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Die Endstation

Ich fahre zur Mutter des T.

Der Pedell im Gymnasium gab mir die Adresse. Er verhielt sich sehr reserviert, denn ich hätte ja das Haus nicht betreten dürfen.

Ich werde es nie mehr betreten, ich fahre nach Afrika. Jetzt sitze ich in der Straßenbahn.

Ich muß bis zur Endstation.

Die schönen Häuser hören allmählich auf und dann kommen die häßlichen. Wir fahren durch arme Straßen und erreichen das vornehme Villenviertel.

»Endstation!« ruft der Schaffner. »Alles aussteigen!« Ich bin der einzige Fahrgast.

Die Luft ist hier bedeutend besser als dort, wo ich wohne.

Wo ist Nummer dreiundzwanzig?

Die Gärten sind gepflegt. Hier gibts keine Gartenzwerge. Kein ruhendes Reh und keinen Pilz.

Endlich hab ich dreiundzwanzig.

Das Tor ist hoch, und das Haus ist nicht zu sehen, denn der Park ist groß.

Ich läute und warte.

Der Pförtner erscheint, ein alter Mann. Er öffnet das Gitter nicht.

»Sie wünschen?«

»Ich möchte Frau T sprechen.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Ich bin der Lehrer ihres Sohnes.«

Er öffnet das Gitter.

Wir gehen durch den Park.

Hinter einer schwarzen Tanne erblicke ich das Haus. Fast ein Palast.

Ein Diener erwartet uns bereits, und der Pförtner übergibt mich dem Diener: »Der Herr möchte die gnädige Frau sprechen, er ist der Lehrer des jungen Herrn.« Der Diener verbeugt sich leicht.

»Das dürfte leider seine Schwierigkeiten haben«, meint er höflich, »denn gnädige Frau haben soeben Besuch.« »Ich muß sie aber dringend sprechen in einer sehr wichtigen Angelegenheit!«

»Könnten Sie sich nicht für morgen anmelden?«

»Nein. Es dreht sich um ihren Sohn.«

Er lächelt und macht eine winzige wegwerfende Geste. »Auch für ihren Sohn haben gnädige Frau häufig keine Zeit. Auch der junge Herr muß sich meist anmelden lassen.«

»Hören Sie«, sage ich und schaue ihn böse an, »melden Sie mich sofort oder Sie tragen die Verantwortung!«

Er starrt mich einen Augenblick entgeistert an, dann verbeugt er sich wieder leicht: »Gut, versuchen wir es mal. Darf ich bitten! Verzeihung, daß ich vorausgehe!«

Ich betrete das Haus.

Wir gehen durch einen herrlichen Raum und dann eine Treppe empor in den ersten Stock.

Eine Dame kommt die Treppen herab, der Diener grüßt, und sie lächelt ihn an.

Und auch mich.

Die kenne ich doch?

Wer ist denn das?

Wir steigen weiter empor.

»Das war die Filmschauspielerin X«, flüstert mir der Diener zu.

Ach ja, richtig!

Die hab ich erst unlängst gesehen. Als Fabrikarbeiterin, die den Fabrikdirektor heiratet.

Sie ist die Freundin des Oberplebejers.

Dichtung und Wahrheit!

»Sie ist eine göttliche Künstlerin«, stellt der Diener fest, und nun erreichen wir den ersten Stock.

Eine Tür ist offen, und ich höre Frauen lachen. Sie müssen im dritten Zimmer sitzen, denke ich. Sie trinken Tee.

Der Diener führt mich links in einen kleinen Salon und bittet, Platz zu nehmen, er würde alles versuchen, bei der ersten passenden Gelegenheit.

Dann schließt er die Türe, ich bleibe allein und warte. Es ist noch früh am Nachmittag, aber die Tage werden kürzer.

An den Wänden hängen alte Stiche. Jupiter und Jo. Amor und Psyche.

Marie Antoinette.

Es ist ein rosa Salon mit viel Gold.

Ich sitze auf einem Stuhl und sehe die Stühle um den Tisch herum stehen. Wie alt seid ihr? Bald zweihundert Jahre –

Wer saß schon alles auf euch?

Leute, die sagten: morgen sind wir bei Marie Antoinette zum Tee.

Leute, die sagten: morgen gehen wir zur Hinrichtung der Marie Antoinette.

Wo ist jetzt Eva?

Hoffentlich noch im Spital, dort hat sie wenigstens ein Bett.

Hoffentlich ist sie noch krank.

Ich trete ans Fenster und schaue hinaus.

Die schwarze Tanne wird immer schwärzer, denn es dämmert bereits.

Ich warte.

Endlich öffnet sich langsam die Türe.

Ich drehe mich um, denn nun kommt die Mutter des T.

Wie sieht sie aus?

Ich bin überrascht.

Es steht nicht die Mutter vor mir, sondern der T.

Er selbst.

Er grüßt höflich und sagt:

»Meine Mutter ließ mich rufen, als sie hörte, daß Sie da sind, Herr Lehrer. Sie hat leider keine Zeit.«

»So? Und wann hat sie denn Zeit?«

Er zuckt müde die Achsel: »Das weiß ich nicht. Sie hat eigentlich nie Zeit.«

Ich betrachte den Fisch.

Seine Mutter hat keine Zeit. Was hat sie denn zu tun?

Sie denkt nur an sich.

Und ich muß an den Pfarrer denken und an die Ideale der Menschheit.

Ist es wahr, daß die Reichen immer siegen?

Wird der Wein nicht zu Wasser?

Und ich sage zum T: »Wenn deine Mutter immer zu tun hat, dann kann ich vielleicht mal deinen Vater sprechen?«

»Vater? Aber der ist doch nie zu Haus! Er ist immer unterwegs, ich seh ihn kaum. Er leitet ja einen Konzern.«

Einen Konzern?

Ich sehe ein Sägewerk, das nicht mehr sägt.

Die Kinder sitzen in den Fenstern und bemalen die Puppen.

Sie sparen das Licht, denn sie haben kein Licht.

Und Gott geht durch alle Gassen.

Er sieht die Kinder und das Sägewerk.

Und er kommt.

Er steht draußen vor dem hohen Tore.

Der alte Pförtner läßt ihn nicht ein.

»Sie wünschen?«

»Ich möchte die Eltern T sprechen.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Sie wissen es schon.«

Ja, sie wissen es schon, aber sie erwarten ihn nicht. –

»Was wollen Sie eigentlich von meinen Eltern?« höre ich plötzlich die Stimme des T.

Ich blicke ihn an.

Jetzt wird er lächeln, denke ich.

Aber er lächelt nicht mehr.

Er schaut nur.

Ahnt er, daß er gefangen wird?

Seine Augen haben plötzlich Glanz.

Die Schimmer des Entsetzens.

Und ich sage: »Ich wollte mit deinen Eltern über dich sprechen, aber leider haben sie keine Zeit.«

»Über mich?«

Er grinst.

Ganz leer.

Da steht der Wißbegierige wie ein Idiot.

Jetzt scheint er zu lauschen.

Was fliegt um ihn?

Was hört er?

Die Flügel der Verblödung?

Ich eile davon.


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