der alte Brintner lang ausgestreckt in seinem Blut, mit Stichwunden im Gesicht und an der Brust.

Im Schlafzimmer, dessen Fenster noch verdunkelt waren durch die herabgelassenen Vorhänge, brannte, dem Verlöschen nahe, ein Nachtlicht. Sonst war alles in Ordnung.

Auf einer Truhe im Wohnzimmer lagen zwei Sparkassenbücher und eine Versicherungspolice, die Blutflecken aufwiesen. Der Gemeindesekretär bemerkte, daß die Waffe, mit der Brintner erstochen worden war, allem Anschein nach fehlte. Jetzt sah er sich nach dem Sohn des Ermordeten um. Der stand fahl und reglos da, auf die Tischplatte gestützt, und blickte unverwandt auf den Toten.

Schlazer klopfte ihm mitleidig auf die Schulter:

»Nicht gar so verzagt sein, Brintner! Zu machen ist da nichts mehr. Nur den Mörder finden – das muß jetzt unsere Hauptaufgabe sein. Sagen Sie mal, Brintner« – des Gemeindesekretärs Stimme wurde leiser – »haben Sie jemand in Verdacht?«

Andres sah verwirrt auf. Dann schüttelte er stumm den Kopf.

»Na, dann gehen Sie jetzt wieder hinaus. Ich seh's ja, daß es Sie stark mitgenommen hat. Ich warte hier auf die Kommission vom Bezirksgericht.«

Andres stieg zum Fenster hinaus, während Schlazer über seine Schultern hinweg den Leuten draußen Mitteilung von dem Geschehenen machte und ersuchte, man sollte schleunigst auch die Gendarmerie verständigen, den Gemeindearzt rufen und Botschaft aufs Bürgermeisteramt tragen.

Andres wurde mit Fragen bestürmt, aber er blieb stumm.

»Laßt mich in Ruhe«, murrte er und setzte sich auf die Hausbank, den Kopf in die Hände, die Ellbogen auf die Knie stützend. »Mir ist übel. Das viele Blut ...«

Die Leute, die Klagen und Tränen erwartet hatten, sahen einander enttäuscht an. Besonders, da auch Justina sehr bleich war, aber anscheinend ruhig dastand.

»Wenn sie ihn schon nicht leiden mochten«, flüsterte die Hucker dem Flickschuster zu, »so gleichgültig brauchen sie nicht zu sein. Der arme, alte Mann!«

Dann erinnerte sie sich an ihre Verpflichtungen und machte sich davon. Hui, in der »Sonne« würden sie Augen machen, wenn sie heute mit solchen Neuigkeiten kam!

Der Platz vor dem Hause füllte sich immer mehr. Wer irgend konnte, blieb hier stehen, um das Ergebnis der Untersuchung abzuwarten, die unter Führung des Bezirksrichters, von Arzt und Gemeindevorstand begleitet, eben stattfand.

Von Titus Lochl, dem Gemeindediener, würde man ja vielleicht einiges erfahren ...

Die Erhebungen dauerten bis tief in den Nachmittag hinein und lieferten nur ein spärliches Ergebnis.

Obwohl man sämtliche Inwohner des Brintnerhofes vernahm, wußte niemand etwas von Belang anzugeben.

Der alte Brintner war am vergangenen Abend spät, wie gewöhnlich, heimgekommen, und niemand hatte mehr mit ihm gesprochen. In der Nacht war nicht das leiseste verdächtige Geräusch gehört worden. Die Wohnungstür hatte der Alte, wie immer, von innen abgesperrt, und so hatte man sie noch gefunden, als das Verbrechen entdeckt wurde.

Der Mörder mußte durchs Fenster eingedrungen sein. Spuren hatte er dabei nicht hinterlassen, und die Mordwaffe fehlte auch.

Was geraubt worden war, ließ sich nicht genau feststellen, da der Alte niemand einen Einblick in seine Verhältnisse gestattet hatte. Aber Andres behauptete, und andere Hausbewohner bestätigten es, daß er stets mehrere tausend Kronen in einer schwarzledernen Brieftasche bei sich gehabt hatte. Diese sowie Brintners Taschenuhr samt Kette fehlten. Die Stichwunden waren nach Aussage des Arztes mit einem schmalen, sehr scharfen Messer – wahrscheinlich einem Taschenmesser – und mit großer Gewalt ausgeführt worden.

»Es scheint, als ob Haß oder Rachsucht dem Mörder die Hand geführt hätten, der anscheinend ohne Überlegung blindlings zustach, wohin er eben traf«, fügte der Arzt seinem Bericht bei.

Justina, deren ruhige Fassung und umsichtige Anordnungen allgemein auffielen, wandte sich schaudernd ab, als sie den Leichnam ihres Schwiegervaters erblickte.

»Der das getan hat«, rief sie, einen Augenblick ihre Ruhe verlierend, leidenschaftlich aus, »dem gehört, daß man ihm die Haut bei lebendigem Leibe abzöge. So einen Tod hat der Großvater nicht verdient!«

Befragt, ob sie irgendeinen Verdacht auf jemand habe oder etwas von einem Feind des Ermordeten wisse, schüttelte sie den Kopf.

»Soviel ich weiß, hat der Großvater keinen Feind gehabt.«

So hatte man denn nicht den leisesten Anhaltspunkt für die Person des Mörders gefunden.

Gegen fünf Uhr nachmittags wurden die Zimmer des alten Brintner versiegelt und der Leichnam in die Totenkammer geschafft. Auf dem Brintnerhof wurde es allmählich wieder still.

*


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