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Das Kästchen

Nun bin ich dran.

Es ist bereits dreiviertelfünf.

Ich werde als Zeuge vereidigt.

Ich schwöre bei Gott, nach bestem Gewissen die Wahrheit zu sagen und nichts zu verschweigen.

Jawohl, nichts zu verschweigen.

Während ich schwöre, wird der Saal unruhig.

Was gibts?

Ich dreh mich kurz um und erblicke Eva.

Sie setzt sich gerade auf die Zeugenbank, begleitet von einer Gefängnisbeamtin.

Ihre Augen wollt ich mal sehen, geht es mir durch den Sinn.

Ich werde sie mir anschauen, sowie ich alles gesagt haben werde.

Jetzt komme ich nicht dazu.

Ich muß ihr den Rücken zeigen, denn vor mir steht das Kruzifix.

Sein Sohn.

Ich schiele nach dem Z.

Er lächelt.

Ob sie jetzt wohl auch lächelt – hinter meinem Rücken? Ich beantworte die Fragen des Präsidenten. Er streift auch wieder die Neger – ja, wir verstehen uns. Ich stelle dem N ein gutes Zeugnis aus und ebenso dem Z. Beim Mord war ich nicht dabei. Der Präsident will mich schon entlassen, da falle ich ihm ins Wort: »Nur noch eine Kleinigkeit, Herr Präsident!«

»Bitte!«

»Jenes Kästchen, in welchem das Tagebuch des Z lag, erbrach nicht der N.«

»Nicht der N? Sondern?«

»Sondern ich. Ich war es, der das Kästchen mit einem Draht öffnete.«

Die Wirkung dieser Worte war groß.

Der Präsident ließ den Bleistift fallen, der Verteidiger schnellte empor, der Z glotzte mich an mit offenem Munde, seine Mutter schrie auf, der Bäckermeister wurde bleich wie Teig und griff sich ans Herz.

Und Eva?

Ich weiß es nicht.

Ich fühle nur eine allgemeine ängstliche Unruhe hinter mir.

Es murrt, es tuschelt.

Der Staatsanwalt erhebt sich hypnotisiert und deutet langsam mit dem Finger nach mir. »Sie?!« fragt er gedehnt.

»Ja«, sage ich und wundere mich über meine Ruhe.

Ich fühle mich wunderbar leicht.

Und erzähle nun alles.

Warum ich das Kästchen erbrach und weshalb ich es dem Z nicht sogleich gestand. Weil ich mich nämlich schämte, aber es war auch eine Feigheit dabei.

Ich erzähle alles.

Weshalb ich das Tagebuch las und warum ich keine gesetzlichen Konsequenzen zog, denn ich wollte einen Strich durch eine Rechnung ziehen. Einen dicken Strich. Durch eine andere Rechnung. Ja, ich war dumm! Ich bemerke, daß der Staatsanwalt zu notieren beginnt, aber das stört mich nicht.

Alles, alles!

Erzähl nur zu!

Auch Adam und Eva. Und die finsteren Wolken und den Mann im Mond!

Als ich fertig bin, steht der Staatsanwalt auf.

»Ich mache den Herrn Zeugen darauf aufmerksam, daß er sich über die Konsequenzen seiner interessanten Aussage keinerlei Illusionen hingeben soll. Die Staatsanwaltschaft behält es sich vor, Anklage wegen Irreführung der Behörden und Diebstahlsbegünstigung zu erheben.«

»Bitte«, verbeuge ich mich leicht, »ich habe geschworen, nichts zu verschweigen.«

Da brüllt der Bäckermeister: »Er hat meinen Sohn am Gewissen, nur er!« Er bekommt einen Herzanfall und muß hinausgeführt werden. Seine Gattin hebt drohend den Arm: »Fürchten Sie sich«, ruft sie mir zu, »fürchten Sie sich vor Gott.«

Nein, ich fürchte mich nicht mehr vor Gott.

Ich spüre den allgemeinen Abscheu um mich herum. Nur zwei Augen verabscheuen mich nicht.

Sie ruhen auf mir.

Still wie die dunklen Seen in den Wäldern meiner Heimat.

Eva, bist du schon der Herbst?


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