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Der römische Hauptmann

Vier Tage sind wir nun im Lager. Gestern erklärte der Feldwebel den Jungen den Mechanismus des Gewehres, wie man es pflegt und putzt. Heut putzen sie den ganzen Tag, morgen werden sie schießen. Die hölzernen Soldaten warten bereits darauf, getroffen zu werden.

Die Jungen fühlen sich überaus wohl, der Feldwebel weniger. Er ist in diesen vier Tagen zehn Jahre älter geworden. In weiteren vier wird er älter aussehen, als er ist. Außerdem hat er sich den Fuß übertreten und wahrscheinlich eine Sehne verzerrt, denn er hinkt.

Doch er verbeißt seine Schmerzen. Nur mir erzählte er gestern vor dem Einschlafen, er würde schon ganz gern wieder Kegel schieben, Karten spielen, in einem richtigen Bett liegen, eine stramme Kellnerin hinten hineinzwicken, kurz: zu Hause sein. Dann schlief er ein und schnarchte.

Er träumte, er wäre ein General und hätt eine Schlacht gewonnen. Der Kaiser hätt alle seine Orden ausgezogen und selbe ihm an die Brust geheftet. Und an den Rücken. Und die Kaiserin hätt ihm die Fuß geküßt.

»Was hat das zu bedeuten? « fragte er mich in aller Früh.

»Wahrscheinlich ein Wunschtraum«, sagte ich. Er sagte, er hätte es sich noch nie in seinem Leben gewünscht, daß ihm eine Kaiserin die Fuß küßt. »Ich werds mal meiner Frau schreiben«, meinte er nachdenklich, »die hat ein Traumbuch. Sie soll mal nachschauen, was General, Kaiser, Orden, Schlacht, Brust und Rücken bedeuten.«

Während er vor unserem Zelte schrieb, erschien aufgeregt ein Junge, und zwar der L.

»Was gibts?«

»Ich bin bestohlen worden!«

»Bestohlen?«

»Man hat mir meinen Apparat gestohlen, Herr Lehrer, meinen photographischen Apparat!«

Er war ganz außer sich.

Der Feldwebel sah mich an. Was tun? lag in seinem Blick. »Antreten lassen«, sagte ich, denn mir fiel auch nichts Besseres ein. Der Feldwebel nickte befriedigt, humpelte auf den freien Platz, wo die Fahne wehte, und brüllte wie ein alter Hirsch:

»Regiment antreten!«

Ich wandte mich an den L:

»Hast du einen Verdacht?«

»Nein.«

Das Regiment war angetreten. Ich verhörte sie, keiner konnte etwas sagen. Ich ging mit dem Feldwebel in das Zelt, wo der L schlief. Sein Schlafsack lag gleich neben dem Eingang links.

Wir fanden nichts.

»Ich halte es für ausgeschlossen«, sagte ich zum Feldwebel, »daß einer der Jungen der Dieb ist, denn sonst wären ja auch mal im Schuljahr Diebstähle vorgekommen. Ich glaube eher, daß die aufgestellten Wachen nicht richtig ihre Pflicht erfüllten, so daß die Räuberbande sich hereinschleichen konnte.« Der Feldwebel gab mir recht, und wir beschlossen, in der folgenden Nacht die Wachen zu kontrollieren. Aber wie?

Ungefähr hundert Meter vom Lager entfernt stand ein Heuschober. Dort wollten wir übernachten und von dort aus die Wachen kontrollieren. Der Feldwebel von neun bis eins und ich von eins bis sechs.

Nach dem Nachtmahl schlichen wir uns heimlich aus dem Lager. Keiner der Jungen bemerkte uns. Ich machte es mir im Heu bequem. –

Um ein Uhr nachts weckt mich der Feldwebel.

»Bis jetzt ist alles in Ordnung«, meldet er mir. Ich klettere aus dem Heu und postiere mich im Schatten der Hütte. Im Schatten?

Ja, denn es ist eine Vollmondnacht.

Eine herrliche Nacht.

Ich sehe das Lager und erkenne die Wachen. Jetzt werden sie abgelöst. Sie stehen oder gehen ein paar Schritte hin und her.

Osten, Westen, Norden, Süden – auf jeder Seite einer. Sie bewachen ihre photographischen Apparate.

Und wie ich so sitze, fällt mir das Bild ein, das beim Pfarrer hängt und auch bei meinen Eltern.

Die Stunden gehen.

Ich unterrichte Geschichte und Geographie.

Ich muß die Gestalt der Erde erklären und ihre Geschichte deuten.

Die Erde ist noch rund, aber die Geschichten sind viereckig geworden.

Jetzt sitze ich da und darf nicht rauchen, denn ich überwache die Wache.

Es ist wahr: mein Beruf freut mich nicht mehr. Warum fiel mir nur jenes Bild wieder ein?

Wegen des Gekreuzigten? Nein.

Wegen seiner Mutter – nein. Plötzlich wirds mir klar: wegen des Kriegers in Helm und Panzer, wegen des römischen Hauptmanns.

Was ist denn nur mit dem?

Er leitete die Hinrichtung eines Juden. Und als der Jude starb, sagte er: »Wahrlich, so stirbt kein Mensch!«

Er hat also Gott erkannt.

Aber was tat er? Was zog er für Konsequenzen? Er blieb ruhig unter dem Kreuze stehen.

Ein Blitz durchzuckte die Nacht, der Vorhang im Tempel riß, die Erde bebte – er blieb stehen.

Er erkannte den neuen Gott, als der am Kreuze starb, und wußte nun, daß seine Welt zum Tode verurteilt war. Und?

Ist er etwa in einem Krieg gefallen? Hat er es gewußt, daß er für nichts fällt?

Freute ihn noch sein Beruf?

Oder ist er etwa alt geworden? Wurde er pensioniert? Lebte er in Rom oder irgendwo an der Grenze, wo es billiger war?

Vielleicht hatte er dort ein Häuschen. Mit einem Gartenzwerg. Und am Morgen erzählte ihm seine Köchin, daß gestern jenseits der Grenze wieder neue Barbaren aufgetaucht sind. Die Lucia vom Herrn Major hat sie mit eigenen Augen gesehen.

Neue Barbaren, neue Völker.

Sie rüsten, sie rüsten. Sie warten.

Und der römische Hauptmann wußte es, die Barbaren werden alles zertrümmern. Aber es rührte ihn nicht. Für ihn war bereits alles zertrümmert.

Er lebte still als Pensionist, er hatte es durchschaut. Das große römische Reich.


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